Wie man sich bis zum idealen „Wegsein“ reich verlieren kann

Jana Volkmann macht uns mit Judith und jenem Auwald bekannt, als den sie ihr Leben entwirft

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erinnern Sie sich noch an das Grimmsche Märchen Die Sterntaler? An jenes arme Waisenkind, das in die weite Welt hinauszieht, dabei das wenige an Hab und Gut, das es bei sich bzw. an sich trägt, an Bedürftige verschenkt und dafür mit einem neuen Hemd belohnt wird, in das die Sterne vom Nachthimmel als Silbertaler hineinfallen?

Falls ja, wissen Sie bereits einiges über das Märchenbuch, das Jana Volkmanns Roman Auwald auch ist, und sei es bloß in der Form des Schattenrisses, der Gegenrede teils sogar. Und Sie wissen schon etwas über dessen zugegebenermaßen ebenso spröde wie nahezu unablässig irritierende, allem gemeinplätzigen Denken, Empfinden und Handeln gegenüber kontrapunktisch gestimmte Heldin. Die trägt den anspielungsreichen, den ebenso auf das gleichnamige alttestamentarische Buch wie auf eine Barke Francis Drakes verweisenden Namen Judith.

Judith ‚die Unerschrockene die Retterin das Schiff‘ nämlich, eine junge Frau, die in einer ebenso professionell wie ideell geführten Souterrain-Werkstatt mit höchster „Akribie“ und auf andere beinahe krankhaft wirkender Hingabe dem „sehr persönliche[n] Geschäft“ des „Holzhandwerk[s]“ nachgeht, sich dabei als ‚Architektin‘ selbst dem einst der Schwester zur Hand gehenden Ludwig Wittgenstein haushoch überlegen fühlt und ansonsten für sich Freizeit-Freuden jeder Art ablehnt, ist in gewisser Hinsicht auch ein verwaistes Kind wie jenes im Sterntaler-Märchen.

Durchdrungen von dem Satz, dass „Menschen vergessen, vor allem einander“, und versessen geradezu auf die eigene Undurchdringlichkeit, gibt sie um des „eherne[n] Gesetz[es] aller Beziehungen“ willen meist nach „ein, zwei Jahre[n]“ ihr Nahestehenden den Laufpass oder streicht radikal „jede Erinnerung“ an diejenigen, „die ihr mit dem Abschiednehmen zuvorzukommen“ wussten. „Ich weiß, wie das geht, ich weiß, wie man zu anderen vordringt oder besser: wie man in sie hineindringt. Umgekehrt ist das anders, bei mir kommt man selten weiter als bis zur Haut“ lautet eines ihrer Bekenntnisse in diesem Zusammenhang, „In eine Welt ohne Menschen geboren […], was für ein Glück“ ein anderes, „ich habe überhaupt keine Spuren hinterlassen. Es hat mich vielleicht nie gegeben“ ein drittes ganz zum Schluss.

Damit aber nicht genug der Bezüge zum Sterntaler-Märchen: Wie das Waisenkind dort, verliert auch Judith auf ihrem Weg – aktuell führt der sie, von ihr dem Zufall überantwortet, per Schiff von Wien nach Bratislava und großenteils zu Fuß wieder zurück – all ihren mitgeführten Besitz. Den gibt sie freilich nicht mildtätig her, sondern er wird ihr gestohlen, verwunderlicher Weise allerdings zu ihrer Freude, womit auch ein solider Steg zu dem Märchen Hans im Glück und dessen antiheldischem Helden geschlagen wäre.

Doch geht Judith nicht nur wie im Märchen ihrer materiellen Habe verlustig, sie verliert vielmehr auch das, was ihr ideell eigen ist oder ihr zu eigen aufgepfropft wurde, Name und Identität, Man-tut und Man-lässt-Sätze beispielsweise sowie Vergangenheit und Zukunft insbesondere: Dies aber mit allem Vorsatz und munterster Bejahung. (Randbemerkung: Episoden aus Judiths Vergangenheit aufrufende Kapitel wie „Mitternacht“ und „Auwald“ wirken von daher kompositorisch unstimmig).

Was ihr, die die „Höhle“ zum einzig denkbaren „Wohnraum“ apostrophiert, dabei die Natur jedoch völlig Greta-fern „suspekt“ und „gehässig“ nennt, als „menschlich“ schließlich von sich und ihren Habseligkeiten sonstiger Art bleibt, ist Sehnsucht: ist das „Sehnen“ nach jener „Taschendiebin“ aus dem Pharmaziemuseum in Bratislava mit den „Katzenaugen“ und dem „Bankräuberinnengesicht“.

Die hat nicht nur das von Judith im Grunde genommen zutiefst verachtete Geld gestohlen, sondern auch deren – man möchte sagen – ‚Magenherzenssinnlichkeit‘ an sich gerissen. „wir lieben uns mit letzter kraft ans ufer“, lautet ein @lovebot7000 zitierendes Motto des Romans, „Ich vermisse sie schrecklich“, heißt es an einer späteren Stelle. Von daher imaginiert Judith nicht von ungefähr kurz vor Romanschluss ein aus verschiedenen, weiter unten noch erläuterten Gründen indessen eher unwahrscheinliches Wiedersehen mit der „Diebin“ als das sich aneinander Festhalten von zwei aufschwemmenden Auwald-Landschaften.

Aber richtig: Zum Sterntaler-Märchen gehört ja auch das Happy End, gehört das reichlich Beschenkt werden als Lohn für die eigene Uneigennützigkeit, und wenn die Autorin nach etwa Zweidritteln des Romans Judith in einem fremden Garten „ziellose[] Kreise“ ziehen und dann unter einem Apfelbaum „etwas Fallobst“ in ihrem „Hemd“ sammeln lässt, dann kann sich leicht auch eben dieses Bild vom beschenkten armen Waisenkinde im Hemde einstellen.

Doch Vorsicht: Zwar ist es so, dass auch Judith im gesamten Romanverlauf reichlich beschenkt wird. Dies allerdings nach ihrem sehr eigenen, wohl kaum mehrheitsfähigen Geschmack, handelt es sich bei ihren Gaben doch beispielsweise um ein kunstgerechtes Verbergen können eigener perfekter Arbeit, den Verzicht auf „Zuhausegeruch“, „Normalität“ und „Heimkehr“, die äußerste Freiheit, „nur für mich selbst“ zu entscheiden, den Verlust von Zeit und Dauer zugunsten des bloßen Augenblicks, einen grenzenlosen, von jeder „Sorge“ befreiten „Gleichmut“, das präzise Wissen, „dass man nirgendshin wollte“ und dergleichen Ungewöhnlichkeiten mehr: „[A]lles, was mir fehlt, fehlt gar nicht“, lautet eine von Judiths fundamentalen Einsichten.  

Man sieht, hier tritt der Text aus der engeren Märchenwelt hinaus – „Heute ist mein letzter Tag im Wald, vorausgesetzt, ich finde einen Weg nach draußen“, heißt es an einer Stelle –, begibt sich auf das freie und weite Feld des Philosophierens und nimmt die Gestalt eines Essays insbesondere über die Conditio humana an. Dabei gelingen so poetisch-wahre Sätze wie „Wenn irgendwo ein anderes Ufer ist, muss man dort auch hin“ oder „Wenn ich eine Hütte hätte […], sie hätte Füße, um wegzugehen […], ich hielte sie nicht auf“.

Dieser Essay, der mit der auch bildlich zu lesenden Rede von der „Höhle“, vom stockfinsteren „Tunnel“ und „dem Loch, aus dem ich gekommen bin“ quasi pränatal ansetzt, spart aber auch nicht an entfalteten Gedankengängen beispielsweise über das „Erhabene“ und den „Schmerz“ und gestattet sich auch das eine oder andere literarische, der eigenen Verortung dienende Namedropping (Ingeborg Bachmann, Adolfo Bioy Casares, Jean Paul Sartre, Susan Sontag).

Stellenweise bemüht er mit den „Gesetze[n] der Himmelsmechanik“ sogar eherne astronomische Probleme und Debatten. So in jener bereits angesprochenen Fallobst-Szene, in der Judith die aufgelesenen Äpfel als „Planeten aus einem fernen Sonnensystem“ und sich selbst in ihrer ‚Umlaufbahn‘ als eben völlig unberechenbaren „Teil eines Vielkörperproblems“ imaginiert: „Der Mathematiker Jules Henri Poincaré unterstellte [schon] Dreikörpersystemen überhaupt eine große Neigung zu chaotischem Verhalten. […] Woher ich das weiß, fragt eine Stimme aus dem Off, warum ich mich daran so genau erinnere, während ich doch sonst so viel vergessen habe – ist mir egal.“

„Ist mir egal“: Ist dies eine eher periphere Stelle, an der der Text theoretisiert und einer „Stimme aus dem Off“ – damit können nur wir als Leser gemeint sein – selbstreflexiv ganz unverhohlen zu verstehen gibt, dass auf lückenlose Kohärenz, Plausibilität und Widerspruchsfreiheit hinauslaufende Anforderungen an einen literarischen Text seines Erachtens deplatziert sind, so sind andere von dieser Überzeugung getragene Stellen, ja ganze Handlungsstränge ganz und gar nicht nebensächlich.

Es verschwindet nämlich unversehens nicht nur jenes Schiff spurlos mit all seinem Personal und seinen Fahrgästen (darunter die „Taschendiebin“), das Judith zurück nach Wien bringen sollte, sondern Wien selbst hat sich bei Judiths Rückkehr nach wohl etlichen Wochen zumindest in Donau- bzw. Donaukanalnähe in einen apokalyptisch anmutenden Ort verwandelt – die Souterrain-Werkstatt versinkt in Staub und „sieht aus, als wären sie alle auf Mittagspause gegangen und nicht wiedergekommen“, bewohnt hingegen sind nur noch höher gelegene Gebiete: „Der Kanal ist leer. Keine Boote, keine Schiffe, keine Lokale, keine Radfahrer, keine Fußgänger. […] Auf der Mauer sind Plakate angebracht. Sie zeigen Porträtaufnahmen aller Schiffspassagiere und des Personals. […] Die U-Bahn-Schächte dahinter sind schon lang verriegelt. Sie beherbergen jetzt Tiere, die weniger störanfällig sind als wir.“

Gesprochen wird von all dem, sofern es um Ursachen geht, wiederholt nur von der „Sache“ und davon, dass „es passiert“ war, was darauf hinausläuft, dass nicht darüber gesprochen wird. So ist Auwald schließlich nicht nur zugleich ein Märchen und ein philosophischer Essay, sondern auch noch ein Katastrophenroman, ein potenzierter sogar, weil er uns der Katastrophe ausliefert, keinerlei Erklärung, Auflösung oder gar Trost zu bekommen – kann man gewalttätiger mit dem Leser umgehen?

Was sonst gilt es zu berichten? Zum einen, dass Auwald mit einem mehrseitigen Prolog beginnt, der inhaltlich faktisch mitten in das Romangeschehen hineinführt und der erzählt, wie Judith sich in einem Tunnel in der Nähe von Bratislava versteckt hält und „beim Durchgang durch die Höhle“ vollends jenes „träumende Tier“ (so der als ein weiteres Motto zitierte Hans Blumenberg) wird, als das wir sie gegen Ende des ersten und dann im zweiten, etwas knapperen Teil des Romans erleben.

Dann, dass der erste Teil des Romans auktorial und mit vielen Einblicken in Judiths Empfinden und Denken erzählt wird, der zweite hingegen in Ich-Form; dass aber nicht recht erkennbar ist, worin in diesem Falle der ‚Mehrwert‘ des Perspektivenwechsels liegen soll. In diesem Zusammenhang wäre auch darauf hinzuweisen, dass der Roman vereinzelt den Stil wechselt und mit Formulierungen und Sätzen aufwartet, die eher satirisch, slapstickhaft oder kabarettistisch anmuten und die jedenfalls jenen gediegenen erzählerischen Grundton verunzieren, der dem Erzählten so angemessen ist und der so gefällt.

Schließlich, dass der Roman mit einem wieder auktorial erzählten Epilog endet, der eine einschlägige, doch unbestimmt bleibende Zeit später als das Judith-Geschehen und in Monaco spielt, mit Judiths letzter Partnerin Lin im Zentrum und deren neuen „Beziehung“ Miriam eher am Rande. Wichtig ist dieser Epilog u.a. deshalb, weil er das katastrophische Geschehen, das die Binnenteile des Romans andeuteten, als solches bestätigt, und weil er der zuvor stets nur durch Judiths Brille gesehenen und als ‚gewöhnlich‘ zusehends von ihr verabschiedeten Lin dazu verhilft, sich selbst ein Stück weit mit ihrem keinesfalls oberflächlichen Denken und Empfinden ‚vorzustellen‘. Von daher könnte dieser Epilog auch der Prolog zu einem neuen Roman sein.

Mit Blick auf Auwald aber erfüllt dieser Epilog zwei weitere Aufgaben, die beide darauf hinauslaufen, ganz grundsätzlich die Dinge in der Schwebe zu halten: Zum einen ist es Lin während einer momentanen Bewusstseinstrübung so, als sehe sie – allen Wissens um die Unmöglichkeit zum Trotz – Judith einen „Hang hinunterkommen“. Dabei ist Judith in Begleitung einer „Gestalt“, die wir als LeserInnen aufgrund ihrer „fast ein wenig kätzisch“ wirkenden „Haltung“ selbstverständlich mit der katzenäugigen „Taschendiebin“ aus Bratislava in Verbindung bringen – mit dem Effekt, dass wir jenes intradiegetisch wohl begründete Wissen Lins um die Unmöglichkeit der Begegnung ironischer Weise in Frage stellen.

Zum anderen hat Lin ganz zum Schluss „vor der Kulisse eines bombastischen Feuerwerks“ zwar „zum ersten Mal seit langem das Gefühl, dass alles wieder in Ordnung kommen konnte.“ Doch wenn dann die Rede von „leuchtenden, fast lodernden Gesichter[n] ist und der letzte Satz lautet „Wie heiter und friedlich alles war, so kurz vor dem Verglühen“, dann ist nicht auszuschließen, dass das allerletzte, freilich ungeschriebene Wort des Romans „Menschheits-Dämmerung“ – und Auwald eine Dystopie ist.

Titelbild

Jana Volkmann: Auwald. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2020.
200 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957324467

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