Pünktchen und ein Ton

Albrecht Selge erfindet „Beethovn“

Von Jürgen RöhlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Röhling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Motto: Und nun rezensiert, solange ihr wollt, ich wünsche euch viel Vergnügen!

Beethoven 1811 an seinen Verlag Breitkopf & Härtel

 

Beethovn, Beethowen, Bethoven oder auch Beethoven: Wie man diesen seltsamen, niederländischen Namen schrieb, war eigentlich ja egal. Man wusste, um wen es geht. Nach der Lektüre dieses Buches weiß man das nicht mehr so genau. B., so soll er fortan kurz genannt werden, ist eine schillernde Figur in Albrecht Selges Roman, der zum Titel die Schreibweise Beethovn nimmt.

Ein vielstimmiges Konzert entsteht so, oder besser: eine Fantasie, in der Selge das Personal der B’schen Welt auffährt und zu Wort kommen lässt. Dienstmädchen, Musikstudenten, Kollegen, Schriftsteller wie Franz Grillparzer, geliebte Frauen – alle kreisen um diesen gar nicht fixen Mittelpunkt, der sich nicht fassen lässt, auch wenn er selbst ebenfalls zu Wort kommt und gewissermaßen um sich selbst kreist, zwischen Kompositionsfragen und Erziehungsunbilden, die der Problemneffe Karl verursacht. Die Kernfrage eines Romans über Berühmtheiten der Weltgeschichte ist: Stimmt das denn alles? – das Verhältnis von Authentizität und Fiktion also.

Vor gut hundert Jahren war eine biographische Literatur in Mode – und sehr populär beim Publikum –, die das in Rede stehende Leben neu erfand, sich hineindachte, hineinimaginierte, und so mit dem Anspruch, die Wahrheit zu erzählen, ganze Lebensläufe neu erfand; Stefan Zweig war ein Meister darin. So kann man heute nicht mehr erzählen, mag sich Selge zu Recht gedacht haben, und erfindet seinen eigenen Weg. Klar, dass das keine Sinfonie werden kann, aber die Fantasie ist ja auch eine ehrenwerte musikalische Gattung, dazu zukunftsweisend in die Romantik hinein, bei Selge mit ganz unterschiedlichen Kapiteln, mal nur eine, mal 48 Seiten lang, mit ständig wechselnden Erzählperspektiven. So ganz hat es sich dabei doch nicht vermeiden lassen, dass viele dieser Kapitel gar nicht so unähnlich, ja fast in einem Ton erklingen und den Lesenden eine nicht unerhebliche Orientierungsarbeit abverlangen: Wo sind wir grade, wer spricht, oder denkt, oder fantasiert? Nur scheinbar ist da die Jahreszahl eine Hilfe, die den Kapiteln vorangestellt ist – anfangs um die für B. final wichtigen 1820er Jahre kreisend, später wird auch das immer unzuverlässiger: Pünktchen verweigern die genaue Zuordnung, Stimmen aus der Zukunft erklingen, und schließlich spielt auch ein 32. März eine Rolle.

So schillernd und ungreifbar das B-Bild seiner eigenen Zeit ist, so klar ist eine subtextuelle Aussage des Romans. Zwangvolle Plage, Müh ohne Zweck, denkt es im Kopf des Neffen – Bayreuth winkt mit dem Zaunpfahl! Scratchberry fields forever? Oh wie nah ist Liverpool! Und ganz irre gar, wenn ein Alex Leverkuhn daherkommt, ein Wendell K. über den fehlenden dritten Satz der letzten Klaviersonate (der 32.!) doziert und die droogs ermahnt werden: Nicht diese Töne!

Genug der Anspielungen? Nicht für Albrecht Selge, der kann noch mehr. B. als Großinspirator; und wo Selge Recht hat, hat er Recht: Im Werke Thomas Manns, Stanley Kubricks oder Richard Wagners fehlte etwas, hätte es den großen B. nicht gegeben, und auch die Pop- und Rockwelt griff bewusst oder unbewusst auf Bs Harmonien, Melodien und vor allem auf seine überzeitliche Wucht zurück.

So inspiriert der Große mit den wilden Haaren bis heute. Und die alte Biographenfrage, was wahr ist und was erfunden, ist nicht wirklich eine Kernfrage, Selge bremst sie gleich vor Beginn seines Textes aus: „…wirklich Geschehenes und bloß Gedachtes nicht immer deutlich unterscheiden…“, so floss es Grillparzer mottobildend aus der Feder in seinen, ja: Erinnerungen an Beethoven. Das Motto macht’s, und darin vor allem die Pünktchen: denn im Original ist das Satzfragment ganz anders gemeint – der traurige Zustand Beethovens ließ ihn selbst in seinen letzten Jahren Realität und Fantasie vermischen, meinte Grillparzer. Geschenkt: Dem Selge’schen B. hat’s nicht geschadet.

Titelbild

Albrecht Selge: Beethovn.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100687

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