Ein großer realistischer Erzähler

Zum 150. Geburtstag des russischen Nobelpreisträgers Iwan Bunin, der trotz seiner Meisterschaft weitgehend unbekannt blieb

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Iwan Bunin 1933 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, war er der erste russische (sowjetische) Schriftsteller, der diese Auszeichnung erhielt. Obwohl sein Werk in der russischen Literatur zweifellos einen bedeutenden Platz einnimmt und Bunins Ruhm zu Beginn des 20. Jahrhunderts hell erstrahlte, ist er im Westen nie zu großer Bekanntheit aufgestiegen. Heute ist Bunin, der oft als der „legitime Erbe Tschechows“ bezeichnet wurde, sogar weitgehend unbekannt.

Iwan Alexejewitsch Bunin war Zeit seines Lebens stolz auf seine adlige Herkunft. Als er jedoch am 10. Oktober des julianischen Kalenders – also am 22. Oktober des in Europa gültigen gregorianischen Kalenders – 1870 in Woronesch zur Welt kam, hatte der Abstieg der adligen Familie bereits begonnen. Er war das siebte Kind des verarmten Offiziers Aleksei Bunin und dessen Frau Ludmilla. Zu den Vorfahren zählten u.a. die Dichterin Anna P. Bunina (1774–1829) – zu ihrer Zeit eine herausragende Schriftstellerin Russlands, die sich auch als Übersetzerin hervorgetan hatte – sowie der Dichter Wassili Schukowski (1783–1852), der sich als einer der ersten russischen Künstler längere Zeit in Baden-Baden aufhielt. Seine Kindheit verbrachte Iwan auf Butyrki, dem letzten verbliebenen Gut der Familie im Gouvernement Orlow. Hier lernte der Junge den Alltag und die Lebensweise der Dorfbewohner kennen, auf die er später in seinen Werken häufig zurückgriff. Ein adliger Hauslehrer bereitete ihn auf das Gymnasium vor, das er ab 1881 in Jelez besuchte, aber nach vier Jahren vorzeitig verließ. Wahrscheinlich konnten die Eltern das Schulgeld nicht mehr bezahlen.

Der zehn Jahre ältere Bruder Juli (1860–1921), der wegen radikaler politischer Aktivitäten für drei Jahre auf dem elterlichen Gut unter Hausarrest stand, übernahm nun den Unterricht. Er förderte das literarische Talent seines jüngeren Bruders. So entstanden erste Gedichte und bereits als Sechzehnjähriger konnte der junge Bunin das Gedicht „Der Dorfbettler“ in einer St. Petersburger Wochenzeitschrift veröffentlichen. Bald folgten weitere Gedichte und erste Kurzgeschichten. Der Versuch des älteren Bruders, ihn für die sozialrevolutionäre Volkstümler-Bewegung zu gewinnen, scheiterte jedoch. Bunin hasste Zeit seines Lebens jegliche politische Tendenz.

Durch die ärmlichen Familienverhältnisse war an eine Hochschulbildung nicht zu denken, und so schlug sich Bunin zunächst in provinziellen Zeitschriftenredaktionen durchs Leben. Von 1889 bis 1892 war er Redakteur der Zeitung Orlowski westnik (dt. Orlower Bote), wo er neben Gedichten und Geschichten auch Leitartikel, Rezensionen und Theaterkritiken publizieren konnte. Hier lernte er die Korrektorin Warwara Paschtschenko kennen, und es entwickelte sich eine intensive Liebesbeziehung. Die angestrebte Heirat scheiterte jedoch am Widerstand ihrer Eltern, die seine finanziellen Verhältnisse als unzureichend ansahen – eine tiefe Enttäuschung für den jungen Bunin, der sogar mit Selbstmordgedanken spielte.

1892 zog Bunin nach Poltawa, wo ihm sein Bruder eine Anstellung als Sekretär in der Provinzverwaltung verschafft hatte. Bereits in jungen Jahren war Bunin ein glühender Bewunderer von Lew Tolstoi und dessen asketischer Lehre. 1894 lernte er sein großes Vorbild in Moskau persönlich kennen. Ein Jahr später traf er dann Anton Tschechow, mit dem ihn eine stilistische Verwandtschaft verband. Seit 1895 lebte Bunin in Moskau, wo er schnell in die dortigen Künstlerkreise aufgenommen wurde. Hier hatte er auch Kontakt mit den russischen Symbolisten (u.a. mit Fjodor Sologub, Konstantin Balmont und Waleri Brjussow), deren literarischen Stil und Sprachexperimente er aber ablehnte. Seine Prosa war in dieser frühen Phase weitgehend lyrisch geprägt. Eine erste literarische Anerkennung fand er mit seinem Prosaband Am Ende der Welt (1897). Im darauffolgenden Jahr siedelte Bunin nach Odessa, wo die Gedichtsammlung Unter freiem Himmel folgte. Als Lyrikübersetzer ins Russische wurde Bunin ebenfalls geachtet – insbesondere von Henry Wadsworth Longfellow und George Gordon Byron. So erhielt er für die Übersetzung von The Song of Hiawatha von Longfellow 1903 den Puschkin-Preis.

1898 heiratete Bunin die achtzehnjährige Anna Nikolaevna Tsakni, eine Griechin und Tochter eines Verlegers und Herausgebers aus Odessa. Das junge Ehepaar trennte sich aber bereits nach zwei Jahren wieder. Der gemeinsame Sohn Nikolai starb 1905; später hatte Bunin keine Kinder mehr. Die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts brachten schließlich den literarischen Durchbruch – mit seinem zweiten Erzählband Antonäpfel (1900) und dem Gedichtband Wenn das Laub fällt (1901). In der Titelgeschichte Antonäpfel wird der Niedergang eines alten Herrensitzes geschildert, wobei nicht die Handlung im Mittelpunkt steht, sondern die Beschreibung von Details und Stimmungen, in denen aber ein Ganzes sicht- und spürbar gemacht wird. Hier und in vielen anderen Kurzgeschichten erwies sich Bunin als ein profunder Kenner des russischen Landlebens. Mit Genauigkeit und Anteilnahme beschrieb er das Leben und Schicksal der unterdrückten Bauernschaft und verarmten Gutsbesitzer, ihrer Bräuche und religiösen Gefühle, was ihm häufig den Beinamen „Dichter des Dorfes“ einbrachte.

Die Leibeigenschaft habe ich nicht mehr gekannt und nicht mehr gesehen, ich erinnere mich aber, sie bei meiner Tante Anna Gerassimowna noch gefühlt zu haben. Man reitet ein in den Hof und spürt sofort, dass sie hier noch durchaus lebendig ist. Das Herrenhaus ist nicht groß, aber alt und dauerhaft, von hundertjährigen Birken und Weiden umgeben. Es sind zahleiche Wirtschaftsgebäude vorhanden, niedrig, aber gediegen, unter Strohdächern, und alle sehen aus wie aus dunklen Eichenstämmen zusammengewachsen. Durch seine Größe oder, besser gesagt, Länge fällt nur das geschwärzte Gesindehaus auf, aus dem die letzten Mohikaner des Gesindestandes herausschauen – uralte Männer und Frauen, darunter ein altersschwacher, verabschiedeter Koch, der an Don Quijote erinnert. Reitet man in den Hof, dann reißen sich alle zusammen und verneigen sich tief, sehr tief.

In der ersten Dekade des Jahrhunderts war Bunin ein gefragter Autor des liberalen Bürgertums mit Kontakt zu zahlreichen Künstlern und Intellektuellen. Besonders entscheidend war die Bekanntschaft mit Maxim Gorki, den Bunin bereits 1899 bei Anton Tschechow auf der Krim kennengelernt hatte. Gorki, der in Bunin einen großen Stilisten sah, beeinflusste dessen weitere künstlerische Entwicklung und verschaffte ihm in der Verlagsgesellschaft „Snanije“ (dt. Wissen), die er seit 1902 leitete, immer wieder Publikationsmöglichkeiten. So erschien von 1902 bis 1909 eine erste fünfbändige Ausgabe von Bunins Werken.

1906 lernte Bunin die Chemiestudentin Wera Nikolajewna Muromzewa (1881–1961) kennen, mit der er fortan zusammenlebte. In den folgenden Jahren unternahm das unverheiratete Paar ausgedehnte Reisen in die Türkei, in den Nahen Osten sowie nach Ägypten, Syrien, Indien und Ceylon. Die Reisen gaben ihm neue Impulse und Themen, die er später in exotischen Erzählungen verarbeitete. Die Sommermonate verbrachte man zumeist in Moskau oder auf dem Familiensitz der Bunins. (Wera Muromzewa war später auch als Übersetzerin – u.a. von Gustave Flaubert – und Essayistin tätig und verfasste nach Bunins Tod mehrere vielbeachtete Erinnerungen und Biografien über ihn.)

1910 erschien die Erzählung Das Dorf und zwei Jahre später der Prosaband Suchodol (dt. Das dürre Tal), die beide bei Lesern und Kritikern großen Anklang fanden. In ihnen vereinigten sich lyrische Naturbeschreibung und scharfe Sozialkritik – im Gegensatz zu mancher Idealisierung in den frühen Erzählungen. In der autobiografisch gefärbten Erzählung Suchodol entwarf Bunin darüber hinaus ein anschauliches Bild des untergehenden russischen Landadels als Folge von zerrütteten Familienverhältnissen.

Heute nun ist das Suchodoler Herrenhaus ganz und gar leer. Alle in dieser Chronik erwähnten Personen, alle ihre Nachbarn und Altersgefährten sind verstorben. Und manchmal fragt man sich: Stimmt es denn, haben sie überhaupt auf dieser Welt gelebt?

Bunin war ein berühmter und gefragter Autor geworden. Seit Jahren rissen sich die Zeitschriften und Monatshefte um seine Kurzgeschichten. Bereits mit 39 Jahren wurde er Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften und 1915 erschien im St. Petersburger Verlag A. F. Marx eine Gesamtausgabe seiner Werke in sechs Bänden. Die beiden Erzählungen Grammatik der Liebe und Ein Herr aus San Francisco (beide im fünften Band) begründeten später Bunins Weltruhm. In Ein Herr aus San Francisco wird die Geschichte eines namenlosen reichen Amerikaners erzählt, der als Tourist mit Frau und Tochter in einem Luxushotel auf Capri absteigt. Nach seinem überraschenden Tod wird der Leichnam unauffällig beiseite geschafft und schließlich im Laderaum eines Schiffes zurück nach Amerika gebracht. Die Novelle stellt einen der Höhepunkte in Bunins Erzählprosa dar, wobei eine thematische Verwandtschaft zu Der Tod des Iwan Iljitsch von Lew Tolstoi bzw. Tod in Venedig von Thomas Mann sicher nicht von der Hand zu weisen ist.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und den revolutionären Umwälzungen in Russland verlor die Literatur ihre Symbolkraft. Für Bunin begannen schwierige Jahre. Entgegen seinen früheren Reisegewohnheiten blieb er während der Kriegsjahre in Russland, zumeist auf dem Land. Den politischen Ereignissen stand er ablehnend gegenüber, was auch nach vielen Jahren des engen Kontakts zum Bruch mit Gorki führte. Die blutigen Ereignisse der Revolution und des Bürgerkriegs 1918–20 hielt er in seinem Revolutionstagebuch Verfluchte Tage fest, das erst 1935 im französischen Exil erscheinen konnte. Vor der entfesselten Gewalt floh Bunin mit seiner Frau nach Odessa; doch auch hier herrschten chaotische Verhältnisse, denn die Stadt musste in den Monaten des Bürgerkrieges einige Machtwechsel erdulden. Bunin, der aus seinen konterrevolutionären Anschauungen nie einen Hehl gemacht hatte, konnte mit seiner Frau über Konstantinopel nach Frankreich emigrieren. Bunin und Wera ließen sich zunächst in Paris nieder, wo sie nach all den gemeinsamen Jahren heirateten. Später lebten beide im Süden der Provence, in Grasse. Bunin fand zu alter Schaffenskraft zurück; es entstanden u. a. die Erzählungen Ein unbekannter Freund (1923), Mitjas Liebe (1925), Sonnenstich (1927) oder die Revolutionsgeschichte Notre Dame de la Garde.

1926 lernte Bunin in Paris Thomas Mann kennen, der ihn sehr schätzte. Beide Schriftsteller schilderten in ihren Werken den Niedergang einst begüterter Gesellschaftsschichten – bei Bunin der russische Landadel und bei Mann eine Lübecker Kaufmannsfamilie. Von 1927 bis 1939 arbeitete Bunin an seinem umfangreichsten Prosawerk, dem Roman Das Leben Arsenjews, in dem er noch einmal das alte Russland beschwor und dabei auch religiöse, spirituelle und philosophische Fragen behandelte.

Auf der Höhe seines literarischen Ruhms wurde Bunin 1933 mit dem Nobelpreis geehrt. In der Verleihungsrede des Nobelkomitees hieß es:

Das literarische Werk von Iwan Bunin stellt einen Entwicklungsweg von großer Einfachheit dar. […] Er hat die große, glänzende Tradition des 19. Jahrhunderts fortgesetzt, indem er ihr zu jeder möglichen Weiterentwicklung verhalf. Straffheit und Ausdrucksreichtum vereinen sich bei ihm zu einer beinahe einzigartigen, bis zur Vollendung entwickelten Genauigkeit der Beobachtung. […] Hierin liegt die wesentliche und geheime Gabe, die jedes seiner Bücher zu einem Meisterwerk werden lässt.

Obwohl mit Bunin ein Schriftsteller geehrt wurde, der den literarischen Avantgarden und revolutionären Umwälzungen ablehnend gegenüberstand, sollte die Auszeichnung ein politisches Signal setzen, denn mit Bunin wurde der Nobelpreis erstmals einem Emigranten zuerkannt.

Beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1939 zogen die Bunins endgültig ins südfranzösische Grasse. Erst 1945 kehrte man nach Paris zurück. Während des Krieges hatte Bunin kaum Publikationsmöglichkeiten gehabt. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich; es wurde zusehends einsamer um den alternden Dichter. Trotzdem veröffentlichte er seine Erinnerungen. Autobiographische Notizen (1950) und arbeitete intensiv an seinem Tschechow-Porträt Erinnerungen an einen Zeitgenossen, das jedoch unvollendet blieb. (Seine Witwe hat später das umfangreiche Material gesichtet und zusammengestellt, sodass das Werk 1955 in New York erscheinen konnte. Bis zur deutschen Publikation dauerte es allerdings noch fünfzig Jahre.) Am 8. November 1953 starb Iwan Bunin nach schwerer Krankheit und völlig verarmt in seiner Pariser Dachwohnung. Er wurde auf dem Russischen Friedhof von Sainte-Geneviève-des-Bois beigesetzt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich zwar im politischen Bewusstsein Bunins ein neues Verhältnis zur Sowjetunion abgezeichnet, aber seine geliebte russische Heimat hat er nie mehr wiedergesehen. Sein Tod verhinderte die beabsichtigte Rückkehr. Nach 1956 wurde Bunin in der Sowjetunion rehabilitiert und seine Werke konnten wieder erscheinen, sein Revolutionstagebuch Verfluchte Tage allerdings erst 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion. Das diesjährige Jubiläum zu seinem 150. Geburtstag wird in Russland mit verschiedenen Festivitäten begangen, um den „herausragenden Beitrag Bunins zur russischen und zur Weltliteratur“ zu dokumentieren.

In den letzten Jahrzehnten konnten die deutschen LeserInnen zwar auf zahlreiche Einzelausgaben von Bunins Werken zurückgreifen, aber eine Gesamtausgabe suchte man vergeblich. Der ostdeutsche Aufbau-Verlag startete 1979 die Edition Gesammelte Werke in Einzelbänden (hrsg. und mit Nachworten versehen von Karlheinz Kasper), die sich aber bis 1985 nur auf vier Bände beschränkte. Der Züricher Verlag Dörlemann nahm nun 2003 die Edition Iwan Bunin – Werkausgabe (hrsg. und mit Nachworten versehen von dem Slawisten Thomas Grob) in Angriff. Mit den dunkelblauen Bänden peilt der Verlag keinen Spitzenplatz auf den Bestsellerlisten an, vielmehr will man einem fast vergessenen Autor die ihm gebührende Wertschätzung zuteilwerden lassen. Bisher sind neun Titel erschienen, darunter mit Der Sonnentempel (2008) auch erstmals Bunins farbenprächtige und poetische Reisebilder. Mit Ausnahme des ersten Bandes Ein unbekannter Freund (in der Übersetzung von Swetlana Geier (1923–2010)) wurden die nachfolgenden Bände von Dorothea Trottenberg übersetzt, die 2012 den Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzungen ins Deutsche erhielt.

Im Jubiläumsjahr 2020 ist mit Leichter Atem ein weiterer Editionsband erschienen: eine Auswahl von achtzehn Erzählungen aus den Jahren 1916–1919, von denen acht erstmals auf Deutsch vorliegen. Es sind die letzten Erzählungen, die Bunin vor seiner Emigration nach Paris 1920 verfasste. Dabei wurde auf Textfassungen zurückgegriffen, die den Erstfassungen am nächsten kommen.

Die Geschichten entstanden in politisch bewegten Zeiten. Die Jahre von 1916 bis 1919 umfassen zwei historische Ereignisse, die gewaltige politische Umwälzungen mit sich brachten – der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution mit dem Sieg der Bolschewiki und dem anschließenden Bürgerkrieg. Beide Ereignisse werfen ihre Schatten in die Handlungen einzelner Erzählungen. So ist in der Geschichte Der letzte Frühling der Krieg mit all seinen Auswirkungen Gesprächsthema zwischen den Gutsbesitzern und den resignierenden Bauern („Alles Unsinn. Sollen sie Krieg führen. Seit Menschengedenken wurde Krieg geführt, und es wird wieder geschehen.“) und in Der letzte Herbst sind es die einfachen Leute, die ihre Söhne an die Front schicken müssen.

In der Auftaktgeschichte Der Sohn beginnt die Ehefrau eines französischen Kolonialbeamten in Algerien eine fatale Affäre mit dem 19-jährigen Sohn einer langjährigen guten Bekannten. In ihrem Glück und ihrer Verzweiflung sieht sie nur im Selbstmord einen Ausweg. In der Titelgeschichte begegnet uns die schöne Olja Meschtscherskaja. Die frühreife Gymnasiastin wird von einem Freund ihres Vaters verführt und Wochen später von einem Kosakenoffizier auf einem menschenüberfüllten Bahnsteig erschossen. Behutsam, fast melancholisch, breitet Bunin auf zwölf Seiten die Widersprüchlichkeit seiner weiblichen Hauptfigur aus. Aus der Perspektive seines treuen Hundes wird in Changs Träume die Geschichte eines pensionierten Kapitäns erzählt, der jetzt sein Leben in einem düsteren Odessaer Dachboden fristet – und das mit viel Alkohol. Bei so viel Trübsinnigkeit ist auch der Vierbeiner zum Alkoholiker geworden. Bunin nutzte diese ungewöhnliche Erzählperspektive, um Grundthemen der menschlichen Existenz ins Zentrum zu rücken.

Mein Freund, ich habe den ganzen Erdball gesehen – das Leben ist überall so! All das, wofür die Menschen angeblich leben, ist Lüge und Unsinn; Sie haben weder Gott noch Gewissen, weder ein vernünftiges Lebensziel noch Liebe, weder Freundschaft noch Ehrlichkeit – nicht einmal einfaches Mitgefühl. Das Leben ist ein trister Wintertag in einer schmuddeligen Schenke, mehr nicht …

Der Zauber russischer Erzählungen nimmt auch nach hundert Jahren noch gefangen. Die oft ungewöhnlichen Geschichten zeigen das große Spektrum von Bunins Erzählkunst. Als aufmerksamer und hochsensibler Beobachter von menschlichen Schicksalen wirft er einen akribischen und unbestechlichen Blick auf seine Figuren. Bunin verklärt nichts, jede Sentimentalität ist ihm fremd; immer wieder greift er auch gesellschaftliche Missstände wie Korruption, Alkoholismus oder Gewalt auf, die eindringlich geschildert werden. In seinem Nachwort gibt der Herausgeber zunächst einen Überblick über Bunins Lebensumstände zwischen 1916 und 1919, ehe er das Prosawerk dieser wechselvollen Jahre kurz beleuchtet.

Titelbild

Iwan Bunin: Leichter Atem. Erzählungen 1916-1919.
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
Dörlemann Verlag, Zürich 2020.
288 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200734

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch