Wenn sich die Puzzleteile Stück für Stück zusammensetzen

Sameena Jehanzeb interpretiert mit „Was Preema nicht weiß“ das viel thematisierte Szenario des Weltuntergangs neu

Von Rosa ZickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rosa Zick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Einfach alles um sie herum war vollkommen weiß. Das Oben, das Unten, jede Richtung, in die Preema sich wandte, bot denselben monotonen Anblick. Es schien keine Wände zu geben, keinen Anfang, kein Ende“. Preema Anand ist 36 Jahre alt, Professorin für Meeresbiologie und Dozentin an der University of Keto in Keto City, einer neu erbauten Stadt auf dem Meer vor dem italienischen Festland. Doch das alles spielt keine Rolle mehr, als sich Preema plötzlich schwebend in einem weißen Nichts wiederfindet. Nur eine Erinnerung ist ihr neben der an ihren Namen geblieben: Die Welt hatte am 13. April 2036 unter lautem Getöse und Geschrei aufgehört zu existieren. Wie konnte es dazu kommen? Ist sie die einzige Überlebende? Und wieso fehlen ihr jegliche Erinnerungen an ihr früheres Leben? Ein Rätsel, das Sameena Jehanzeb in ihrem dritten Roman Was Preema nicht weiß Stück für Stück lüftet. Jehanzeb selbst wurde 1981 in Bonn geboren, ist Grafikdesignerin und Illustratorin und zeigt in ihren bereits veröffentlichten Romanen BRÏN (2017) und Winterhof (2018) sowie in der Kurzgeschichte Runa (2019) ihre Liebe zu fantastischen Themen, Sagen und Märchen. 

Die Protagonistin ist so ahnungslos wie die Leser*innen selbst: „Was war mit der Welt geschehen? Weshalb trieb Preema in einem schwerelosen Nichts umher? Wie war es möglich, dass sie schwerelos umhertrieb? Und weshalb war sie allein?“. Völlig unvorbereitet trifft Preema auf diese Situation und auch die Leser*innen finden sich schnell mit hunderten Fragen im Kopf in dem rätselhaften Anfangsszenario wieder: „War irgendetwas hiervon real? War sie in einem Traum gefangen?“. Als Preema den Überlebenden David trifft, der sie rettet und mit zu einem paradiesischen Ort nimmt – der von den anderen Überlebenden „die Lichtung“ genannt wird – überschlagen sich die Ereignisse. Während Preema die Lichtung erkundet und zugleich überwältigt wie auch misstrauisch ist, weil diese mitten im weißen Raum schwebt und viel zu perfekt für die Realität scheint, wird sie immer wieder durch bruchstückhafte Erinnerungen in ihr früheres Leben teleportiert. Die Erinnerungen werden den Leser*innen mithilfe von Analepsen zugänglich gemacht und begleiten die Handlung. Dadurch kommt es zu einem Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen Realität und Irrealität. Die Leser*innen blicken auf Momente aus Preemas Leben: Die 5-Jährige, die von ihrer besten Freundin, ihrer „Schicksalsschwester“, getrennt wird, die 23-jährige Studentin, die ihren ersten „richtigen“ Kuss an Silvester 2023 von einer anderen Frau bekommt, und die 30-jährige Professorin, für die eine schicksalhafte Begegnung mit einer alten Freundin zu einer Liebesbeziehung führt. Während all dieser Erinnerungen, die so humorvoll und fröhlich wie auch ernst und tragisch sind, versucht Preema auf der Lichtung immer noch die Lösung des Rätsels zu finden. Durch die unvorhersehbaren Wechsel zwischen dem Heute und Damals sowie den neu entdeckten Phänomenen steigt die Spannung stetig, bis sich schließlich die Situation so sehr zuspitzt, dass Preema Zuschauerin eines weiteren Unglücks wird. Eines der vielen unerklärlichen Ereignisse, die mit den grauen Schemen – den sogenannten „Beobachtern“– zusammenhängen, die die Überlebenden immer wieder heimsuchen. 

Durch die adjektivreiche, detaillierte und emotionale Schreibweise können sich die Leser*innen in die Figuren und die Situation einfühlen und fiebern mit: „Preema hatte das Gefühl, kaltes Wasser rinne ihr mit den fremden Händen über die Haut. Finger, die jeden noch so intimen Winkel ihres Körpers – wenn auch flüchtig – schamlos erforschten. Noch nie hatte sie sich derart wehrlos, gedemütigt und entblößt gefühlt“. Der personale Erzähler, der ausschließlich an Preemas Sicht gekoppelt ist und ihre Gedanken wiedergibt, regt nicht selten die Identifikation mit ihren Gefühlen an: „Preema presste die Lippen aufeinander. ‚Das ist Science-Fiction‘, sagte sie schließlich leise und verstand plötzlich, wie sich Neo in der Matrix gefühlt haben musste. Welche Pille darf es sein, die rote oder die blaue, Preema?“. Die Anspielungen auf Science-Fiction-Filme und die intertextuellen Verweise verleihen dem Roman einen humorvollen Zug. Auch wenn die wiederkehrenden Bezüge in einigen Passagen überdeutlich eingesetzt werden, halten sie immer wieder neue Informationen bereit, über die es sich nachzudenken lohnt. 

Jehanzeb zieht ihre Protagonistin und ihre Leser*innen in ein Rätsel voller Fragen. Dabei beschäftigt sie sich nicht nur mit dem Szenario des Weltuntergangs, sondern auch mit den technischen Errungenschaften der nächsten 16 Jahre, wie zum Beispiel einer optimierten künstlichen Intelligenz und einem Sleevephone am Handgelenk mit integriertem Bildschirm und Mikro-Audioclip zum Musikhören. Diese Prognosen sind nicht allzu realitätsfern, größtenteils bereits bekannt aus Film und Literatur und damit keine Neuheit. Viel interessanter ist die Art, wie die Kritik an den Innovationen teilweise unterschwellig, teilweise offen ausgeübt wird. So wohnt der Ex-Freund in einem der teuren, neu erbauten, intelligenten Hochhäuser, „natürlich mit Blick auf den Fluss“, mit einer eingebauten Software, die „ein mitdenkendes Heim für den bestmöglichen Komfort“ verspricht. Preemas Reaktion darauf und ihre humorvolle Art bringen die Leser*innen mehr als nur einmal zum Schmunzeln: „Obwohl das ihre aktuell sehr verschwitzte Situation nicht gerade besser machte, empfand sie einen Hauch Schadenfreude darüber, dass die Klimaanalage, auch zwei Monate nach der offiziellen Inbetriebnahme des Gebäudes, nur dann funktionierte, wenn sie in der Stimmung dazu war“. Hinzu kommt die Verbindung von Tradition und Fortschritt in Bezug auf die familiäre Situation, die die Geschichte authentisch macht. Die traditionellen Elemente finden sich zum Beispiel darin, dass Preemas Eltern indischer Herkunft sind und von Preema mit „Baba“ und „Mama ji“ angesprochen werden. Gleichzeitig entsteht so eine Verbindung zur Autorin, die selbst deutsch-pakistanischer Herkunft ist. Vor allem in den Dialogen mit der Mutter wird die Verbindung von traditioneller Lebensweise und modernen Ansichten veranschaulicht. Während Mama ji nicht möchte, dass ihre Tochter Dozentin an der Universität in der schwimmenden Keto City wird, da dieser Ort unsicher und im Ausland ist, versichert sie ihr gleichzeitig, wohlwissend über Preemas Bisexualität,: „‚Weißt du, gleichgeschlechtliche Paare haben heutzutage auch keine Probleme mehr, eine Familie zu gründen.‘“ Diese Toleranz und Akzeptanz werden auch auf der Lichtung aufgegriffen, so spielen Aussehen, Herkunft und Alter keine Rolle, wie es auch von einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts erwartbar ist. Noch charmanter wäre es jedoch, wenn sich diese Sicht auch in der Schreibweise der Autorin widerspiegeln würde und Begriffe wie „Beobachter“, „Professor“ und „Studenten“ gegendert wären. Im ersten Moment scheinen auch die teilweise verwendete Umgangssprache und die Anglizismen fehl am Platz, doch gerade diese zeigen Preemas humorvollen Charakter und steigern die Authentizität der Aussagen, wenn Preema zum Beispiel anmerkt: „Hatte sie nicht stets diese Leute belächelt, die Aluhüte trugen, behaupteten, von Aliens entführt worden zu sein, oder der heilige Sankt Dingensbummens sei ihnen auf ihrem morgendlichen Toastbrot erschienen?“

Eine weitere Besonderheit des Romans liegt in den vielen Andeutungen, deren tiefere Bedeutung im Moment des Lesens nicht ersichtlich ist, aber im weiteren Verlauf der Handlung erkannt werden kann. Ähnlich wie Preema, die immer wieder in ihre Erinnerungen abdriftet, werden die Leser*innen dazu angehalten, immer wieder einige Kapitel zurückzuspringen, bis sich das Rätsel löst. Der Roman lässt sich keinem konkreten Genre zuordnen, viel eher verbindet er postapokalyptisches Szenario und Dystopie mit reiner Phantastik und der Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen. Die Lektüre hat sich gelohnt, das weiß man spätestens beim letzten Kapitel, und auch eine zweite Lektüre hält mit Sicherheit einige neue Entdeckungen bereit.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sameena Jehanzeb: Was Preema nicht weiß.
Selbstverlag Sameena Jehanzeb, Bonn 2020.
360 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783966983068

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