Faschismus – was ist das eigentlich?

Mathias Wörsching gibt eine aktuelle lesenswerte Einführung in „Faschismustheorien“

Von Jan-Paul KlünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Paul Klünder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist Björn Höcke ein Faschist? Ist die AFD eine faschistische Partei? Und wenn nicht, was trennt Rechtspopulismus von Faschismus? Oder, ist die Polizei in Teilen faschistisch? Fragen bzw. Einschätzungen dieser Art tauchen in der massenmedialen Berichterstattung immer wieder auf und führen einige Beobachter*innen zu dem Schluss, dass der Faschismus eine Renaissance feiert. Vor diesem Hintergrund erscheint es aber zunächst erklärungs- und diskussionsbedürftig, was Faschismus überhaupt bezeichnet. Mitunter kann man den Eindruck gewinnen, dass die Fremdzuschreibung Faschist oder faschistoid usw. zu einer leeren und inflationär gebrauchten Phrase verkommt, wodurch der Vorwurf sich selbst bagatellisiere. Mit Blick auf den historischen Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg und die bekannten Folgen sollte dies unbedingt vermieden werden.

Damit stellt sich die Frage, was ist genau gemeint, wenn der Begriff Faschismus verwendet wird? Handelt es sich bei dem Phänomen um eine Ideologie, eine bestimmte Herrschaftsform, einen Typus politischer Bewegung oder Partei, eine Haltung im Sinne eines „Stils“ (Armin Mohler) – oder alles zugleich? Fest steht, dass das, was unter das Label Faschismus gefasst wird, äußerst heterogen ist und dabei wissenschaftlich strittig und politisch immer umkämpft. Jede Bestimmung von Faschismus ist kontrovers geblieben; entsprechend gibt es keine allgemein anerkannte Definition. Am Beispiel der unterschiedlichen Faschismustheorien lässt sich exemplarisch die besondere Herausforderung von politikwissenschaftlicher Theoriebildung studieren, welche einen Teilaspekt der modernen Gesellschaft, mit dem Anspruch wahre Aussagen zu formulieren, zu fassen versucht. Dabei aber unauflöslich innerhalb des Untersuchungsgegenstandes politischer Kommunikation, mit den entsprechenden Limitierungen an Beobachtungsmöglichkeiten, verbleiben muss.

Über das Spannungsfeld der Faschismusdeutungen hat Matthias Wörsching eine lesenswerte Einführung geschrieben. Das Buch umfasst 240 Seiten und bietet zunächst einen sehr kurzen Überblick über die Begriffsgeschichte, um darauf aufbauend die wichtigsten wissenschaftlichen Theoretisierungen des Phänomens pointiert darzustellen. Den Ausführungen vorausgestellt ist eine Einleitung, in welcher Wörsching sein methodisches Vorgehen skizziert: „Nun sollten die meisten Theorien des Faschismus nicht nur beschreiben und erklären, sondern auch Hinweise zu seiner praktischen Bekämpfung und Verhinderung geben. Das vorliegende Buch verfolgt ebenfalls dieses Ziel.“ In dieser weltanschaulichen Auseinandersetzung bekennt sich die Einführung normativ dazu eine Orientierungs- und Bildungshilfe der konkreten antifaschistischen Praxis sein zu wollen. Diese Positionierung ist nicht weiter erstaunlich, zumal der Autor sich seit mehr als 10 Jahren in der politischen Bildungsarbeit engagiert und die Internetseite „faschismustheorie.de“ betreibt.

Mit der politischen Grundstellung der Einführung werden jedoch zwei mögliche Analyseoptionen von Faschismus ausgeschlossen: Erstens finden sich in der Einführung bewusst keine Faschismus-Deutungen von Autor*innen, die sich selbst als faschistisch definieren, oder sonstige politisch-rechte Theoretisierungen von Faschismus. Begründet wird diese Lücke lediglich damit, dass „einige Stichproben keinerlei bereichernden Beitrag“ erwarten lassen. Ausgenommen von diesem Rezeptionsstop bleibt aber Ernst Nolte, dessen wirkmächtigen und kontroversen Untersuchungen Wörsching vier Unterkapitel widmet. Eine darüber hinausgehende kritische Betrachtung der rechten oder auch faschistischen Selbstinterpretationen könnte ggf. aber dem Ziel der politischen Bekämpfung der Faschismus dienlich sein. Zweitens werden Begriffe wie „Linksfaschismus“, die u.a. von Jürgen Habermas prominent verwendet wurden, nicht als Form von Faschismus verstanden, sondern ausschließlich als „rechter Kampfbegriff“. Für beide Entscheidungen und Abgrenzungen lassen sich sicherlich gute Gründe anführen, aber leider erfährt die Leser*in hierzu nicht viel mehr. Etwas unglücklich erscheint der pre-analytische Ausschluss von faschistischen Faschismustheorien und vermeintlich faschistischen Elementen im linken Spektrum, weil damit bereits zu Beginn impliziert und undiskutiert festgelegt erscheint, was faschistisch ist und wie sich rechts und links unterscheiden. Dies ist schade, weil Wörsching zu Beginn deutlich mehr Raum als andere Einführungstexte in sozialwissenschaftliche Theorien lässt, um sein methodisches Vorgehen zu klären. Gerade dieses Vorgehen – wie man es insbesondere auch aus akademischen Qualifikationsschriften kennt – hat mir ausgesprochen gut gefallen und so hätte ich gerne noch mehr zum Ausschluss und Problematik von ‚rechten Faschismustheorien‘ oder sonstigen politisch-abgründigen Deutungen des Faschismus erfahren.

Die Grundgliederung des Buches erscheint derweil schlüssig; zuerst die knappe Darstellung der chronologischen Genese des Phänomens und danach, ebenfalls in weitestgehender Reihenfolge der Entstehung, die begleitende Theorieentwicklung. Gleichzeitig ist die Strukturierung des Feldes alles andere als einfach, weil die Zugriffe auf den Gegenstand so heterogen und strittig sind. Etwas unklar bleibt bei Wörschings Gliederung die Abfolge im Kapitel III Entwicklung der Faschismustheorien, welche die im Unterkapitel III.1 „Kartierung des theoretischen Feldes“ vorgestellten Gegensatzpaare der Faschismustheorie (transpolitisch vs. konkret-historische; singularistische vs. generische sowie autonomistische vs. heteronistische) nicht systematisch in eigenen Unterkapiteln weiterverfolgt. Die Kapitel III.2 und III.3 ff widmen sich zwar den singularistischen Theorien und insbesondere den generischen Ansätzen, allerdings finden sich die übrigen Ansätze nicht mehr als eigene Unterkapitel, ohne dass dies weiter erläutert wird.

Der Fokus der hier rezensierten Einführung liegt im Weiteren auf der Darstellung und Diskussion der verschiedenen Hauptströmungen der Faschismusforschung: marxistische, psychologische, ideeozentrische und praxeologische Faschismustheorie. Wörsching sieht in den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen jeweils und prinzipiell wertvolle Ansätze zur Interpretation des Faschismus. Gleichzeitig gelingt es ihm mit wenigen kritischen Fragen und gut platzierten Argumenten Lücken in den unterschiedlichen Ansätzen aufzuzeigen. Die neun Vertiefungskapitel zeichnen sich mit jeweils ca. 20 Seiten (eines dieser Kapitel umfasst mit 10 Seiten etwas weniger und eines mit 30 Seiten etwas mehr) durch eine quantitative Symmetrie aus. Wobei die Darstellung der Pluralität der Faschismustheorien durchaus eine quantitative Überlast zugunsten von marxistisch orientierten Theorien aufweist.

Sechs der neun Kapiteln, in welchen unterschiedliche Theorien des Faschismus vorgestellt werden, thematisieren Konzepte, die in der Tradition des Marxismus stehen. Das Spektrum reicht hier von klassischen Ansätzen über die Kritische Theorie der Frankfurter Schule bis zu Autoren wie Nicos Poulantzas und Louis Althusser. Diese Dominanz lässt sich zunächst damit begründen, dass die theoretische Bezugnahme auf den Faschismus lange Zeit von den im weitesten Sinne marxistisch orientierten Ansätzen bestimmt wurde und aus diesem Spektrum gleichzeitig auch sehr innovative Deutungen stammen. Motiviert wurde diese Theorieproduktion bis zum Ende des Kalten Krieges auch durch die Absicht, die Komplizenschaft und innere Verwandtschaft von Kapitalismus und Faschismus immer wieder neu zu belegen und damit gleich zwei politische Gegner zu diskreditieren. Unabhängig davon zeigt Wörschings Darstellung sehr anschaulich die ideengeschichtliche Verweisungsstruktur sowie die Weiterentwicklungen und Abweichungen innerhalb der durchaus heterogenen marxistischen Faschismustheorien. Die drei verbleibenden Kapitel  widmen sich psychoanalytischen, ideeozentrischen und praxeologischen Erklärungen des Faschismus. Wobei auch der psychoanalytische Ansatz vor allem und prominent durch Autoren der Kritischen Theorie vertreten wurde, welche wiederum lose in der Tradition des Marxismus stehen.

Bei den ideeozentrischen und praxeologischen Theorien des Faschismus handelt es sich nun um Ansätze, die im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs lange Zeit weniger beachtet und erst in den letzten beiden Jahrzehnten stärker rezipiert wurden. Diese Theoriestränge hätte der Autor gerne noch detaillierter referieren können, auch weil die Einführung hier in Abgrenzung zu älteren Überblickswerken zur Faschismustheorie einen echten Gewinn aufweist. Aber das Thema und die einzelnen Theorien sind zu komplex, so das vieles nur angerissen werden kann. An verschiedenen Stellen würde man gerne weiterlesen und mehr erfahren, aber der Rahmen einer Einführung ist konstitutiv begrenzt. Gleichwohl schließt das Buch mit einer ausführlichen Literaturliste, die Hinweise auf viele Werke zum Thema enthält und es der Leser*in freistellt sich weiter zu informieren. Deutlich wird im ganzen Text, wie gut Wörsching in die Thematik eingearbeitet ist und es versteht – auch wenn das dem Format geschuldet nicht viel Raum einnehmen kann –, die unterschiedlichen Faschismustheorien miteinander in Dialog zubringen. Dabei gewinnt man den Eindruck, dass der Autor auch einen eigenen Theoretisierungsversuch des Faschismus unternehmen könnte.

Die abschließenden Betrachtungen im Buch zur gegenwärtigen Situation illustrieren, dass die politische Lage komplizierter ist, als das sie sich auf den Faschismusbegriff reduzieren ließe. Wörsching beleuchtet hier kurz verschiedene Facetten (Verhältnis zu Konservatismus und Populismus, Faschismus und ultranationalistische Bewegungen, Faschismus und Islamismus usw.), aber ohne pauschale oder einfache Antworten zu geben. Hierbei zeigt sich, dass die eingangs gestellten Fragen nicht einfach zu beantworten sind, sondern mittels der diskursiven Erarbeitung eines Begriffes von Faschismus diskutiert werden und möglicherweise kontrovers bleiben müssen. Die Einführung von Mathias Wörsching verdeutlicht, dass sich die Welt 2020 von derjenigen unterscheidet, in welcher die ersten faschistischen Bewegungen entstanden, und zeigt gleichwohl, dass bestimmte Elemente des Faschismus überlebt haben – bzw. einfach nicht tot zu kriegen sind.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass es sich trotz der kleineren Kritikpunkte um eine ausgesprochen lesenswerte Einführung handelt, die theoretische Orientierung bietet. Gerade weil die freiheitlich-demokratische Grundordnung gegenwärtig wieder besonders herausgefordert wird, ist eine aktuelle Einführung in die Theorien des Faschismus sehr zu begrüßen; auch um den inflationären, diffusen und uninformierten Faschismus-Etikettierungen zu begegnen, die möglicherweise das Gegenteil von dem bezwecken, was sie intendieren.

Titelbild

Mathias Wörsching: Faschismustheorien. Ihre Geschichte, ihre Aktualität.
Schmetterling Verlag, Stuttgart 2020.
240 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783896576736

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