Ausbrüche aus dem verfehlten Leben

Die neuseeländisch-britische Autorin Kirsty Gunn schildert in „Untreuen“, wie Frauen alles Vertraute und Geplante hinter sich lassen

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Laut Duden hat das Wort „Untreue“ keinen Plural. Doch als Buchtitel ist Untreuen griffiger als etwa „Varianten der Untreue“. In den Kurzgeschichten von Kirsty Gunn geht es nicht vorrangig um Ehebruch, sondern um den Wunsch, aus einem verfehlten Leben auszubrechen. Der Entschluss mag lange gereift sein  ausgelöst wird er in einem kritischen Moment. Und nicht immer vollzogen.

Ein Kreis schließt sich im Buch: Der Mann im Prolog heißt Richard, so wie in der letzten Geschichte. Die Frau ist beide Male eine Autorin, gestanden oder angehend. Richard im Prolog behauptet, niemand lese Kurzgeschichten, weil darin zu wenig passiere. Dies wird in zwölf Texten widerlegt.

Die Hauptfiguren, allesamt Frauen, treten als Ich-Erzählerin auf oder werden in der dritten Person beschrieben. Als Angehörige der weißen Mittelschicht in Neuseeland oder Großbritannien blicken die meisten von ihnen mit dem Abstand vieler Jahre auf den Augenblick zurück, der ihr Leben veränderte. Das musste geschehen, denn sie waren unzufrieden, vor allem mit den Männern. Die kommen schlecht weg in den Geschichten: Alkoholiker, Rechthaber, Schwätzer und unromantische Biedermänner. Was haben die Frauen in ihnen gesehen, als sie sich banden? Ein Mann definierte wechselseitiges Behagen als Liebe, „und sie hatte es ihm geglaubt“. Klingt merkwürdig. Eine Frau kann dem Mann glauben, dass er sie liebt. Doch ob sie ihn auch liebt, das muss sie doch selbst fühlen und wissen.

Die meisten Geschichten werden in berückender Sprachmelodie erzählt, mit poetischen Schilderungen von Landschaft und Licht (Übersetzung ins Deutsche: Uda Strätling). Die Texte entfalten ihren Reiz dort ganz, wo Überlegungen zum Handwerk des Schreibens den Erzählfluss nicht unterbrechen. Der Teil Weggehen umfasst vier Geschichten. In So könnte sie sich die Geschichte erzählen denkt Helen zwanzig Jahre zurück. Ihr alkoholkranker Mann Bobby kam aus der Kneipe. Er wollte ihr etwas erzählen, was sie selbst gesehen hatte: Auf dem Dorfplatz in Oxfordshire saß ein stiller buddhistischer Mönch im safrangelben Gewand. Es hieß, er sei dann in den Wald verschwunden. Helen suchte ihn dort. Ihn fand sie nicht, wohl aber sich selbst. Mit ihren Kindern trennte sie sich von Bobby.

Elegie ist die tieftraurige und dennoch leichtschwebende Geschichte von der Komponistin Elisabeth, die sterbenskrank aus Schottland nach London zurückkehrt. Sie hat ein Werk komponiert, vor ihr liegen Proben und die Aufführung. Jedoch keine Untersuchungen mehr, keine Operationen, kein Wiedersehen mit ihrem fürsorglichen Mann Edward. Vom Pub aus, in dem sie oft mit ihm war, blickt sie auf den weißen Magnolienbaum vor ihrer ehemaligen Wohnung und erlebt Augenblicke purer Euphorie.

Szenario wurde zum wichtigen Wort für eine Studentin. Sie war in eine Dozentin verliebt, die alles über Bedeutung und Wahrnehmung wusste. Beim Küssen in beißender Kälte auf der Westminster Bridge fragte die Ältere, ob dies ein Szenario sein könne. Das Wort drängte sich zwischen die beiden, Einladung und Abfuhr zugleich, ein Beleg für die Macht der Wörter im menschlichen Leben.

Glenhead heißt ein zum Verkauf stehendes Haus auf dem Land, eine Stunde von Edinburgh entfernt. Der Amerikaner Tim, der mit seinem Schniefen und Schnaufen allen auf die Nerven geht, will es mit Sarah besichtigen. Sie hat nach ihrer Scheidung eine Beziehung mit ihm angefangen. Das Haus ist eine Enttäuschung, die Geschichte auch. Dass die Beziehung keine Zukunft hat, weiß man nach wenigen Sätzen.

Der zweite Teil, Wegbleiben, wird durch Die Highland-Geschichten eingeleitet, vier eigenständige und doch verbundene Texte über zwei Familien. Die Icherzählerin verbrachte als Schülerin mit Mutter und Schwester die Ferien auf dem Bauernhof bei Tante Pammy. Der alkoholkranke Großvater tauchte unverhofft aus dem Nichts auf. Tante Pammys Mann, Onkel Robbie, war „am Abgrund“ gestorben. Sein Sohn Bill führte die beiden Mädchen an den Rand einer Schafweide am Meer. Brüllend jagte er ein Schaf über die Klippe. Sollen doch alle ins Meer stürzen, Schafe und Menschen, so wie sein Vater! „Ich habe ihn gesehen, und das ist nicht fair.“ Nach dem Tod von Onkel Robbie wird seine Witwe „fein“, wie Bill das nennt, trägt Lippenstift und Parfüm auf. Er fragt nicht, wohin sie abends geht, also muss die Erzählerin es ihm nicht sagen. Im Haus „spukt“ es. Der „Geist“ ist Bill, der mit seinem Dad redet und sich Geschichten ausdenkt, die er über ihn und sich erzählen wird.

Der Caravan steht ramponiert in einer Parkbucht am Strand. Elf Tage werden rückwärts erzählt. Früher war der Wohnwagen ein geliebter Ort für den Mann und die Frau. Dann ging sie ins Meer. Er erreichte sie noch und brachte sie weg.

Füchse mit ihren kleinen schlanken Gestalten sah die Icherzählerin in einer Stunde, in der alles möglich war. Von einer Freiluftaufführung brach sie früher auf, um die Party vorzubereiten, bei der Andrew die Hochzeit ankündigen wollte. Immer rissen er und seine Familie alles an sich. Die junge Frau, die ihre Schwangerschaft verschwiegen hat, verlief sich und sah die Füchse als flackernde Schatten. Da begriff sie, dass sie sich nicht verirrt hatte, sondern auf dem richtigen Weg war. Also verließ sie das Leben, in das sie beinahe eingetreten wäre.

Nicht Wiederkommen heißt der dritte Teil mit fünf Geschichten. Der Wolf auf dem Weg begegnete Anna, als sie nach zehnjähriger Eheroutine zu einem Mann fahren wollte, den sie auf einer Party getroffen hatte. In einer Kurve sah sie das Tier plötzlich vor sich. Ein gelber Blick traf sie. Sie fühlte sich befreit und kehrte zu ihrer Familie zurück.

Tangi ist das maorische Wort für Trauer, Kummer und Verlust. Die Icherzählerin erinnert sich an ihre Großmutter mütterlicherseits. Diese „Nanni“ bot ihr im Norden Neuseelands ein Zuhause, wenn die Eltern im Sommer zum Forschungsurlaub aufbrachen. „Herzensschwester“ von Nanni war die Maori Queenie. Beide Frauen redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, und gaben uraltes Wissen weiter. Das Mädchen genoss den Kontrast zur gestelzten Sprache ihrer Eltern. Erst nach Queenies Tod wurde ihr klar, dass diese die Schwester des verstorbenen Mannes ihrer Nanni war.

Die Kurzgeschichte Denkmal beginnt umständlich so: „Das würde sie zwar so nie sagen, geschweige denn daraus etwas machen, das sich lesen würde wie eine Geschichte…“ Der Mann will eine Affäre nicht aufgeben, aber die alte Freundin behalten. Zweimal steht ein Denkmal für Robert Burns auf dem Weg. Auf der Südhalbkugel lässt der Mann seine Partnerin dort nicht verweilen. Jahre später sagt sie auf den winterlichen Bergen Schottlands endlich „Nein!“

Dick heißt der Besitzer einer Autowerkstatt. Er ist der beste Kumpel des geschiedenen Vaters der Ich-Erzählerin. Der hat ihr ein Auto geschenkt. Dick repariert es zu dem Preis, den der Vater ausgehandelt hat und den sie entrichten muss. Die nur fünf Seiten lange, lakonisch erzählte Geschichte eines Missbrauchs ist ein bedrückendes Meisterstück.

Untreue im engeren Sinn kommt nicht vor im Text mit diesem Titel. Wieder ein Richard, wohl der aus dem Prolog, hier Helens Mann. Sie geht am Morgen nach der Hochzeitsnacht zum Fluss, um zu baden. Ein Fremder in Anglerkluft kommt auf sie zu. Sie möchte ihn in die Arme schließen. Er legt seine Finger um ihr Handgelenk. Sie reißt sich los, rennt weg, nichts passiert. Jahre später gelingt es Helen nicht, einen Text über dieses Erlebnis für ihren Schreibkurs zu verfassen. Spätestens hier porträtiert die Autorin nicht sich selbst.

Titelbild

Kirsty Gunn: Untreuen.
Aus dem Englischen von Uda Strätling.
Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2020.
216 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783772530210

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch