Aus der Ferne durch die Lupe
Alexa Hennig von Langes Mythenkorrektur um Johanna I. von Kastilien, „Die Wahnsinnige“
Von Nicole Karczmarzyk
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der Theorie wäre Johanna I. von Kastilien eine der mächtigsten Königinnen Europas gewesen. Denn unter ihrer Herrschaft, die 1504 begann und mit ihrem Tod 1555 endete, wurden zum ersten Mal die in einzelne Königreiche zergliederten Territorien der iberischen Halbinsel zusammengefasst. Somit war sie die erste Königin, die über das uns heute bekannte Spanien und die dazugehörigen Inseln regierte. Doch das war eben nur auf dem Papier so. Stattdessen ist das Leben von „Johanna der Wahnsinnigen“, wie sie von ihren Zeitgenoss*innen genannt wurde, eine tragische Episode in der Reihe weiblicher Adelsbiographien.
Zuerst nahm die Geschichte der Tochter von Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón einen recht üblichen Verlauf für eine Infantin der Frühen Neuzeit. Die als klug und musikalisch begabt geltende junge Frau hatte als drittes Kind wenig Aussichten auf die Krone ihrer Eltern. Sie wurde deshalb zur Stärkung der Verbindung mit dem Hause Habsburg einem Erzherzog von Österreich mit einem ähnlich blumigen Namen, nämlich Philipp dem Schönen, angetraut. So hätte ihr Leben am Hofe an der Seite ihres Mannes einigermaßen ruhig verlaufen können. Doch eine Reihe unerwarteter Todesfälle sorgte dafür, dass Johanna 1500 die alleinige Erbin der vereinigten Kronen von Kastilien, Aragon, Leon und Granada wurde. Dieser Umstand machte die zuerst eher unbedeutende Prinzessin über Nacht zum Spielball politischer Intrigen und bescherte ihr ein Lebensende in elendiger Gefangenschaft.
Ehemann, Vater sowie später der eigene Sohn wollten durch Johanna die Krone erlangen und dafür musste die auf dem Papier zur Königin ernannte Johanna schnellstmöglich davon abgehalten werden selbst zu regieren. Und hier beginnt der Teil der Geschichte, der Historiker und Historikerinnen bis in die Gegenwart entzweit: Johanna galt gegenüber ihren Zeitgenossen als exzentrisch, so dass an der ein oder anderen Stelle auch von Wahnsinn die Rede war. Zu den Vorwürfen gegen das sittsame Verhalten der Königin gehörten unter anderem übertriebene Eifersucht gegenüber ihrem Mann, Aggressionen, Melancholie, ein Waschzwang und mitunter die Verweigerung der Nahrungsaufnahme. Einige führten dies auf eine Geisteskrankheit der Großmutter zurück, andere behaupteten, es sei nur ein Narrativ gewesen um Johanna für regierungsunfähig erklären lassen zu können. In jedem Fall sorgte der ihr daraufhin gegebene Beiname „die Wahnsinnige“ dafür, dass die Königin 1509 auf Geheiß ihres Vaters im Kloster von Tordesillas interniert wurde und dort bis zu ihrem Tode verblieb.
Diese tragische Geschichte und die Frage, inwieweit die bemitleidenswerte Adelige denn nun Opfer geschickter Rufschädigung war oder tatsächlich unter einer psychischen Störung litt, ist Gegenstand des neuesten Romans von Alexa Hennig von Lange. Dabei ist sie nicht die Erste, die sich mit der Thematik beschäftigt. Die mythische Erzählung um die geisteskranke Königin ist bereits mehrfach in Literatur und darstellenden Künsten aufgenommen worden. Hennig von Lange versucht sich aber an einer Neuinterpretation, die besonders Johannas Stellung als Frau in der höfischen und politischen Landschaft in den Fokus rückt. Dazu nimmt die Autorin die Perspektive der historischen Figur ein und begleitet Johanna ganz nah als personale Erzählerin.
Der Roman beginnt ein Jahr vor Johannas Inthronisierung. Ihre Mutter, Isabella die Katholische, lässt die Tochter in der Festung La Mota in Medina del Campo festsetzen. Sie möchte, dass ihre Tochter hier zur Vernunft kommt und vor allem in Spanien bleibt. Doch die möchte zurück zu ihrem Mann und ihren Kindern nach Flandern. Nachdem sie ihrer Mutter einigen Widerstand entgegengebracht hat, entlässt Isabella die Katholische sie mit den bedeutungsschwangeren Worten: „Du wirst sehr bald erkennen, wie gefährlich die Welt für eine Thronfolgerin werden kann.“ Johanna macht sich auf den Weg zu ihrem Mann und ihren Kindern, wo sie erneut eingesperrt wird. In Brüssel ist es jedoch nicht mehr ihre Mutter, die Johanna den freien Willen nimmt, sondern ihr Mann Philipp. Dieser regiert nun weiter über Johanna, die immer wieder versucht sich gegen ihre eigene Abhängigkeit zu stemmen. Am Ende kapituliert sie und als schließlich die Nachricht über den Tod ihrer Mutter eintrifft, macht sie sich mit dem Tross ihres Mannes auf den Weg nach Kastilien, um ihm die Herrschaft zu ermöglichen. Philipp stirbt jedoch kurz bevor die Frage nach der Thronbesteigung geklärt ist und Johanna ergibt sich ihrem Schicksal als trauernde Witwe.
Am Anfang steht ein Brief der Protagonistin an ihre Tochter, in dem sie bereits den roten Faden des Romans darlegt:
Ich war die Gefangene meines Mannes. Ich war die Gefangene meines Vaters. Nun bin ich die Gefangene meines Sohnes. […] Lass sich die Welt in ihrer Verrücktheit selbst zugrunde richten. Mein Widerstand gegen ihren Wahnsinn hat mich hierhergebracht. Du kannst die Welt nicht verändern, aber dich.
Alexa Hennig von Lange versucht sich mit Die Wahnsinnige an einer Mythenkorrektur, die Johanna von Kastilien vor allem als Opfer ihrer Umstände zeigt. Dabei wird sie als innerlich starke Frau dargestellt, die sich letztlich nur ihrem Schicksal ergibt, weil sie erkennt, dass sie nichts dagegen ausrichten kann. Dabei lässt die Autorin Johanna immer wieder als Kritikerin der gesellschaftlichen Gepflogenheiten und der Misogynie in der Frühen Neuzeit auftreten. So äußert die Protagonistin zum Beispiel „Frauen haben in der Ehe keine Eigenständigkeit“ oder „ich fordere […] eine komplette Neuordnung des altbekannten Verhältnisses zwischen Mann und Frau“. Ebenso kritisiert sie das enge Korsett der adeligen Gesellschaft und den Mangel an persönlichen Freiheiten. Diese Perspektive ist aus Sicht des 21. Jahrhunderts sehr nachvollziehbar, wirkt aber auch etwas konstruiert, wenn man bedenkt, dass die Mutter der Protagonistin eine der mächtigsten Frauen der Welt war.
Nun liegt der Schluss nahe, dass Alexa Hennig von Lange hier ein sehr altes Rezept bemüht hat: Man nehme die Biographie einer historischen Frauenfigur und deute sie so, dass sie für Leser des 21. Jahrhunderts attraktiv wird. Doch damit würde man der Autorin Unrecht tun, denn Hennig von Lange hat hier eine clevere Wahl getroffen. Johanna von Kastilien bleibt auch nach der Lektüre des Buches wenig sympathisch. Ihre Wutanfälle und ihre obsessive Art lassen Johanna befremdlich auf den Leser wirken. Und genau darin liegt hier die Attraktion. Denn Johanna hat Wut – so wie beinahe jeder Wut darüber empfinden würde, dass er oder sie nicht über seinen Aufenthaltsort oder seine Religion entscheiden darf. Und diese Wut endet bei Johanna, anders als bei so manch anderer, nicht in Unterwerfung, sondern in verzweifeltem Aufbegehren.
Wie schon bei anderen Frauenbiographien, wird hier einerseits eine wichtige neue Perspektive auf bisherige historische Deutungen aufgezeigt. Nämlich die, in der Johannas Leben kaum Gelegenheit birgt, eine erfolgreiche oder respektierte Königin zu sein geschweige denn eine glückliche Frau. Doch wie so häufig bei zeitgenössischen Deutungen entsteht schnell der Eindruck, die historische Figur sei ein reines Produkt ihres Umfeldes. Im Falle der Johanna von Kastilien ist dieser Aspekt auch nicht von der Hand zu weisen. Und so arbeitet Hennig von Lange deutlich heraus, wie sehr Johanna vermutlich unter ihrer Mutter, der schillernden Regentin Isabella die Katholische, gelitten haben muss. Ebenso wird deutlich, wie viel Gewalt sie in ihrer Ehe ausgesetzt war und dennoch eine regelrechte Obsession zu ihrem Mann, Philipp dem Schönen, entwickelt hat.
Doch leider bleibt die Autorin uns die Erklärungen für die großen Fragezeichen in Johannas Biographie schuldig. Warum die Protagonistin immer wieder in ihre unglückliche Ehe zurückwollte und warum sie die Ränke um sich herum nicht richtig erkannt hat, bleibt unklar. Auch, was mit der Regentin pro forma nach dem Tod ihres Mannes genau passierte, ist nicht mehr Teil der Erzählung. Die Entwicklung der Johanna bleibt daher etwas nebulös. Es wird nicht klar, warum sie unkontrolliert ist, warum sie emphatisch aber gleichzeitig hartherzig sein kann oder warum sie sich gegen alle inneren Widerstände immer wieder ihrem Ehemann leidenschaftlich hingibt.
Hervorzuheben ist, dass sich die Autorin damit weigert die biographische Illusion, wie sie Pierre Bourdieu einst kritisierte, aufzuziehen und Johannas Leben ein in sich geschlossenes Narrativ aufzudrücken. Und dennoch kommt Hennig von Lange ihrer Figur sehr nahe und eröffnet dem Leser einen vorsichtigen Versuch einer biographischen Deutung. Sie bleibt aber trotzdem auf Abstand und legt sich nicht auf eine Interpretation der psychischen Verfassung der historischen Figur fest. Trotz allem Verständnis für sie wird auch in diesem Roman nicht ausgeschlossen, dass Johanna eine Prädisposition zur geistigen Verwirrung mit sich brachte, die sie von ihrer Großmutter geerbt haben könnte. Kindheit und Ehe könnten hier also auch als reine Auslöser für ihren geistigen Verfall gedeutet werden. Diese Schlussfolgerungen überlässt die Autorin getrost dem Leser.
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