Sein Werk ist „aus der Zeit gefallen und in den Raum getreten“

Der Ausstellungskatalog „Georges Braque – Tanz der Formen“, herausgegeben von Kathrin Baumstark, Andreas Hoffmann und Brigitte Leal, wirft ein neues Licht auf den französischen Meister

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war eine der großen Partnerschaften in der Geschichte der Kunst, die Beziehung zwischen Pablo Picasso und Georges Braque. Picassos stürmische Unruhe und erstaunliche Begabung, Empfindung auf Leinwand ausdrücken zu können, verband sich mit Braques Sinn für Maß und Ordnung, Gemessenheit, Sublimierung und optische Richtigkeit. Zwar bereitete Picasso den Boden für den Kubismus vor, aber es war Braque, der am meisten dazu beitrug, die Bildersprache 1908/09 weiterzuentwickeln. Braque bewunderte Paul Cézanne, dessen Zweifel, Eigensinnigkeit, Konzentration auf die Wahrheit eines Motivs, dessen Verzicht auf malerische Beredsamkeit. Er wusste, dass all dieses sich gerade im Aufbau von Cézannes Bildern sich ausdrückte, in der Verschmelzung von aufeinandergehäuften kleinen, schrägliegenden Facetten. Deshalb wollte er herausfinden, ob man diese Festigkeit des Aufbaus und die Vieldeutigkeit der Auslegung noch weitertreiben konnte, ohne die reale Gegenüberstellung mit dem Motiv aufzugeben. Noch war Braque nicht an Abstraktionen in seinem Atelier interessiert, er glaubte, er müsse noch vor Ort malen. Dazu brauchte er vor allem Cézannes Motive, und im Sommer 1908 fuhr er nach L’Estaque in Südfrankreich, um dort zu malen, wo Cézanne gearbeitet hatte.

Zusammen mit Picasso entwickelte Braque die Methode, Gegenstände in geometrische Figuren aufzubrechen, sodass wir sie nicht immer nur von einem einzigen Gesichtspunkt aus sehen. So konnte Raum gemalt werden, als sei er physisch genauso greifbar wie die Gegenstände in ihm. Alles erstarrte in geometrischen Formen, daher der Ausdruck kubistisch.

„Sein Werk ist aus der Zeit gefallen und in den Raum getreten“, hat der Künstlerkollege Alberto Giacometti über Braque geurteilt. Die chronologische Braque-Ausstellung im Bucerius Kunst Forum Hamburg (bis 24. Januar
2021, im November coronabedingt nur digital zu sehen) hat die Arbeiten des französischen Avantgardisten in sieben Abschnitte eingeteilt: in die fauvistische Phase (1906/07), die kubistische Phase (1908–1914), die Folgen des Kubismus (1919–1925), Braques Entwürfe für Sergej Diaghilews Ballett Salade (1924), die metamorphen Werke (1931–1942), die Kriegsjahre (1939–1944), die künstlerische Vollendung Braques (1947–1963). Alle ausgestellten Werke sind – mit kurzen Kommentaren versehen – in dem Katalog wiedergegeben. Die ersten vier Bereiche stellen Braque zusammen mit Picasso, Fernand Léger und Juan Gris in einen Bezug, der mit dem Pariser Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler verbunden ist. Braque war der einzige dieser vier Künstler, der seine Laufbahn mit dem Fauvismus begann. La Petite Baie de La Ciotat (Die kleine Bucht von La Ciotat, 1907) im pointillistischen Stil schließt den Fauvismus ab und bildet den Übergang zur Gruppe der kubistischen Arbeiten. Der illusionistische Raum verflacht, die Volumen zerbrechen und zersplittern schließlich in kleine Einzelflächen, bevor sie sich im Hintergrund auflösen (Les Usines du Rio-Tinto à L’Estaque, 1910). Braque ist der Künstler des Raums und des an die Materie gekoppelten Lichts. Der Rausch der Metaphern bringt ihn zu Meisterwerken wie Femme à la guitare von 1913 (es geht zurück auf die Beschäftigung mit den papiers collés, den „Klebebildern“, einer Frühform der Collage). Jetzt ist ein Abwägen zwischen einem tadellosen Grundgitter und der Flut der Arabesken zu beobachten, die die Figur aus dem Gleichgewicht bringen.

Der analytische Kubismus kennt bereits eine entschlossene Ablösung vom Erscheinungsbild. Die körperliche Wirklichkeit wird zerlegt und zu einem Gefüge geometrischer Facetten geordnet. Durch die Kristalldecke einer geistigen Erfahrung wird das Porträt von Ambroise Vollard (1909–10), das Picasso malt, oder eben das junge Mädchen mit der Gitarre (1913), das Braque schuf, erkennbar. Eine Synthese von Natur, Geist und Geometrie entsteht, die zur Abstraktion hinleitet.

1915 erlitt Braque als französischer Soldat im Ersten Weltkrieg einen Kopfschuss und musste operiert werden. Eine lange Genesungszeit machte Arbeiten im Atelier unmöglich. Als er 1918 an seine Staffelei zurückkehren konnte, hatte er sich entschlossen, nicht noch weiter zu abstrahieren. „In der Natur gibt es einen tastbaren Raum, man kann ihn beinahe mit der Hand anfassen“, sagte er, und diesen Raum erforschte er in den Stillleben der 1920er und 1930er Jahre. Dabei entfernte sich sein Stil von der synthetischen kubistischen Unsicherheit und ging über zu ruhigen Strukturen, sich überschneidenden Ebenen und einer Durchsichtigkeit, wie sie auch in den Arbeiten von Juan Gris und Henri Laurens sichtbar wurde.

Das Bild Le Guéridon (Das Tischchen, 1921/22) enthält ganz gewöhnliche Gegenstände: eine Gitarre, Weintrauben, Papier, Flaschen, die Muster des Marmors – die üblichen Motive des Kubismus. Aber Braque hat jedem Gegenstand sein genaues, ihm eigenes Gewicht gegeben; er hat in seiner Suche nach einem klaren Gedankengewebe nichts an seiner Bedeutung zurückgestellt. Die Aufmerksamkeit des Betrachters soll sich auf das ganze Bild verteilen, und das Ergebnis ist fester und weniger hypothetisch als kubistische Kompositionen. Er mischte sogar Sand unter seine Farbe, um ihr mehr Körper und eine resistentere Oberfläche zu geben, wie auf einem Fresko. Gedanken haben sich lautlos auf den Gegenständen abgelagert. Braque hat die Bruchstücke der französischen Stillleben-Tradition gesammelt, die er, als Kubist, mit zerstören geholfen hatte, und sie neu zusammengebaut.

Neben Henri Matisse und Picasso war er der letzte große europäische Künstler, der sein eigenes Atelier als Motiv benutzte. Die Vorstellung vom Atelier als Lieblingsort für Transmutation, Erinnerung und Meditation ist der Schlüssel zu den Gemälden des älteren Braque, den Ateliers, 1949–54, mit ihrer ruhigen Transparenz und dem komplizierten Aufbau übereinander geschichteter Bildebenen, mit den ständig sich öffnenden und schließenden Räumen und den geheimnisvollen Gegenständen – Sinnbild der Phantasie, die in diesem virtuellen Raum freigesetzt werden kann.

Spannend lesen sich die Beiträge des Katalogs, die neue Aspekte in die Braque-Forschung einbringen. Brigitte Leal (Paris) würdigt die internationale Bedeutung Braques und geht vor allem auf dessen Förderung durch den Pariser Kunsthändler Kahnweiler und dessen „Mitstreiter“ in Deutschland, den Kunsthändler Alfred Flechtheim, ein, der sich für den französischen Kubismus in Deutschland einsetzte. Die Aktion „Entartete Kunst“ der Nationalsozialisten brachte einen „Aderlass“ der Moderne und damit auch der Werke von Braque in deutschen Museen. Erst 1963, knapp zwei Monate nach dem Tod des Malers, konnte in München die erste deutsche Braque-Ausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt werden. Die jetzige Ausstellung im Bucerius Kunst Forum Hamburg stützt sich vor allem auf die außerordentliche Sammlung des Centre Pompidou Paris.

Uwe Fleckner (Hamburg) beruft sich auf Kahnweilers und Carl Einsteins Einschätzungen des Werkes von Braque und kommt nach einer Analyse von dessen Landschaften, Stillleben und Atelierbildern zu dem Schluss: „Es ist, wie schon Einstein formulierte, eine ‚Grammatik erfundener Formen‘, die sein Werk zum Sprechen bringt, eine ‚variable Syntax‘, die auf ebendiesem Idiom des Kubismus gründete, eine Sprache der Formen und Farben, die der Künstler tatsächlich immer reicher ineinander verwoben hat.“

Wie weit Braque als Kubist in der Eroberung des Raumes ging, erläutert Jeanne-Bathilde Lacourt (Lille), während Liliane Meffre sich dem Zusammenschluss und Austausch von Braque, Albert Einstein und Kahnweiler im Kampf um den Kubismus widmet. Warum hat sich Braque geweigert, den Krieg zu malen, obwohl er 1915 als Soldat lebensgefährlich verletzt und hoch dekoriert wurde? Die schwarzen Grundierungen, die ein Merkmal seines Schaffens 1918/19 sind, sagt Christopher Green (London), verweisen auf das Blutbad, das er 1914/15 überlebte, auf sein Anliegen, „auf Beständigkeit ausgelegte Bilder zu malen – Gemälde, die für Kontinuität stehen und in eine gemeinsame Vergangenheit ebenso wie auf eine mögliche Zukunft blicken“.

Eigentlich ist Braques Werk bestimmt von der Erforschung des inneren Raumes. Sind da Landschaftsgemälde nur eine ephemere Erscheinung? Zwar erscheinen sie nicht zu häufig, sind dennoch in den einzelnen Phasen durchaus präsent. Pierre Wat (Paris) verweist auf die Schichten, die den Weg der Landschaft begleiten. Schon in seiner fauvistischen Periode hat sich Braque vom impressionistischen Erbe verabschiedet, geht auf Distanz zum Motiv, zieht es nun vor, „das Eintauchen in einen offenen Raum, die drohende Auflösung des Selbst ins Grenzenlose, in einem anderen Raum zu begraben“. In seinen Cahiers hat Braque notiert: „Es genügt nicht, sichtbar zu machen, was man malt. Man muss es auch zu tasten geben.“ Dieser „haptische Raum“ führte ihn zum Stillleben, ohne die Landschaft gänzlich aufzugeben. Seine späten Atelierbilder geben abgeschlossene, fensterlose Räume wieder, in denen der Bezug der Objekte untereinander und des Objekts mit dem „Dazwischen“ des Raums das Sujet bilden. Der Vogel, der seine Schwingen in den Ateliers entfaltet, wird zum Vermittler zwischen den Stillleben und den Landschaften, zwischen der Begrenztheit und Unendlichkeit des Raums. In seinem letzten Bild La Sarcleuse (Die Jätmaschine, 1961–63) hat er erst im letzten Moment dem dunklen Firmament eine weiße Wolke als Orientierungspunkt seines inneren Himmels hinzugefügt.

Maximilien Theinhardt beschäftigt sich mit dem Schicksal der Werke Braques in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und im besetzten Frankreich. Eine Biografie Braques, ein Verzeichnis der ausgestellten Werke und eine Auswahlbibliografie beschließen den so aussagestarken Band.

Titelbild

Kathrin Baumstark / Andreas Hoffmann / Brigitte Leal: Georges Braque. Tanz der Formen.
Hirmer Verlag, München 2020.
216 Seiten , 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783777435763

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