Wenn das Zuhause einer Hölle gleicht

Stephan Roiss’ Debütroman „Triceratops“ schildert das Aufwachsen eines Kindes in einer psychisch kranken Familie

Von Marisa MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marisa Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einsamkeit und Eigensinn, aber vor allem eines prägt den Protagonisten im Erstlingswerk des österreichischen Autors Stephan Roiss: Die Überforderung mit den Depressionen seiner Mutter. Ein Junge, der von sich selbst ausschließlich in Wir-Form spricht, führt in szenischen Rückblenden durch seine Erlebnisse während des Erwachsenwerdens. Der Psychiatrie-Roman steht zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020; ein unvergleichliches Erstlingswerk, das durch seine Intensität noch lange im Gedächtnis der LeserInnen nachhallt. 

Nicht nur fällt die besondere silber-glänzende Prägung des Buchbands auf, Inhalt und Sprache machen den Roman zutiefst ergreifend, obwohl sich der Text durchwegs durch seine wertfreie Schilderung der Umstände in einer Familie um 1980 und 1990 auszeichnet. Genau in diesen Aspekten schlägt sich die Überforderung des Jungens nieder, die sich permanent auf sein Verhalten auswirkt. In aller Kargheit erzählt das ‚Wir‘ von seinem Hang zur Dunkelheit, seinem Sich-Totstellen in der Scheune, dem Unverständnis in der Schule gegenüber seinen intensiven Weinausbrüchen. Drei ungleich lange Kapitel gliedern das Buch, aufgeteilt in kurze Szenen, die teils abgehackt und äußerst trocken erzählt werden. Der Text setzt sich überwiegend aus Hauptsätzen zusammen und trotzdem berührt besonders Roiss’ Sprache die LeserInnen. Die Gedanken des Protagonisten, die von banalen Beobachtungen bis hin zu verzweifelten Sorgen über seine kranke Mutter reichen, sind in dem Roman pointiert umgesetzt. Durch die Perspektive des Kindes schwingt stets ein naiver Grundton bei seinen Fragen und Schilderungen mit, die von den Erwachsenen meist unbeantwortet bleiben. Der Umgang der Eltern mit dem Protagonisten sowie untereinander ist erdrückend. 

Wir saßen auf einem zerschlissenen Fauteuil zwischen unseren Eltern und verfolgten, wie Vater alle fünf Sekunden auf einen neuen Sender umschaltete. Irgendwann begannen Mutters Lippen zu zittern, sie griff sich an die Stirn, schluchzte laut auf. Es schnürte uns die Kehle zu. Wir sind nicht alleine mit Mutter, sagten wir uns, Vater ist da. Er wird sich um sie kümmern. Vater starrte auf den Fernseher, drückte auf irgendeiner Ziffer der Fernbedienung, das Bild wurde kurz schwarz. ‚Wird schon wieder‘, sagte er.

Kein Familienmitglied ist im Stande, mit den schweren Depressionen der Mutter adäquat umzugehen. Die Distanz des bibelfesten Vaters mündet in Alkoholismus, während die Mutter Neuroleptika schluckt und regelmäßig in einer psychiatrischen Anstalt dem Zuhause fernbleibt. Ihr Äußeres ist abgemagert. In besonders schlimmen Phasen werden die Kinder zur kauzigen Großmutter geschickt – sie wird zur einzig nahbaren Person für den Protagonisten, denn sie kümmert sich einen Großteil seiner Kindheit um ihn. 

Seine ältere Schwester agiert sorgsam und unbeholfen. Doch auch an ihr gehen die Ausbrüche der Mutter nicht spurlos vorüber: „Oft schaute sie bloß, und niemand konnte sagen, wohin. In die Augen von Menschen blickte sie so gut wie nie. […] Sie geht im Haus herum wie ein Geist.“ Mehr noch als ihr Bruder kategorisiert sie die Dinge um sich herum, sie malt Teppichmuster ab, zeichnet nur geometrische Muster oder zählt unentwegt Punkte auf Sitzflächen. In fast poetisch geschriebenen und zugleich beiläufigen Erzählschnipseln wirft der Roman solch krasse Verhaltensauffälligkeiten ein.

Die Erzählstimme unterdrückt demonstrativ sämtliche Gefühle. Sie haben keinen Platz, wenn die Emotionen der kranken Mutter allen Raum einnehmen. Das Kind erhält keinen Zwischenraum, um gänzlich Kind zu sein oder seine eigenen Gefühle zu entwickeln, geschweige denn zu äußern. Die Mutter-Kind-Rollen werden ins Abstruse verkehrt, wenn der Junge seine Schlafzimmertür offen halten muss, um seine Mutter beim Weinen zu hören und sie dann unmittelbar zu trösten. „EINES TAGES BRACHEN wir ein ungeschriebenes Gesetz. Wir hörten, dass Mutter zu weinen begann. Doch diesmal gingen wir nicht hinunter. Leise schlossen wir die Tür unseres Zimmers und schalteten das Radio an.“ Umgehend reagiert die Mutter mit passiv-aggressiven Schuldzuweisungen und zieht die Aufmerksamkeit auf sich, indem sie ein Fenster einschlägt. Später in der Schule wird der als sonderbar wahrgenommene Junge gemobbt und findet keinen Anschluss. Es verwundert daher wenig, dass er vom letzten Dinosaurier, dem titelgebenden Triceratops, träumt. Er wünscht sich, so wie er zu sein; mit den drei Hörnern, um Feinde abzuwehren, und der dicken Panzerung, um unverletzlich zu werden. So flieht er regelmäßig in die Imagination solcher Saurier, malt leidenschaftlich Drachen, Monster und andere Fabelwesen.

Wir bevölkerten die Dunkelheit mit unseren Vorstellungen, malten uns geflügelte Raubkatzen und Eisriesen aus, wir sahen Leuchtfeuer, die eine große Schlacht ankündigen, eine Schlacht, in der ein stummer Hexer seine Stärke beweisen und auf einer Panzerechse in die Reihen des Feindes reiten wird, um die Welt vom Bösen zu befreien.

Mit dem Fortschreiten der Handlung merken die LeserInnen doch bald, dass die Flucht in phantastische Welten nicht ausreicht. Der Protagonist schreibt Briefe an sich selbst und kratzt sich seinen Körper blutig. Seine zurückgehaltenen Gefühle wandeln sich in aggressive Wutausbrüche, die wortwörtlich Schutt und Asche hinterlassen, wenn beispielsweise seine Großmutter stirbt oder er von seiner ersten Liebe abgewiesen wird. 

Mit Ausnahme der Schwester im Kinderhort sind alle Figuren namenlos und lediglich auf ihre Funktion oder die Familienstellung begrenzt, selbst der Protagonist bleibt eine anonyme Mehrzahl. Die unentwegt geäußerte Wir-Form liest sich zuweilen als verzweifelter Schrei nach mehr Stärke – das, was sein gesamtes Umfeld seit Kleinkindalter von dem Heranwachsenden fordert. Doch er zerbricht an seiner psychisch zerrütteten Familie und kann die Finsternis zuhause und in seinem Kopf nicht abwehren. Roiss beschreibt diesen Kampf feinfühlig und dadurch bedrückend intensiv. Gleichzeitig unterteilt der Autor die Figuren keinesfalls in Gut und Böse, sie sind weder schwarz noch weiß. 

Während im ersten Kapitel die Kindheitserlebnisse des Wir in kurzen Episoden nachgezeichnet werden, widmet sich der zweite Teil des Romans der Jugend des Protagonisten, in der er sich zunehmend dem Druck der Verantwortung gegenüber seiner Mutter entzieht. So kapselt er sich von seinem Elternhaus ab, treibt sich tagelang draußen herum und schließt sich einer Gruppe Punks an. Die Wut über das Leben teilt er mit ihnen, bleibt sich aber selbst treu, indem er nicht den Gruppenzwängen der jungen Erwachsenen folgt. Die Szenen sind deutlich länger als im vorausgehenden Kapitel und wirken sich positiv auf den Lesefluss aus. Dennoch bleiben sie Erinnerungsfragmente, die die Radikalität der Abgrenzung von Familie und Verantwortung veranschaulichen – dabei taumelt der Protagonist stets am Abgrund zur Selbstvernichtung.

Roiss kreiert einen Roman in nüchterner Sprache, der weder interpretiert noch urteilt und dabei trotzdem zutiefst berührt. Das Schicksal des Jungen in der depressiven Familie ist in vielerlei Hinsicht schwer zu ertragen. Doch es lohnt sich genau hinzusehen, um die Details in den verdichteten Textstellen wahrzunehmen sowie Anteil am Seelenleben der Figuren zu nehmen, das die LeserInnen unaufhaltsam in den düsteren Bann zieht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Stephan Roiss: Triceratops. Roman.
Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2020.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783218012294

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