Thomas Manns Kriegsdienst am Schreibtisch

Ein von Erik Schilling herausgegebener Tagungsband hilft die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ 100 Jahre später zu verstehen

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es bedarf einiger Anstrengung, insbesondere für den interessierten Laien, der nicht mit der schier unüberschaubaren Forschungsliteratur zu Thomas Mann vertraut ist, dieses Buch durchzuarbeiten. Aber man kann dies mit Gewinn tun, am ehesten dann, wenn man den Text der Betrachtungen eines Unpolitischen samt zugehörigem Kommentarband aus der großen Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe bereitliegen hat, um zitierte Textstellen im Kontext nachzulesen.

Bei dem von Erik Schilling herausgegebenen Sammelband handelt es sich um das Ergebnis einer Tagung, die anlässlich des 100jährigen Erscheinungsjubiläums der Betrachtungen an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität stattgefunden hat. Die aus den Vorträgen hervorgegangenen Aufsätze sind in drei Abteilungen gegliedert: In der ersten Abteilung geht es um die literarischen und diskursgeschichtlichen Kontexte der Betrachtungen, in der zweiten um das Verständnis von Politik, Gesellschaft und Staat in dem Werk und in der dritten um die Betrachtungen im Kontext der „Konservativen Revolution“.

Auf die problematische Rezeptionsgeschichte der von Thomas Mann in den Jahren 19151918 verfassten Betrachtungen eines Unpolitischen weist Erik Schilling einleitend hin. Sie ist zum einen in den aus heutiger Sicht zweifelhaften Positionen begründet, die Mann in diesem Werk vertritt. Schilling fasst sie mit den Worten „Kriegsbegeisterung“, „Demokratiefeindlichkeit“ und „Polemik gegenüber Andersdenkenden“ zusammen. Die an einem moralisch integren Thomas Mann interessierte Öffentlichkeit tut sich damit schwer. Zum zweiten liegt es an den zahlreichen Anspielungen auf zeitgenössische Autoren und Texte, die heute kaum noch jemand kennt und die das umfangreiche Buch schwer zugänglich machen. Zudem sei das Werk keiner herkömmlichen Gattung zuzuordnen, denn für einen Essay sei es zu lang, aber ein fiktionaler Text, also ein Roman, sei es trotz der dem Text immanenten Vielstimmigkeit auch nicht.

Wegen dieser und weiterer Probleme und Fragen, die die Betrachtungen aufwerfen, gehören sie zu den „eher ungeliebten Texten“ Thomas Manns. Dennoch, so zeigen es die elf Beiträge im vorliegenden Band, sind sie ein Schlüsselwerk, das die genaue Analyse und Kontextualisierung lohnt und für das Verständnis des Gesamtwerks Manns sogar erforderlich macht. Den Anspruch, eine Forschungslücke zu schließen, erfüllt der Band zweifellos. Zudem kann er Interessierten als Leitfaden für eine (Re-)Lektüre der Betrachtungen nützlich sein.

Thomas Mann, selbst dienstuntauglich, verstand das Verfassen der Betrachtungen, für die er die Arbeit am Zauberberg unterbrach, als „Gedankendienst an der Waffe“. Nicht „Kunstwerk“ nennt er sein Buch, sondern „Künstlerwerk“. Die bekanntesten Schlagworte, die Thomas-Mann-Kennern zu diesem Werk für gewöhnlich einfallen, sind „Kultur“ und „Zivilisation“. Mit ihnen beschäftigt sich Friedrich Vollhardt im ersten Beitrag. Die dem Begriff „Kultur“ zugeordneten Vorstellungen von Ganzheit und Gemeinschaft sind vermeintlich unvereinbar mit westlicher Aufklärung und Rationalismus. Ziel heftiger Polemik ist immer wieder der „Zivilisationsliterat“, mit dem Thomas Mann seinen Bruder Heinrich meint. Von ihm grenzt er sich als „Künstler“ ab. Dem aus seiner Sicht naiven, in der Wirkung auf den deutschen Geist zersetzenden Streiter für Demokratie und „Humanitarismus“ – Stein des Anstoßes ist vor allem Heinrich Manns Essay über Zola – setzt er sein Ideal einer „Art Ritterlichkeit“ entgegen, die aus einem „Elite-Bewusstsein“ entspringt.

Sehr aufschlussreich sind Matthias Löwes Überlegungen zu diesem auf den ersten Blick verschrobenen Ideal. Er ordnet die Betrachtungen und auch den Zauberberg in den Kontext der „Weltanschauungsliteratur“ ein, die um 1900 aus einer „Legitimationskrise der Kunst“ angesichts der „verschärften Konkurrenz“ mit den Naturwissenschaften erwachsen war. Mann argumentiere allerdings nur dem Anspruch nach wissenschaftlich, indem er pseudoempirisch einzelne Beispiele aus seiner Erfahrung verallgemeinere. Zum anderen beanspruche er, Erkenntnisse, etwa der modernen Soziologie, in seinen Werken vorweggenommen zu haben.

Die Art, wie Mann diesen Anspruch einzulösen versucht, erklärt Reinhard Mehring mit dessen „lebensphilosophische[r] Neigung, Sachfragen zu personalisieren, um sie auf ‚Erlebnisse‘ zurückzuführen“. In mehreren Beiträgen wird der Einfluss des vor allem auf Friedrich Nietzsche zurückgehenden lebensphilosophischen Diskurses auf Manns Betrachtungen dargelegt.

Einen ganzen Aufsatz widmet Michael Schwingenschlögl Thomas Manns Übernahme und Anverwandlung des elliptischen Nietzsche-Zitats „Das Leben kein Argument“ aus Die fröhliche Wissenschaft. Es ist zugleich spannend und herausfordernd, in diesem und anderen Beiträgen des Sammelbandes etwas über das mehrfach vermittelte Denken zu erfahren, das Mann schließlich zu dem Bekenntnis bringt, er sei ein Konservativer. Vertreter der sogenannten „Konservativen Revolution“, die sich bis heute auf Thomas Mann berufen, weil sie etwa dessen antiwestliche, demokratieskeptische Position in den Betrachtungen gutheißen, verfehlen den Kern dieses Denkens. Das zeigen nicht nur die beiden letzten Beiträge des Bandes von Michael Zantke und Sebastian Kaufmann, die explizit auf diese Denkrichtung referieren.

Weshalb dies so ist, kann hier nur angedeutet werden. Ein Schlüsselbegriff in Manns Gedankenwelt ist die „Ironie“, die er im letzten Kapitel der Betrachtungen dem „Radikalismus“ gegenüberstellt. Diesem Begriffspaar entspricht die Dichotomie von „Leben“ und „‚Geist“, zwischen denen aus der Sicht des Ironikers – nur er kann nach Manns Selbstverständnis auch ein „Künstler“ sein – ein erotisches Verhältnis besteht. Der „‚Zivilisationsliterat“, der sich allein dem rational ordnenden Geist verschrieben hat, kann dieses Verhältnis nur verfehlen.

Bereits in der Novelle Tonio Kröger hatte Mann dieses Problem der unglücklichen erotischen Liebe des Künstlers, der ja ein Geistesmensch bleibt, zum Leben durchgespielt. Seine perspektivische Weltwahrnehmung wird nun in den Betrachtungen auf die Politik übertragen und ist von daher nur vordergründig „unpolitisch“. Das ist die vielleicht überraschendste Einsicht, die aus der Lektüre dieses Bandes zu gewinnen ist: Mann vertritt „einen zwar verdeckten, aber rekonstruierbaren politischen Begriff des Unpolitischen“. Elena Alessiato schreibt, die Politik des Unpolitischen sei eine ‚ironische Politik‘.

Manns „doppelte Optik“ (Alessiato) ist der Politik im herkömmlichen Sinn wesensfremd. Denn der Politiker kämpft für bestimmte Interessen und Ideen und strebt letztlich danach, die Welt nach diesen Ideen zu verändern. Der unpolitische Konservative hat immer die Komplexität und Vielfalt des Lebens im Blick und verwirft die Vorstellung, die Welt sei veränderbar. Zudem ist sein Menschenbild pessimistisch. Daher erscheint Mann eine parteienübergreifende Ordnungsmacht, wie sie in der Monarchie besteht, begründbar und vernünftig. Eine solche „organizistische“ Staatsauffassung lässt sich mit der Lebensphilosophie gut vermitteln. Es spricht viel dafür – und das wird vor allem von Oliver Jahraus in seinem Beitrag erörtert –, dass Thomas Mann diese Auffassung auch nach seiner Hinwendung zur Republik, für die die 1922 gehaltene Rede Von deutscher Republik steht, nicht grundlegend geändert hat. Von der „Konservativen Revolution“ wird er allerdings seitdem als Abtrünniger gesehen.

Der Sammelband kann manches Vorurteil über die Betrachtungen eines Unpolitischen ins Wanken bringen und manches aus oberflächlicher Kenntnis hervorgehende Verdikt über dieses Werk widerlegen. Er täuscht aber auch nicht darüber hinweg, dass trotz der „Selbstdistanz“ des Verfassers, trotz doppelter Optik und Perspektivismus einige Fragwürdigkeiten bestehen bleiben.

Dazu gehören der zwar ins Geistige überhöhte, aber doch oft nationalistisch und überheblich anmutende Begriff vom Deutschtum, die Polemik gegen Frankreich sowie die positive Wertung, ja Verherrlichung des Krieges. Wenn Mann den „Feldbrief“ eines einzelnen jungen Offiziers heranzieht, um zu begründen, dass der Krieg humaner und bildungsfreundlicher sein könne als das langweilige Zivilleben, so ist das schlicht unsäglich. Das gilt vor allem dann, wenn man bedenkt, dass bereits 1916 der Roman Le Feu (1918 auf Deutsch: Das Feuer) von Henri Barbusse erschienen war, in dem die Ödnis und das Grauen des Grabenkrieges drastisch und unverhüllt geschildert werden. Eine Apologie des Verehrten, wie sie von einzelnen Thomas-Mann-Forschern angestrebt wurde, ist zumindest in diesem Punkt unangebracht. Sie wird im vorliegenden Band, der insgesamt als kritisch abwägend einzuschätzen ist, auch nicht geboten.

Titelbild

Erik Schilling (Hg.): Thomas Manns ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘ nach 100 Jahren. neue Perspektiven und Kontexte.
Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2020.
217 Seiten , 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783465016229

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