Im Wackelkontakt zur Welt

Simone Lappert poetisiert in ihrem Roman „Wurfschatten“ Hypochondrie und Panikattacken

Von Caroline LissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Liss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ada ist ausgebildete Schauspielerin und könnte ihr Leben erfolgreich gestalten: Sie könnte in einem Ensemble spielen, ihr Talent nutzen, ihre Sucht nach Applaus stillen, Geld verdienen. Stattdessen spielt Ada die Leiche eines Krimidinners auf einem Kreuzfahrtschiff und lebt ihr Talent vielmehr im nicht-fiktiven Rahmen aus – das Credo Erving Goffmans „Wir alle spielen Theater“ treibt sie in ihrem Sein auf die Spitze: Ada gibt sich im alltäglichen Leben gern als jemand aus, der sie nicht ist. Sie erfindet eigene Rollenfiguren, die sie vor fremden Menschen verkörpert; von der bodenständigen Bäckerin mit französischem Akzent bis zur italienischen Gastdozentin aus Genua, „die an die Musikakademie gebeten worden war, um Vorträge über Puccinis verschollene Flötensonaten zu halten.“

Ada eignet sich in diesem Spiel nicht bloß eine Fremdsprache an, sondern vielmehr einen Fremdkörper. So werden die Blicke der Anderen für sie zur Bühne. Sobald sie jedoch allein ist, „verwandelte sich diese angenehme Fremde des eigenen Körpers in eine bedrohliche zurück.“ Anstelle des Individuellen, des Eigenen tritt bei Ada die Angst: Angst vor dem Leben, Angst davor, zu leben. Adas Angst hemmt sie nicht nur, sie hindert sie wortwörtlich daran, ihre Träume und Ziele im Leben überhaupt in Angriff zu nehmen. Denn „wenn sie da ist, die Angst […], dann zittert alles, was ich sehe, alles verwackelt, es ist ein Selbstauslöser, den ich nicht steuern kann, ich weiß nicht einmal, wann alles angefangen hat.“

Während Adas Angst also zum stillen Mitbewohner geworden ist, dem sie sogar eine ‚Angstwand’ in einem dafür eigens vorgesehenen Raum widmet, auf der sie all das sammelt (und stetig erweitert), wovor sie Angst hat und was Panikattacken auslösen könnte, versteht sie es, ihr Umfeld gezielt zu täuschen, und weiß diesen maßgeblichen Teil ihrer selbst – über den sie sich schließlich auch identifiziert – gekonnt vor ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zu verstecken. Zwar soll die Angstwand im Sinne einer Konfrontation therapeutisch wirken, doch spätestens als sie mit der Mietzahlung stark im Verzug ist, wird deutlich, dass die Angst, die sich nicht auf etwas Spezielles konzentriert, sondern vielschichtig ist, schon längst Adas Leben bestimmt.

So wird ihr aufgrund ihrer finanziell unglücklichen Situation zu allem Überfluss das Enkelkind ihres Vermieters, Juri Matuschek, in die Wohnung gesetzt und Adas Angst erhält einen weiteren Mitbewohner. Was anfangs als obligatorische Wohngemeinschaft mitsamt unterschwelligen Anfeindungen beginnt, entwickelt sich zunehmend zum abstrusen Versuch beider Figuren, sich gegenseitig aktiv aus der Wohnung zu ekeln. Dabei weisen Ada und Juri erhebliche Gemeinsamkeiten auf: Sie vermeiden beide solche Entscheidungen, die den Verlauf ihres Lebens und ihren Werdegang in eine bestimmte Richtung vorantreiben. Beide verweilen lieber im Moment – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und Ängsten.

Während Ada ihrerseits besonders konservative Eltern hat, die ihre privaten wie beruflichen Entscheidungen stark ablehnen, muss Juri den plötzlichen wie frühen Tod seines Vaters verarbeiten und schließlich sein Erbe annehmen, obgleich er sich der Entscheidung, die Goldschmiede zu übernehmen, bislang immer entzogen hat. Die anhaltenden, jeweiligen Vermeidungsstrategien beider Figuren verkörpern somit vielmehr den Versuch, die Zeit anzuhalten: Denn solange keine Entscheidung für oder wider etwas getroffen wird – es schlichtweg keine Entscheidungen gibt, die irgend Relevanz haben könnten – verweilt das sich nicht entscheidende Subjekt vermeintlich länger im Moment. Der grundlegende Unterschied dieses Verweilens ist allerdings, dass Juris Reisen durch die Weltgeschichte bisher ein proaktives war, wohingegen Adas Ängste und Angstzustände sie lähmen und ihre privaten wie beruflichen Zukunftspläne vereiteln.

Die Leben der Figuren Ada und Juri entwirft Lappert diametral: Während Ada über den Friedhof flaniert, um sich in ihrer Angst vor dem Leben (oder der Sehnsucht zum Tod) ihr potenzielles Grab auszusuchen, begegnet sie dabei zufällig Juri, der am realen Grab seines Vaters trauert. Und als Juri nach einem schweren Verkehrsunfall und ungewissen Folgen für seine Gesundheit im Krankenhaus liegt, erzählt Ada ihm am Krankenbett von der Last ihrer Hypochondrie, die sie zu tragen und zu verstecken versucht(e). Juris Probleme sind damit physisch-realer Natur, wohingegen Ada mit mentalen Problemen zu kämpfen hat. Dennoch versteht Lappert es, die Probleme ihrer Protagonisten neutral und ohne Wertung zu schildern und sie nicht gegeneinander aufzuwiegen. Vielmehr entwickelt sich der anfänglichen Antipathie der Beiden zum Trotz aus den wenigen Gemeinsamkeiten eine verzweigte, zarte Liebe, in deren Zentrum die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens, menschlicher Existenz und der Befreiung von Ängsten im und vor dem Leben steht.

Lapperts Debütroman Wurfschatten überzeugt mit einem sauber strukturierten Plot, der die Schwere der Thematik psychischer Belastungen und Krankheiten zwischen spielerischen und ernsten Nuancen oszillieren lässt. So beweist sie mit ihrer avancierten Sprache ein Gespür für sprachliche Bilder, wenn sie Adas Panikattacken artifiziell wie eine perfekt inszenierte, poetisch aufgeladene Filmszene zeichnet, deren Ästhetik an keiner Stelle aufgebrochen wird. Lappert lässt das Innenleben der Figuren vor dem Hintergrund des Schauspiels zur eigentlichen Kulisse werden, eines Schauspiels, das Ada im Alltäglichen intensiver betreibt als im Beruflichen.

Obgleich das Leben ihrer Figuren durch die physischen wie psychischen Belastungen, etwa Adas Hypochondrie und die damit einhergehenden Panikattacken, entschleunigt wird oder gar einfriert, bleibt es nicht aus, sowohl diese als auch Adas finanzielle Probleme und ihre mentale Gesundheit kritisch zu hinterfragen: Zwar kann sie die Miete ihrer Wohnung nicht mehr zahlen, verfügt aber stets über genug Geld, um ihre Freunde zum Dinner einzuladen, extravaganten Wein vom Bodensee zum Essen zu reichen oder ihre nächtlichen Taxifahrten zu bezahlen, die sie regelmäßig zur Abschwächung ihrer Panikattacken und eigenen Beruhigung wählt.

Lappert romantisiert die psychische Erkrankung ihrer Protagonistin und erklärt sie zur modernen Melancholikerin, deren Hypochondrie zum festen Bestandteil ihrer Persönlichkeit geworden ist. Die Frage danach, was von ihr übrigbleibt, wenn sie die Angst besiegt und überwindet, stellt sich die Hauptfigur zwar selbst; eine Antwort gibt der Roman allerdings nicht – auch aufgrund seines offenen Endes. Lapperts Roman Wurfschatten sucht somit keine Auseinandersetzung mit psychischen Krankheiten und Problemen; er liest sich vielmehr als Textur eines melancholisch-ästhetisch arrangierten Lana-del-Rey-Songs: „We get so tired and we complain ’bout how it’s hard to live. It’s more than just a video game. But we’re just beautiful people with beautiful problems. […] God knows we’ve got them.”

Titelbild

Simone Lappert: Wurfschatten.
Diogenes Verlag, Zürich 2020.
256 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783257245257

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