Kostbare Zeit in Kathedralen (aus Freude)

Andreas Nentwich überzeugt auch Reisemuffel, dass es sich lohnen könnte, zumindest einmal im Leben für eine Weile woanders zu sein

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

London interessiert mich nicht. Reisen auch nicht. Man sieht ja, was dabei herauskommt (Ischgl). New York interessiert mich nicht. Was soll ich da? Wie alle anderen so tun, als hätte ich ‚Erfahrungen‘ gemacht? Ich glaube, in Jim Jarmuschs Stranger than paradise fahren ein paar Leute von zu Hause weg, landen irgendwie auf irgendwelchen Eisenbahngleisen irgendwo und einer sagt: Sieht auch nicht anders aus als zu Hause. Recht hat er. Die, die ‚Erfahrungen‘ machen, kommen dann zurück, sind ‚begeistert‘, Gläubige mit Glimmer in den Augen. Das einzige, wozu´s langt, ist dann, dass Elläi (= L.A., Los Angeles) gesagt wird. Und junge Leute sagen inzwischen statt „Mutti“ „meine Mom“. Das sind keine Erfahrungen, das ist Streaming. 

Wenn ich nun so übellaunig rede und Reisen ja doch irgendwie nett sein könnte oder vielleicht sogar schlauer macht –  Sepp Herberger: „Hinterm Berch wohnat ach Leit“ – dann wird es Zeit, jemanden auf seiner Reise zu begleiten, insbesondere, wenn es sich für ihn um einen Sehnsuchtsort handelt. Es wird Zeit, sich von ihm an die Hand nehmen zu lassen, damit er einem zeige, was es seines Erachtens zu zeigen gibt. Und falls es dann noch so ist, dass er einem gar nichts zeigen will, sondern nur dort sein, wo er hinwill und das aufschreiben, was ihn interessiert: noch besser.

Das nun hat Andreas Nentwich, 61, Literaturkritiker, Publizist und neugieriger Mensch in diesem Londonjournal getan. Ihm hat das alles sehr viel Freude bereitet, glaube ich. Dem missmutigen Rezensenten auch? Ja. Und warum? Schön ist, und dafür kann man sich schnell erwärmen, dass Nentwich ein halbes Jahr von der Stiftung Landis & Gyr gesponsert bekam, ohne jegliche Verpflichtung. Das rahmt diesen Aufenthalt nicht nur, sondern ist die Hefe, in der alles gären kann. Jetzt ist im besten Sinne Muße möglich, aktives Nichts- und Alles- und das für einen selbst Interessanteste tun und sei das auch Nichtstun.

Allerdings lauert im Hintergrund die letzte Reise. Nentwichs Buch beginnt mit einer Erleichterung, die nicht vorhält. Eine Untersuchung hätte durchaus Schlimmes zu Tage bringen können, doch, so scheint´s: O.B. (ohne Befund), aber: „Diejenigen, die jetzt, in seiner Umgebung, krank werden, werden es ernstlich. Mann von sechzig Jahren, eingelaufen in die Vorhöfe todesängstlicher Wunschlosigkeit.“ Das ist gut formuliert, vielleicht sogar etwas zu gut, und das ist vielleicht das Einzige, was mich hin und wieder gestört hat – die allzu kluge Formulierungsklugheit Nentwichs. Dabei ist er, a rather elderly man, kokett geblieben: „Die schönen Frauen sind jetzt alle nett zu ihm.“

Im Journal selbst möchte Nentwich „nur das Kleinste“ beschreiben, das tut er zwar nicht, aber das macht nichts. Nentwich, das macht dies Buch so toll für mich, ist immer ganz wach und zugleich ganz in seinem Kopf, eine semipermeable Membran: zum einen offen für das, was da hereindiffundiert und zugleich mit Erfahrungen und Ansichten ausgestattet. Nehmen wir seine Todesangst. Nentwich ist Hörbeobachter. Dort, wo er wohnt ist Kirchengeläut und „Ambulanzgeheul“ zu hören. Ambulanz gleich Katastrophe – und die könnte sich ja gerade im eigenen Körper abspielen: „Aber das ist so wenig wie das Geläut die ganze Wahrheit über das Leben, wenn da, wo man wohnt, eine Schule in Hörweite ist. Winzig kleine Buben und Mädchen, lachende Pflänzchen in ihren Schuluniformen, die junge, ernste muslimische Lehrerin mit Aktenordnern unter dem Arm.“

Und was tut Nentwich in diesem halben Jahr von Februar bis Juli 2019? Er hat ja nichts zu tun. Er ist ja „Gedankenmacher ohne Zielvorgabe, Zeitbesitzer auf Zeit“, und das, lässt sich ergänzen, an einem Ort, den er nicht kennt. Einen Ort muss man sich kenntlich machen. Daher finden sich immer wieder Überlegungen, Assoziationen, die um die Frage(n) von Heimat, von Orten, Ortlosigkeit, Sichverorten kreisen. Er sei ein heimatliebendes Kind gewesen, „das schon früh nicht zur Heimat gehören wollte“. Heimweh hatte er meistens, „wenn ich an einem Ort war, an dem ich lange brauchte, um mich wohlzufühlen. Aber auch dann wollte ich nicht zurück“, denn: „Das Heimweh galt dem Bild der alten Dörfer in der Landschaft, der Landschaft selbst und dem Bild der alten Dörfer und der Landschaft in den alten Heimatjahrbüchern.“

Heimweh geboren aus dem Ort, an dem man nicht heimisch wird, Heimweh als Bild im Kopf.  Wie aber wird man in der Fremde heimisch? Man braucht Haltepunkte, Verankerungen, man braucht Ortsvergleichungen. Nentwich befragt seine Ortskenntnisse, Berlin, Zürich und nun finden Ortsvermengungen statt, Nentwich nennt das „Ortsverwirrungen“, die „einem die innere Topographie so hereinspielt. Ist das Angekommensein? Jedenfalls scheine ich nicht mehr so sehr die Fremdheit des Fremden, sondern atmosphärische Verwandtschaften zwischen Orten hier und Orten anderswo, die mir vertraut sind, wahrzunehmen. In Zukunft werden sie ein Londongefühl auslösen, jedenfalls sind sie Aspiranten dafür.“

Das genügt natürlich nicht, um im Fremden nicht verloren zu gehen. Gewohnheiten müssen her, sie sind Bojen im Meer des Unbekannten, sonst sieht alles gleich aus, man weiß dann gar nicht, wer man wo ist, man muss eine innere persönliche Topo- und Chronographie entwickeln. Welche innere Land- und Zeitstrukturierungskarte Nentwich dabei leitet, weiß ich nicht genau. Aber man kann einige Haltepunkte, Bojen in Raum und Zeit, im Londoner Meer erkennen. Es gibt einige Nuclei sich entwickelnden Trotts: Schwimmen gehen, eine „ausgefeilte“ Joggingrunde. Verankert wird man aber auch durch die Verankerung durch andere und sei´s nur, dass man sich´s imaginiert. Nentwich landet immer wieder in derselben Bäckerei und kauft sich immer einen Cheesecake: „Ich könnte mir vorstellen, dass sie mich untereinander schon den Cheesecake-Man nennen. Da kommt schon wieder der Cheesecake-Man.“ Vertraut ist man dort, wo man sich vorstellt, man werde als ein Vertrauter wahrgenommen – oder erhalte zumindest einen Namen.

Aber Gewohnheiten werden nicht nur entwickelt, sie werden auch von zu Hause mitgebracht. Mitgenommen werden aus der alten Heimat, dem alternden Kopf: Hören, Denken, Gucken, vor allem Kirchen gucken. Nentwich ist ein Kirchenbesessener, seitenlang kann er Kathedralen, Dorfkirchen beschreiben.

Gucken: auch Museumsbesuche strukturieren diesen Aufenthalt. Flüchtig bleibt da einiges und verweist wieder auf das Verwehte des Fremdseins, das Verwehte eines handlungsentlasteten Aufenthalts. Es mag Zufall sein, aber es passt doch, dass da einmal der richtige Tag für John Constables Wolkenbilder kommt: „Etwa eine Stunde, lese ich auf dem Schildchen daneben, hat Constable für ein solches Bild gebraucht, jagend malte er sein jagendes Motiv, und doch nie schnell genug. Jeder Versuch, den Wolkenaugenblick zu bannen, musste scheitern, mehr als unendliche Annäherung aus Empirie und dem, was da gerade geschah, kann Menschenhand nicht erzielen.“

Gucken: vor allem Menschen gucken. Gehört es nicht zu den genussvollsten Momenten in der Fremde, wenn man anderen Leuten beim Leben zusehen kann? Ist es nicht toll, dass es nicht das eigene ist? Ist es nicht toll, dass man im Glotzen in der Fremde für eine kurze Zeit aus dem eigenen Leben entlassen ist? Und weil das so sein könnte, kommen da die schönsten Momente und die schönsten Beschreibungen zustande.

Zwei Beispiele. Wie so oft fährt Nentwich mit der tube: „Auf der Rückfahrt sehe ich ein großes afrikanisches Mädchen, es ist vielleicht sechzehn, von dem ich die Augen nicht lassen kann, fassungslos, dass immer wieder so schöne Geschöpfe unter den Irdischen wandeln und meinen Weg streifen.“ Zweites Beispiel: Beobachtung einer Soldatin unter männlichen Soldaten. Sie hat einen Pferdeschwanz, der wippt, dadurch fällt es wohl auf, dass sie eine Frau ist: „Was gibt es Schöneres als eine schöne Frau, die wie ein schöner Jüngling aussieht, der wie eine schöne Frau aussieht. Und dazu noch in Uniform!“ Stimme vollinhaltlich zu.

Es gäbe nun noch viel zu diesem schönen Buch zu sagen, zu sinnieren, an Zitaten anzuführen, stärker noch könnte ich versuchen, Nentwichs Blick zu verstehen. Aber das mag für jetzt genügen, denn es bleibt ja eine drängende Frage: Würde ich jetzt also doch reisen (wollen)? Vielleicht nicht nach London, das ist Nentwichs Sehnsuchtsort, nicht meiner. Aber für einen Moment überlege ich, ob ich mir nicht doch den alten Diercke-Weltatlas hervorhole und ein bisschen darin blättere. 

Titelbild

Andreas Nentwich: Change Ringing. Ein Londonjournal.
Rotpunktverlag, Zürich 2020.
207 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783858698643

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