Nie endende Sehnsucht

Annette Mingels umkreist „Dieses entsetzliche Glück“ in 15 Geschichten

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die in Köln geborene und heute in San Francisco lebende Autorin Annette Mingels ist bekannt für genaue Beobachtungen und präzises Schreiben. In ihrem neuen Roman Dieses entsetzliche Glück hat sie ihr Können noch weiterentwickelt: In fünfzehn Geschichten oder Kapiteln erzählt sie die Leben von fünfzehn Personen, deren Verbindungsglied die Kleinstadt Hollyhock im westlichen Virginia bildet. Einige gehören zur gleichen Familie, andere sind freundschaftlich verbunden, verliebt, noch verheiratet, wieder andere verfeindet oder zerstritten.

Es sind keine besonderen Leben, von denen wir als Leser*innen erfahren, doch sie sind uns seltsam vertraut. Die Geschichten handeln von Sehnsüchten, Träumen, Wünschen, von Enttäuschungen, Geheimnissen, Vertrauensverlust. Da sind etwa Saul und Nomi, ein erfolgreiches Ärztepaar, sie Japanerin, er Amerikaner. Alles scheint in bester Ordnung bis zu jenem Tag, an dem Nomi ihrer Tochter Aiko bei einem gemeinsamen Mittagessen mitteilt, dass sie sich von ihrem Mann trennen und nach Japan zurückkehren werde. Die Nachricht trifft Aiko völlig unvorbereitet. Als sie die Mutter fragt, ob denn der Vater davon wisse, verneint diese. Sie will ihn erst informieren, wenn alles geregelt ist. In diesem Moment weiß Aiko nur, dass die Entscheidung ihrer Mutter das Ende der Familie bedeutet. Familie heiße, so ist einmal zu lesen, „dass man nicht allein ist mit seiner Angst“. Wenn dem so ist, besteht für Aiko wenig Zuversicht. Dass Nomi auch in Japan nicht wieder heimisch wird, erfahren wir einige Kapitel bzw. Geschichten weiter, als sie bereits wieder in die USA zurückgekehrt ist, nun um die Erfahrung reicher, dass sie nirgends mehr eine Heimat hat.

Diese Familie, zu der noch der Sohn Kenji gehört, bildet so etwas wie den Mittelpunkt des Romans. Kenji hat als angehender Schriftsteller einen ersten Erzählband herausgegeben, in dem er die Bewohner*innen von Hollyhock porträtiert hat. Die Reaktionen auf das Buch sind verhalten, doch Kenji lässt sich deswegen nicht vom Weiterschreiben abhalten. Das nächste Werk wird ein Roman, in dem er seine eigene Geschichte erzählt: seine Liebe zu Lucy und wie sie ihn verlässt, um ausgerechnet mit dem gemeinsamen Wohnpartner Basil zusammenzuziehen. Dass alles nicht so ist, wie Kenji vermutet, erfahren wir, wenn Basil seine Geschichte erzählt.

Das Faszinierende an diesem Roman ist, dass es Annette Mingels gelingt, die gleichen Geschichten aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen und so ein Ganzes entstehen zu lassen. Das führt dazu, dass wir als Leser*innen mehr wissen als die Porträtierten selbst. Denn eines zeichnet die meisten Protagonist*innen aus: Sie reden nicht miteinander, und schon gar nicht über Gefühle. Dieses Unausgesprochene führt zu Missverständnissen, zu Verletzungen, die oft so groß sind, dass keine Wiederannäherung mehr möglich ist. So etwa in der ersten Geschichte von Robert und Amy, einem Paar, das gemeinsam beschlossen hat, sie dürften beide mit anderen schlafen. Amy lebt diese Freiheit aus, Robert hat keine Lust dazu. Daran ändert auch die Begegnung mit Julie nichts. Robert lernt die Frau im Zug kennen, als sie keine Geldbörse dabeihat und er die Fahrkarten für sie und die beiden Kinder bezahlt. Später übernimmt er die Hotelübernachtung in Hollyhock, da Julie nicht mehr weiterfahren kann oder will. Als sie ihn spätabends nochmals zu sich ruft, spürt er zwar so etwas wie ein kleines Begehren, das jedoch bald wieder verflogen ist. Nein, dieses Fremdgehen ist nicht Roberts Sache, was aber seine Ehe wohl kaum retten dürfte.

Annette Mingels blickt hinter die Kulissen, entlarvt die kleinen und großen Lügen. In einem Interview wurde sie denn auch gefragt, warum es ihr wichtig gewesen sei, über die Geheimnisse ihrer Protagonist*innen zu schreiben. Sie antwortete:

Also das größte Geheimnis ist vielleicht das von Basil, ohne das jetzt verraten zu wollen. Ansonsten handelt es sich eher um Kleinigkeiten: dass man dem anderen gegenüber unklar ist, sich missversteht, nicht genau genug hinschaut, einander falsch deutet. Zum Beispiel Nomi, die Saul verlässt. Für sie wurde die Beziehung über Jahre hin immer weniger befriedigend, zudem vermisst sie zunehmend ihre Heimat Japan. Das ist kein Geheimnis, und trotzdem ist es etwas, was Saul nicht weiß, ganz einfach, weil er es nicht wissen will. Es sind für mich keine großen Geheimnisse, die Familien überschatten, sondern eher kleine alltägliche Situationen, in denen sich die Menschen trotz großer Nähe fremd bleiben.

Fremd bleiben sich auch Tessa und River. Sie ist die erfolgreiche Lektorin, die auch Kenjis Talent entdeckt hat und seinem Roman zum Erfolg verhilft. Er arbeitet als Lehrer an einer „Problemschule“ und zweifelt, dass er ein guter Lehrer ist. Tessa wünscht sich unbedingt ein Kind und scheut keine Mühen, schwanger zu werden. River macht mit. So wächst der Druck, unter dem beide stehen, und parallel dazu die Entfremdung.

„Es war nicht so, dass sie nicht wusste, was mit ihr geschah. Sie wollte das Kind mehr als River es wollte, und wenn er vielleicht auch nur gleichgültig tat, war es doch so, dass sie sich damit Nachteile einhandelte. Sie würde diejenige sein, die mehr für das Kind aufgeben müsste. Ihr Leben wäre es, das sich komplett ändern würde. Und auch wenn sie sich im Moment nichts Schöneres vorstellen konnte, war ihr die Gefahr doch bewusst. Nicht nur ihr Beruf, auch die Ehe mit River – und vielleicht schon ihre Kindheit, in der sie um die Anerkennung ihres schweigsamen Vaters rang – hatte immer etwas von einem Kampf gehabt: mit sich selbst, den anderen, mit all den unausgesprochenen Erwartungen, denen sie gerecht werden wollte. Sie liebte diesen Kampf, liebte es, sich durchzubeißen. Zumindest war das bisher so gewesen. In letzter Zeit jedoch merkte sie, dass sie müde wurde.“

Diese Müdigkeit durchzieht manche der Geschichten, die den Roman bilden. Die Suche nach dem Glück, das mehr sein soll als ein momentanes Gefühl, wird zu einem Kampf mit Gewinner*innen und Verlierer*innen. Und dieser Kampf macht es immer wieder unmöglich, die wirklichen Glücksmomente zu erleben. Vielleicht haben die Menschen, die wir im Roman kennenlernen, auch einfach Angst vor Enttäuschungen, Angst davor, dass Glück nichts Dauerhaftes ist, dass mit Glück oft ein Verlust verbunden ist und dass Glück schmerzhaft sein kann. Basil sagt es so, während er vor Kenjis Haus im Dunkeln steht und sich fürchtet, entdeckt zu werden: „Denn wie sollte er das erklären? Dieses entsetzliche Glück, hier zu stehen und Kenji wieder nah zu sein.“

Titelbild

Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück. Roman.
Penguin Verlag, München 2020.
347 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783328601005

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