Politik als Virus

Gedanken eines amerikanischen Germanisten aus Kentucky zu Donald Trump

Von Joseph O'NeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joseph O'Neil

„Ever since then, I have believed that God is not only a gentleman and a sport; He is a Kentuckian too.”

– William Faulkner, The Sound and the Fury

Ich wohne auf einer kleinen blauen Insel umgeben von einem roten Meer. So sieht das aus, wenn Wahlen sind, weil vor 20 Jahren die großen Fernsehsender auf der Landkarte im Studio die vom republikanischen Kandidaten Bush gewonnen Bundesstaaten rot leuchten ließen, während die, die mehrheitlich den demokratischen Kandidaten Gore gewählt hatten, blau leuchteten. (Florida war kurz blau, dann rot, dann ging die Sache zum Obersten Gerichtshof.) Auch die kleineren Einheiten – Wahlbezirke der Abgeordneten, Landkreise (counties) usw. Meine Insel heißt Lexington; das rote Meer ist Kentucky. In manchem Wahljahr sieht Kentucky eher wie ein Archipel aus, dieses Jahr gibt es nur zwei Inseln: Lexington und Louisville, die urbanen Zentren der Landkreise Fayette bzw. Jefferson. Viele Menschen in den USA sowie im Ausland verbinden den Begriff ‚Kentucky‘ mit Armut und Ignoranz, meist in Gestalt der Hinterwäldler aus den Bergen von Ost-Kentucky, die so genannten Hillbillies. Für die kosmopoliten Küstenbewohner (was gar nicht alle Küstenbewohner einschließt) sind Kentucky und das ganze Territorium der USA zwischen den Appalachen und Kalifornien einfach ‚flyover country‘, Landschaften, die man lieber aus 10.000 Meter Höhe erkundet. Daher reden die Republikaner auch gerne von den linksliberalen ‚coastal elites‘, die angeblich in einer wirklichkeitsfremden Blase leben. Aber Küste ist nicht gleich Küste. Das tiefrote South Carolina liegt schließlich auch an der Küste, die Rentner und die Exil-Kubaner in Florida neigen auch zu republikanischem Wahlverhalten. In North Carolina hat Trump aktuell noch einen großen Vorsprung, in Georgia hat Biden nur eine hauchdünne Mehrheit. Wer die ländlichen Gebiete von New York, Pennsylvania oder Maine bereist, sieht auch fast nur Trump-Wahlplakate, ein Eindruck, den die Ergebnisse der vergangenen Woche bestätigen. Die Rede vom flyover country erfasst die eigentliche Situation gar nicht.

Wie ist es also, im sogenannten Trumpland zu wohnen? Im Folgenden beziehe ich das Phänomen Trump auf meine Heimat, nicht indem ich die schönen Seiten des Lebens in Kentucky hervorzuheben oder die tatsächliche Komplexität der Situation aufzuzeigen versuche – es gibt schon genug Leute, die das machen, und zwar viel besser als ich es tun könnte – sondern durch die eher zufälligen Berührungen zwischen Kultur, Geschichte und Literatur mit dem, was man ‚Trumpismus‘ nennt. Von politikwissenschaftlicher Seite scheint es Zweifel darüber zu geben, ob es den Trumpismus überhaupt gibt. Der Politologe Torben Lütjen hat vollkommen recht, wenn er behauptet, den Trump-Wähler gebe es nicht, nur eine lose Gruppierung meist opportunistischer Konservativer mit unterschiedlichen Prioritäten. Nach Jahren einschlägiger Erfahrungen in Nashville, im ebenfalls tiefroten Tennessee, findet Lütjen den Mehrwert, worin der Trumpismus eigentlich besteht, in der Radikalisierung zweier Tendenzen, die in den letzten Jahrzehnten erstarkt sind: „die weiße Identitätspolitik und der institutionsfeindliche Populismus“. Darüber hinaus bilde bei eher wenigen Wählern eine Identifikationsdynamik den harten psychologischen Kern des Trumpismus: Was Trump passiert, passiere ihnen auch. 

Besonders neu klingt das nicht. Lütjen hat dennoch Recht, wenn er den älteren Senatoren aus Kentucky, Mitch McConnell, als eigentlichen Sieger von Trumps erster (und letzter) Amtszeit nennt: Unter Trump hat McConnell alles bekommen, was er immer gewollt hatte. McConnell ist auch ein Landsmann von mir, wir sind beide in Louisville aufgewachsen. Er sitzt seit 1985 im Senat und ist gerade wiedergewählt worden. Breonna Taylor war auch aus Louisville. Sie wurde am 13. März von einem Polizisten getötet, der wahllos durch die von einem Vorhang bedeckte Schiebetür ihrer Wohnung schoss. Ihr Freund wurde verhaftet und des versuchten Mordes angeklagt, weil er sich gegen die Angreifer, die sich nicht als Polizisten identifiziert hatten, gewehrt hatte. Breonna Taylor war eines der vielen Schwarzen Opfer von Polizeigewalt in den letzten Jahren. Ihr Tod, wie der von George Floyd, hat zu landesweiten Protesten geführt. Wenn ich meine Heimat erklären muss, muss ich auch an solche Gegensätze denken, die die ‚color line‘ deutlich markieren, die die US-amerikanische Gesellschaft immer noch trennt. Wenn die Unterschiede nicht jedem sofort in die Augen springen würden, bestünde eher soziologischer Erklärungsbedarf. 

Meine KollegInnen, die sich mit solchen Fragen konfrontiert sehen, vor allem diejenigen, die aus der Region stammen, sind viel eher in der Lage, über das Trump-Syndrom zu dozieren. Nicht mal über die gelebte Wirklichkeit kann ich vernünftig schreiben, denn ich verstehe auch nicht, was in den Köpfen der Trump-UnterstützerInnen vorgeht. Als Geisteswissenschaftler kann ich jedoch die Flucht in eine Art kreatives Schreiben ergreifen, die der Realität, vor allem der grausamen Wirklichkeit von Leben und Tod – im West End von Louisville auf dem Sofa schlafend, wie Breonna Taylor, an der Grenze nach Mexiko im Kinder-KZ, oder auf der Intensivstation – kaum Rechnung trägt. Um meine politische Verantwortung kann es also gar nicht gehen, denn die besteht immerfort, egal ob ich die Ereignisse oder die Motivationen meiner MitbürgerInnen verstehe oder nicht. Meine Reaktion als Wissenschaftler hat also nichts mit der Not des Lebens zu tun. Auch daher habe ich mir bisher ein Schreibverbot auferlegt, weil es mir nicht liegt, als weißer cis-hetero Mann aus einer Situation, in der weibliche, queere, farbige, oder migrantische KollegInnen sich bedroht fühlen oder konkret bedroht sind, berufliches Kapital schlagen zu wollen. Was ich also zu sagen habe, ist so unverbindlich wie Trumps Wortsalat selbst. Indem ich schreibe, gebe ich dem Trump-Fetischismus nach, der in ihm einen Mehrwert jenseits der Kategorien der Politik- oder Geschichtswissenschaften findet.

Der Trumpismus als Mehrwert lässt sich gut als Überschuss der Figur Trump über die herkömmlichen politischen Symptome erklären, selbst die, die sich seit der Reagan-Ära herausgebildet haben, von denen Trump eher ein grobes Abbild ist. Meine These: Der ungern scheidende Präsident Donald Trump ist wie geschaffen für Geisteswissenschaftler. Als Germanist und Komparatist denke ich bei seinen Reden an einen dadaistischen Wortsalat; bei seiner Biographie und seinem Hang zur unfreiwilligen Selbstparodie an Marx und Engels’ 18. Brumaire des Louis Bonaparte; bei seiner übertriebenen Körpersprache sowie der einiger seiner Anhänger an den ebenfalls abstinenten (und abwesenden) Endgegner der aufgeklärten Germanistik nach 1945; bei seinen blöden Regierungsaktionen und exekutiven Wutausbrüchen wie dem jetzigen, bei seinem widerwilligen Verlassen der größten Bühne der Welt an Walter Benjamins Figur des Tyrannen im deutschen Trauerspiel, bei dem der Unterschied zwischen Herrschermacht und Herrschvermögen zum eigenen Untergang führt: Der Souverän, der sich wie „der Gipfel der Kreatur, ausbrechend in der Raserei wie ein Vulkan und mit allem umliegenden Hofstaat sich selber vernichtend“ inszenierte bzw. inszeniert wurde. Trumps Eignung für eine geisteswissenschaftliche Herangehensweise ist also nicht die übliche Literatenfreude an der historischen Meistererzählung mit deren zweifelhaften Dialektik von Helden und Schurken, von Kennedy und Nixon zu Bush und Obama, sozusagen, sondern stammt quasi unvermittelt aus Trumps Selbstverständnis als Größter Präsident aller Zeiten (der GröPaZ, klingt ja schon nach ‚Patzer‘) sowie aus seinem für alle sichtbaren hektischen Agieren. 

Ja, man könnte vielleicht sagen, Trump ist oder war ein Präsident, der sich gleichzeitig ganz klassisch selbst allegorisiert und ganz postmodern zum leeren bzw. freischwebenden Signifikanten degradiert, der für alles und nichts steht, wie ‚Volk‘, ‚Amerika‘, „covfefe“. Wenn GermanistInnen und europäisch orientierte KomparatistInnen vor allem in den USA ihr Selbstverständnis sowie ihre Berufsethik vom nachträglichen Widerstand gegen das Totalitäre in jeder seiner Spielarten (sei es im wirklichen Despoten oder nur in der „Metaphysik der Präsenz“) ableiten, ist Trump zugleich Bestätigung unserer schlimmsten Befürchtungen und Verhöhnung unserer (wage ich zu behaupten) geheimen Sehnsucht nach politischer Relevanz: Der postmoderne Faschist braucht uns nicht, denn er dekonstruiert sich selbst. (Ob Trump diese Bezeichnung denn verdient, sei dahingestellt.) Seine Machtmaschine ist, wie wir das bei der Pressekonferenz im ‚Four Seasons‘-Gartencenter erlebt haben, eine selbst abmontierende. Trotzdem erlaube ich mir, einige Betrachtungen in spekulativer Richtung anzustellen, die nicht die Kontinuität der üblichen politischen Gegensätze vor und ohne Trump zeigen sollen, sondern auf die tiefen Wurzeln des Trumpismus selbst in den bekannten Formen der amerikanischen Kultur deuten wollen – freilich in einer etwas überspitzten Form. Wenn ich im Titel meines Aufsatzes die Wörter ‚Trump‘ und ‚Virus‘ aufeinander beziehe, will ich nicht damit sagen, dass Sars-Cov-2 und Trump in irgendeiner kausalen Beziehung zueinander stehen (wie Trump etwa vom „Wuhan-Virus“, „China-Virus“, oder „kung flu“ spricht), sondern dass die Viralität nicht nur zeitgeschichtlich mit dem Ende seiner Amtszeit oder kausal mit der Wahl seines Gegners zum 46. Präsidenten der USA zu tun hat, sondern auch nach einer gewissen Logik am Ende einer Kette symbolischer Operationen steht, die über Identifikation, Empathie und symbolischer Viralität endlich an den Körper stößt als Ort, an dem die Macht der Sprache aufhört. Man kann das freilich mit Begriffen wie Performativität, Materialität usw. erklären; ich ziehe es aber vor, diesen Gedankengang anhand von Beispielen aus meiner Heimat und ein paar literarischen Referenzen zu veranschaulichen.

1. Die Nachbarn

Trump ist ein ziemlich erfolgloser Immobilienentwickler. Selbst mit Spielbanken verliert er Geld. Seinen ausschweifenden Lebensstil hat er auf Pump finanziert: nur durch Kredite der Deutschen Bank sowie seine ‚schauspielerische‘ Tätigkeit in der eigenen Reality Show hat er sich über Wasser halten können. Die Show war eine Fantasie, in der Unterhaltung als Arbeit präsentiert wurde. Möchtegern-Manager wurden von Trump befördert oder gefeuert: „You’re fired!“ Golfen tut er auch viel mehr als jeder Präsident vor ihm, und die Stunden, die er vor dem Fernseher verbringt, schreibt er als „executive time“ ab. Bei meinen Nachbarn, die eher einfache Leute sind, glaube ich die Reproduktion dieser Logik gefunden zu haben. Statt sich auf das übliche Wahlkampf-Plakat auf dem Rasen zu beschränken, hat die Familie eine große Trump-Flagge vor der Haustür aufgehängt. Neben der Haustür hängt auch ein Kruzifix in den Farben der US-Fahne. Diese Nachbarn leben zwar in einiger Hinsicht bescheiden: sie haben ein ziemlich kleines Haus, wie meines in den 60er Jahren gebaut, in einem ehemaligen Vorort, um den herum und über den hinaus die Stadt rapide gewachsen ist. Wie bei allen Häusern in dem Viertel ist vor dem Haus ein gepflegter mittelgroßer Rasen (zugegeben: meiner ist nicht so gepflegt) und hinter dem Haus ein genauso gepflegter, quadratischer Garten. Eher eine einfache Lebensart, weder luxuriös noch materiell bedürftig. Man ist weder im Armenviertel noch in irgendeinem Tal (‚holler‘) der Appalachen. Man ist auch nicht draußen auf dem Land, weder bei den verarmten Bauern, die dank Trumps Verbot von Agrarexporten nach China heute mehr denn je am Tropf staatlicher Zuschüsse hängen, noch bei den reichen Pferdezüchtern, deren Gestüte die sanfte Hügellandschaft in der Mitte von Kentucky prägen. Meine Nachbarn sind, soweit ich weiß, auch keine glühenden Fanatiker, sondern ganz normale konservative Bewohner einer mittelgroßen Stadt, wie man sie überall in den Südstaaten und im Mittleren Westen findet. Warum man sich hier nach einem starken Führungstyp sehnt, erschließt sich der oberflächlichen Betrachtung nicht. Dafür braucht man schon ein bisschen kreative Theorie.

Worin unterscheiden sich diese Trump-Wähler, die in meiner Straße wohnen, von anderen, und was hat das mit dem Trumpismus zu tun? Man sieht es vielleicht am ansehnlichen Fuhrpark, den die Fahrzeuge aller Art, die vor dem kleinen Haus stehen, ausmachen. Für den vollmotorisierten Wassersport ein großes Boot und ein Jet-Ski. Ein Wohnmobil, so groß wie das halbe Haus. Ein großer Pickup, mit dem man besagtes Boot an den See schleppen kann. Man hat also etwas, das man gegen den Mob verteidigen muss. Das Gefühl, die beneiden mich um die schönen Sachen, die ich mir leisten kann, die sind hinter mir her, die wollen etwas, das ihnen nicht zusteht, die machen hier alles kaputt, ist es vielleicht, was diese Leute antreibt. Das ist aber reine Spekulation. Kurios ist dabei, dass all die Sachen, die draußen in der breiten Einfahrt vor der kleinen Ein-Auto-Garage stehen, schnell an Wert verlieren. Es geht also nicht um die protestantische Ethik der Sparsamkeit oder darum, sein Geld in Wertsachen (wie in den USA vor 2008: im Eigenheim) anzulegen, sondern darum, die Konsumkraft und Freizeitaktivitäten zur Schau zu stellen. Von solchen Betrachtungen ist es nur ein kleiner Schritt zur klassischen Sozialtheorie von Veblen (Theory of the Leisure Class, 1899; zu deutsch Theorie der feinen Leute – aber es sind in diesem Fall keine besonders feinen Leute) oder Adorno. Wenn Adorno 1969 auch mit spezifischem Bezug auf kostspielige Aktivitäten wie „Kampieren“ im Wohnwagen usf., sagt, die Freizeit sei die Funktionalisierung des Freiheitsbedürfnisses, denkt er wohl an die aufwändige Urlaubsplanung in Gesellschaften, wo Arbeiter längere Urlaubszeiten haben. Dagegen ist das Verhalten der Amerikaner noch zwanghafter: Am langen Wochenende schnell an den See fahren, ein paar Tage angeln, mit dem Wohnmobil verschwendet man ja keine Zeit beim Zeltaufbauen. 

Wenn man diesen interpretativen Schritt wagen möchte, erschließen sich andere Sinnwelten. Dass Trumps Unterstützer das Großartige an den USA in Termini von Industriearbeit verstehen, mag in diesem Zusammenhang nicht überraschen, denn nach Adorno ist diese Art von Freiheit nur die Reproduktion des Arbeitsprozesses. Das falsche Bewusstsein, das im Namen der ArbeiterInnen die Fabrikation zurück aus China oder Mexiko in die USA holen will, ignoriert die Fortschritte der Automation, die auch die in den USA verbliebenen Arbeitsplätze vernichtet – typischerweise wenige Monate nach einer Werksbesichtigung von Trump, wie bei den Carrier-Werken in Indiana. Ein fortschrittlich Gesinnter würde vielleicht sagen, dass die Gesellschaft angesichts der Automation die Arbeit neu denken müsste – so macht man das in den nordeuropäischen Ländern durch die Diskussionen zur Kürzung der Arbeitszeiten oder zum bedingungslosen Grundeinkommen. 

In den USA ist das freilich anders. Egal ob man Arbeit hat oder nicht, ist es nicht ehrenhaft, sich von der Idee des ständigen Arbeitens loszusagen. Man könnte also im Geiste des Frankfurter Instituts für Sozialforschung behaupten, dass das Zurschaustellen der teuren Freizeitfahrzeuge objektiv eine Art Nostalgie für die veraltete Form des Arbeitsprozesses darstellt, deren Reproduktion sich von der Realität der Arbeit, die er früher reproduzieren sollte, abgekoppelt hat. Trump verspricht also nicht nur, dass man wieder ordentlich arbeiten gehen kann, wie es unsere Väter und Großväter gemacht haben (in Trumps Welt gehen nur Männer arbeiten), sondern dass das Reproduktionsverhältnis zwischen Arbeit und Freizeit wiederhergestellt wird: Kampieren im Wohnmobil ohne schlechtes Gewissen. Dass Freizeit zur letzten Bastion des Selbstbewusstseins einer gewissen Arbeiterklasse (die Arbeiterklasse gibt es in den USA genauso wenig, wie es den Trump-Wähler gibt) geworden ist, zeugt vom Versagen der politischen Logik, in der die ‚soziale Frage‘ als bedürfnisorientierte Versorgungsmentalität dominiert. Wie im folgenden Teil angedeutet wird, ist das Verständnis der ‚abgehängten‘ weißen Arbeiterschaft von einer anderen Logik geprägt: von der der exemplarischen Repräsentation, die kontrafaktische Auswirkungen hat.

2. Die Kohlekumpel

Wieso kann man anscheinend nicht aufhören, über Trump zu reden und zu schreiben? Für ein Literaturmagazin wie dieses mag der jüngst erschienene Band von Carlos Lozada, dem Sachbuchkritiker der Washington Post und Pulitzer-Preisträger für Kritik, diese Faszination am besten zusammenfassen. Lozadas Mega-Rezension in Buchform heißt What Were We Thinking: A Brief Intellectual History of the Trump Era; sie bietet zusammenfassende und vergleichende Besprechungen von über 150 Büchern, die seit 2015 über Trump und die Trump-Ära veröffentlicht wurden. Die Bände, die er kritisch kommentiert, erfassen ziemlich alle Aspekte des Trump-Phänomens, von der Figur des angeblichen Trump-Stammwählers über die Black-Lives-Matter Bewegung bis hin zu einer Typologie der Haltungen bei Mitgliedern des konservativen Establishments. (Es gibt übrigens drei Typen: der Never-Trumper, der es schon immer besser wusste; der Enttäuschte, der dachte, Trump würde sich irgendwann stabilisieren und präsidial agieren, und der Loyalist, der an den Problemen vorbeisieht, um eine positive Bilanz ziehen zu können.) Lozadas Ziel ist es dabei nicht, eigene Thesen zu verfechten, sondern von allen AutorInnen Kohärenz und Konsequenz zu verlangen. Als Kritiker hat er die Gabe, die Bestsellerliste zur Trump-Ära geschickt auseinanderzunehmen. Seine Art zu schreiben ist gar nicht vehement oder parteiisch: Er nimmt das Selbstbild der AutorInnen sogar ein bisschen zu ernst. Immerhin unterstreicht er die mangelnde Sorgfalt, mit der einige Titel – zum Beispiel Hillbilly Elegy von J.D. Vance – von der Kritik behandelt wurden. 

Die Reaktionen, die Vances Buch, das auch in Deutschland zum Bestseller wurde, hervorgerufen hat, sind vielleicht interessanter als das Buch selbst. Vances Bild von den BewohnerInnen der Appalachen, die eigenen Verwandten mit eingeschlossen, ist stark negativ: ignorant, kulturell benachteiligt, ungesund, wirtschaftlich abgehängt, und – für den republikanischen Finanzmanager, der Vance trotz seines familiären Hintergrunds geworden ist – ohne den Willen, sich selbst an den Stiefelriemen zu fassen und in den Wohlstand zu ziehen. Von SozialwissenschaftlerInnen, die sich mit den Appalachen befassen und die auch aus der Region stammen, wurde Vances Buch nicht nur wegen seiner politischen Tendenz kritisiert, sondern auch, weil die Region an sich kein einheitliches Bild derjenigen Menschen liefert, die Trump angeblich aus wirtschaftlicher Verzweiflung und Ignoranz gewählt haben. Die Region ist in der Tat politisch und gesellschaftlich tief gespalten; zum Beispiel zwischen denen, die noch an der Kohleförderung hängen – nicht nur als Arbeit, sondern auch als Mentalität – und denen, die nach einem wirtschaftlich und ökologisch vertretbarem Ausweg suchen. Dass Vance die Armut bei Weißen in ländlichen Gebieten als pathologischen Zustand behandelt – genau wie Politiker die Armut von Schwarzen in den Großstädten behandelt haben –, sollte man auch nicht zu seinen Gunsten auslegen.

Dass es Vance um viel mehr als nur Kindheitserinnerungen oder eine einseitig-persönliche Abrechnung mit der eigenen Herkunft geht, mag durch sein Bekenntnis zum Nationalismus im Zusammenhang mit seinen ausdrücklichen Sorgen um die sinkende Geburtsrate – ein Gemeinplatz des ‚weißen Nationalismus‘ – einleuchten. Davon ist das Gerede von ‚Bevölkerungsaustausch‘ nicht weit entfernt. Die Faszination solcherart einseitiger Studien kann man vielleicht daraus herleiten, dass ein in den USA, vor allem im Osten von Kentucky, West Virginia, und entlang dem Bergrücken der Appalachen ziemlich weit verbreiteter Menschenschlag, die sogenannten Scots-Irish, plötzlich zum exotischen Anderen wurden. Der mediale Mechanismus, durch den dieses Völkchen so interessant wird, hat aber nicht in erster Reihe mit deren politischer Funktion als eine Art symbolischer Stellvertreter für arme weiße Amerikaner zu tun, sondern mit spezifischen historischen Prozessen und einer problematischen Beziehung zur Vergangenheit. 

Die Logik der Repräsentation, die auch auf Trump fixiert ist, verwendet statt Klassen oder anderer statistischer Größen einzelne Exemplare einer Klasse, die das Wesen einer ganzen Gruppe darstellen sollen. Selbst die Berichterstattung in respektablen deutschen Medien, die in der Regel sehr umsichtig und gewissenhaft ist, unterliegt manchmal der Versuchung, einen Trump-Wähler zum Modell für alle zu machen. So notwendig die knappe Darstellung komplexer Sachverhalte für gutes journalistisches Schreiben sein mag, erfolgt das metonymische Manöver, den Teil für das Ganze oder das Einzelexemplar für die Gattung zu nehmen, unterschwellig und wohl auch unbewusst, wie der Beitrag von Guido Mingels im Spiegel (44/2020) zeigt. Mingels war auch in Kentucky unterwegs, allerdings im Westen von Kentucky, der noch konservativer ist als der Osten von Kentucky. (Ich habe das große Glück, in der Mitte zu wohnen.) Obwohl er auch mit Vertretern von Politik und Wirtschaft sprach, die allesamt die Suche nach neuen Formen der Arbeit in einer veränderten Wirtschaft betonten, macht Mingels einen ehemaligen Bergarbeiter, der heute als Lkw-Fahrer arbeitet, zum Emblem der Trump-Unterstützer in Kentucky. Im Nebentitel des Artikels erscheint dieser einzige Ex-Kohlekumpel sogar im Plural: „Kohlekumpel in Kentucky stehen zu Trump.“ In einer Art Zwischentitel kommt der Plural nochmal vor: „Die entlassenen Kumpel in Kentucky hängen trotzdem an ihm [d.h. Trump]“. Wer sich nicht die Mühe gibt, die Schlagzeilen am Inhalt des Beitrags zu prüfen, hat den Eindruck, dass eine ganze Klasse zu Trump steht. Das mag im Allgemeinen stimmen: Ich weiß es nicht. Aus dem Interview mit diesem einen Typen bin ich auch nicht klug geworden, denn der Mann ist immer noch beschäftigt – nicht ‚abgehängt‘ –, vermisst aber die Arbeit unter Tage. (Im Westen von Kentucky ist die Kohleförderung auch stark von dem Tagebau geprägt, der leichter zu automatisieren ist.) Bei ihm geht es also auch um die Nostalgie der für sein Lebensgefühl richtigen Art von Arbeit, wie sie schon sein Vater machte. Eine gut konservative Einstellung ist das schon, nicht aber das Verlangen einer mythischen, abgehängten ‚white working class‘ (die Kohlekumpel) nach Vollbeschäftigung. 

Wenn Konservative charakteristischerweise vergangene Zeiten und Verhältnisse zurücksehnen, hat die Kohlekumpel-Nostalgie sehr wenig mit solchen Zeiten zu tun. Das Kohlekraftwerk Paradise, dessen Schließung auch die des Bergwerks veranlasste, in dem Mingels’ Interviewpartner gearbeitet hatte, wurde erst 1959 gebaut, und zwar von der Tennessee Valley Authority, einer Riesenbehörde, die von Franklin D. Roosevelt im Zuge des New Deal gegründet wurde. Die Ausweitung des Tagebaus in der Gegend um das Dorf Paradise, um das Kraftwerk zu versorgen, sowie die Sorge um die Gesundheit der Einwohner bei hohen Schadstoffemissionen führten 1967 zum Abbau des ganzen Dorfs. Auf dem Gelände, auf dem das Dorf Paradise gestanden hatte, wurde das Kraftwerk Paradise Unit 3 gebaut, das den damals größten Zyklonkessel der Welt hatte und damit auch das nach Stromerzeugungskapazität gemessen größte Kohlekraftwerk. Das Kraftwerk, das in der Spiegel-Reportage die Sehnsucht nach älteren, einfacheren Arbeitsverhältnissen veranlasst, war also auch seinerzeit eine Neuheit, die die Lebensart früherer Generationen vernichtet hat. Zudem war seine Konstruktion die Spätfolge eines groß angelegten staatlichen Eingriffs in die Wirtschaft, wie ihn Republikaner normalerweise nicht befürworten.

In meinem Fach ist die Geschichte von Philemon und Baucis in Goethes Faust (2. Teil) das klassische Beispiel der Umgestaltung natürlicher Landschaften sowie der Zerstörung menschlichen Wohnraums durch technische Mittel: Faust befiehlt Mephistopheles, das alte Ehepaar und deren Hütte „zur Seite zu schaffen“, um das letzte Stück seines Plans zur Landgewinnung zu realisieren. Viele amerikanische Nicht-Germanisten kennen die Geschichte von Paradise direkt und unallegorisch durch das gleichnamige Lied des vor kurzer Zeit an Covid gestorbenen Liedermachers John Prine:

And daddy won‘t you take me back to Muhlenberg County
Down by the Green River, where Paradise lay?
Well, I‘m sorry my son, but you‘re too late in asking,
Mister Peabody’s coal train has hauled it away.

Die Kohlekumpel unterliegen also auch dem wirtschaftlichen Wandel, der das Dorf Paradise mit dem Kraftwerk Paradise ersetzte. Das weiß man wohl auch im Ruhrpott wie in der Lausitz. Nicht erst seit dem Wahljahr 2016 nimmt man in der amerikanischen Berichterstattung aber gerne auch einzelne Arbeiter oder Handwerker (manchmal sind es Fake-Handwerker wie „Joe the Plumber“) als Exemplare der Sensibilität des einfachen Mannes. Die Industrie, die man einst mit dem Wachstum der Mittelschicht wie auch mit der sozialen Absicherung durch den New Deal, also mit dem Bestreben nach gleichen Zukunftschancen und dem Ende der Armut, verband, wird jetzt zum abstrusen Gegenbild der Idee des Sozialstaates. 

Fast immer geschieht dies durch eine Exemplarität, die einige der von Carlos Lozada besprochenen Bücher ad absurdum führen. Wenn man bedenkt, dass die Zahl der Beschäftigten in der Kohleförderug in den gesamten USA vom 3. Quartal 2016 bis 2019 bei zirka 60.000 – 65.000 konstant geblieben war und 2019/20 auf etwa 53.000 reduziert wurde (und damit den bisher niedrigsten Stand vom 2. Quartal 2016, vor Trumps Wahl, fast erreicht hat), wird es für Irritation sorgen, dass es in einer Bevölkerung von über 320.000.000 Menschen gerade die wenigen Bergarbeiter sind, die als Stellvertreter der Arbeiterklasse immer wieder auftauchen. 

Carlos Lozada bemerkt, dass es nicht nur Vertreter einer kleinen Gruppe sind, die das Privileg der Repräsentation innehaben: Es ist in drei der Bücher, die er bespricht, eine und dieselbe Person, Ed Harry, ein lebenslanger Demokrat, Vietnam-Veteran und Gewerkschafter aus Pennsylvania, der 2016 zum ersten Mal sein Kreuz neben den Republikaner Trump macht, der den gemeinen (weißen) Mann der Arbeiterklasse vertritt. In zwei 2018 in kurzem Abstand veröffentlichten Studien zu dem Trump-Wähler (Zito and Todd, The Great Revolt, und Ben Bradlee Jr., The Forgotten)erscheint Ed Harry als exemplarischer Trump-Konvertit, im ersten Fall als Paradigma des kleinen Mannes, der dem Staat sowie der Wirtschaft misstraut; im zweiten Fall als Anhänger diverser Verschwörungstheorien, die Soros, Obama, und Migranten miteinander verbinden. Man weiß also gar nicht so genau, was diesen Ed Harry antreibt. Er ist aber so nützlich, dass er dann wieder 2019 in einer dritten Studie auftaucht. Woran erkennt man Ed Harry jedes Mal als Salz der Erde und glaubwürdigen Vertreter der Arbeiterschaft, egal, wie er eigentlich denkt? Sein Vater sowie sein Großvater waren – was sonst? – Kohlekumpel.

Welche Funktion hat der Kohlekumpel eigentlich? Soziologen negieren nicht, dass ungebildete weiße Männer in der heutigen, sich schnell verändernden Wirtschaft das Nachsehen haben. Dass man gerade die Weißen zum Gegenstand der soziologischen wie der politischen Einfühlung auswählt, ist bei kritischen Betrachtern nicht unbemerkt geblieben. Dass Trump für den Kohlekumpel steht, ist aber nicht deshalb wichtig, weil er etwa eine starke väterliche Instanz, einen Beschützer, einen Retter darstellt – der Rolle entsprach eher die Kandidatur von Bernie Sanders. Stattdessen verläuft über die Gestalt des missverstandenen Kohlekumpels (für den ausgerechnet die vermeintlich linksliberalen „Mainstream-Medien“ so viel Verständnis haben) die Identifikation mit Trump als Opfer. Unter dieser Annahme stellt Fritz Breithaupt (Die dunklen Seiten der Empathie, 2017) ein Modell der Empathie auf, wonach Trumps ständige Angriffslust den Betrachter auffordere, Partei zu ergreifen. Der harte Kern seiner Anhängerschaft wolle nicht von ihm beschützt werden, sondern seine Fans möchten ihn vor den Angriffen anderer, der Medien, der „Linken“ usf. schützen. Nicht die Identifikation durch Einfühlung, sondern der Zwang zur Parteinahme erzeuge eine starke emotionale Bindung, die allen Argumenten sowie allen Fakten trotze. (Die Übersetzung von Breithaupts Studie ins Englische erschien 2019 und enthält daher mehr zum Phänomen Trump.) Breithaupt zufolge ist Trump ein „Meister der Empathie“, weil er weiß, die Lage zu polarisieren. Wenn Trump Opfer sein kann, dann kann jeder Opfer sein. Je mehr negative Aufmerksamkeit Trump auf sich zieht, desto sympathischer wirkt er bei seiner Basis. Die „dunklen Seiten der Empathie“, wo einer wie Trump gedeihen kann, erklären vielleicht auch, warum meine Nachbarn gerade ein Sternenbanner-Kruzifix neben der Trump-Flagge hängen haben.

3. Das Virus

“NAKED Lunch—a frozen moment when everyone sees what is on the end of every fork.“

 – William S. Burroughs, “Deposition: A Testimony Concerning a Sickness” (Naked Lunch xxxvii)

Am nördlichen Rand von Lexington steht ein imposantes Gebäude, das aus einem Art-Deco-Turm und zwei enormen Seitenflügeln besteht. Meilenweit sichtbar auf einem Hügel gebaut, ist es kein Luxus-Hotel mit schöner Aussicht, sondern eine föderale Justizvollzugsanstalt. Das heutige Federal Medical Center hieß bei seiner Gründung 1935 bis 1944 ‚United States Narcotics Farm‘ und diente auch nach 1944, unter der Bezeichnung ‚U.S. Public Health Service Hospital‘ (1944 – 1967) und dann als klinisches Forschungszentrum der National Institutes of Mental Health (1967 – 1974), der Erforschung und Behandlung der Drogensucht, vor allem der Opiaten- und Opioidensucht. Vor seiner Umfunktionierung in eine reine Strafanstalt 1974 nahm dieser ‚Tempel der Rehabilitation‘ viele freiwillige Insassen zur Behandlung auf. Im „Narco“, wie die Anstalt im Volksmund hieß, wurden in den 1940er und 50er Jahren auch bekannte Künstler behandelt, unter anderen die Jazz-Musiker Sonny Rollins und Chet Baker, der Schauspieler Peter Lorre, und der Schriftsteller und Pate der Beat-Generation William S. Burroughs Jr. Im Roman Naked Lunch zeichnet Burroughs eine gruselige, schockierende Phantasmagorie der 50er Jahre. Das Buch wimmelt von Süchtigen, Dieben, Strichjungen, skrupellosen Ärzten im Dienste multinationaler Firmen und Südstaaten-Sheriff-Typen (verkörpert vom County Clerk), die es aus auf Schwarze und Juden abgesehen haben. Man erlebt die Welt als Kaleidoskop stetig wechselnder Schauplätze einer Sucht, die allen innewohnt, eine Sucht, die Burroughs auch metaphorisch „das Virus“ nennt. Ein Pandemie-Szenario also, passend zu unserer Aktualität, aber ein Szenario, in dem das Virus für alle möglichen Arten von Übertragung, Kontrolle, Manipulation und Verwandlung steht. An anderer Stelle, im Roman The Ticket That Exploded, behauptet Burroughs, Sprache selbst sei ein Virus. 

Was hat der Dichterjunkie hier bei den Trumpisten verloren? Seine Fünfziger Jahre sind nicht die amerikanische Idylle, wohin viele meiner (vor allem weißen) Landsleute einer älteren Generation sich zurücksehnen, wo alles an seinem Platz war, die Wirtschaft boomte (mit starken Gewerkschaften und einem Höchststeuersatz von 90 Prozent, das vergisst man leicht) und man nicht ständig mit irgendwelchen unzufriedenen Randgruppen – aufbegehrenden Schwarzen, Hippies, Kriegsgegnern – konfrontiert war. Wenn Burroughs dieses gesegnete Jahrzehnt beschreibt, wie Baudelaire oder Rimbaud es beschrieben hätten, wenn sie mit der Kybernetik, Neurologie und Mikrobiologie vertraut und abwechselnd von vielen verschiedenen Substanzen abhängig gewesen wären, ist das nicht die bloß ästhetisierende Faszination der Dekadenz, sondern die verzweifelte Suche nach dem Kern der Irrationalität, die die Menschen antreibt – die dunklen Seiten des goldenen Zeitalters. Burroughs beschreibt diese Welt als Geflecht von „Suchtpyramiden“, die alle „nach den Prinzipien des Monopols aufgebaut sind”: 

1. Niemals etwas für nichts verschenken.

2. Nie mehr geben, als Du geben musst. (Den Käufer immer im Zustand der Not erwischen, ihn immer warten lassen.)

3. Immer alles zurücknehmen, wenn das möglich ist.

‚Pyramid scheme‘ heißt auf Deutsch ‚Schneeballsystem‘. Man wird erst Ende Januar 2021, nach Trumps Abgang aus Washington und dem gleichzeitigen Verlust der Immunität, herausfinden, inwiefern das undurchsichtige Geflecht von über 500 Firmen, die die Trump Organization ausmachen, auch eine Art Schneeballsystem ist. Die Trump University zum Beispiel, eigentlich gar keine Universität, sondern eine Art Ausbildungseinrichtung für das Immobiliengeschäft und ‚wealth creation‘, wurde 2016 infolge einer Zivilklage aufgelöst. Entgegen allen früheren Behauptungen seinerseits war der neu gewählte Präsident plötzlich mit einer außergerichtlichen Einigung einverstanden, nach der er 25 Millionen Dollar zahlen musste. Dass er bis zum Wahltag 2020 auf hinterlistige Art und Weise von kleinen Wahlkampfspendern statt einer einmaligen Spende eine Art Wahlkampf-Abo bekommen hat zeugt wieder von der Natur dieser Pyramide: die kleinen Leute zahlen die Unkosten, die die feinen Leute verursachen. „Niemals etwas für nichts verschenken“.

Was das mit den 50er Jahren zu tun hat? In der Tat stammt Donald Trumps Vermögen nicht von seinen eigenen Anstrengungen in den 70ern oder 80ern, sondern von dem Geld, das die Immobilien seines Vaters, Fred Trump, in den 50ern und 60ern abwarfen. Fred Trump war seinerzeit schon eine zweitklassige Berühmtheit in New York: Chef eines Immobilienbau- und -verwaltungsunternehmens, das Wohnungsbau im großen Stil – auch den Bau von Sozialwohnungen mit öffentlichen Geldern – betrieb. Steuerzahlen vermied er fleißig, auch indem er seine minderjährigen Kinder in seine Geschäfte verwickelte. „Nie mehr geben, als Du geben musst.“

Fred Trump war auch Besitzer des Brooklyner Wohnkomplexes Beach Haven, wo der linke Folksänger Woody Guthrie („This Land is Your Land“) 1950 bis 1952 wohnte. Auf Guthries Gitarre stand der Schriftzug „This Machine Kills Fascists“. In seinem Lied „Old Man Trump“ klagt Guthrie den älteren Trump wegen Diskriminierung an: „I suppose / Old Man Trump knows / Just how much / Racial hate / He stirred up / In the bloodpot of human hearts / When he drawed [sic] / That color line“. Donald Trumps Vermögen kommt von solchen Praktiken: Wie ein Untersuchungsbericht der New York Times gezeigt hat, hatte der jüngere Trump trotz erheblicher Verluste in praktisch allen seiner eigenen Unternehmen in der Person seines Vaters eine zuverlässige und unversiegbare Geldquelle, die schon zu fließen begann, als Donald Trump nur drei Jahre alt war. 

Donald Trumps Lehrjahre fanden auch unter der Obhut einer schillernden Figur der 50er Jahre statt. Trumps politischer Ziehvater und zeitweiliger Rechtsbeistand in den 70ern war Roy Cohn, der seine Reputation als rücksichtsloser ‚Fixer‘ der antikommunistischen Hysterie der 50er Jahre verdankte. Als junger Berater des fanatischen antikommunistischen Senatoren Joseph McCarthy war Cohn quasi Mitankläger der zahlreichen Personen und Behörden, die McCarthy der Unterwanderung durch sowjetische Agenten verdächtigte. Von Cohn hat Trump nicht nur seine paranoide Art von Patriotismus, sondern auch seine Vorliebe zum Selbstwiderspruch. Trump lästert gerne gegen Korruption („den Sumpf austrocknen“), während er den Staat zu seinem persönlichen Geldautomaten macht. Cohns Attacken richteten sich nicht nur gegen angebliche Kommunisten, sondern auch gegen Homosexuelle, die vermeintlich psychisch labiler und daher anfälliger für die Anwerbung durch sowjetische Agenten waren. „Lavender Scare“ (Lila-, d. h. Schwulenpanik) führte dazu, dass Eisenhower per Dekret Homosexuelle aus dem öffentlichen Dienst auf föderalem Niveau ausschloss. Dabei war Cohn selber ein verkappter Homosexueller: Er starb 1986 an AIDS. In dem Musical Angels in America hat Tony Kushner Cohn ein literarisches Denkmal gesetzt: Die Figur von Roy Cohn steht für die Verbindung zwischen extrem rechter Politik und der Unterdrückung und Leugnung der Homosexualität. 

Im Zusammenhang der moralischen Panik der 50er Jahre bedeutet das, dass Cohn damals, wie Trump heute, seine negativen oder einfach unbequemen, für das eigene Selbstbild unpassenden Eigenschaften auf andere projiziert. Trump ist ein Meister der Projektion: Was Du über ihn sagst, auch das, was er über sich selbst weiß, ist nicht bei ihm, sondern bei Dir der Fall. Auch die Ökonomie der Identifikation folgt dem Muster der Sucht, indem eine Identifikation, die vielleicht Austausch oder gegenseitige Anerkennung zur Folge haben könnte, durch das Moment der Projektion einseitig negiert wird: Trump ist immer die Ausnahme, kein Loser, sondern ein sehr stabiles Genie, ein Opfer, das sich selbst nicht mit den Opfern identifiziert. „Immer alles zurücknehmen, wenn das möglich ist“. 

Alles verneinen geht auch; dass man die Wahl verloren hat, dass man krank ist. Trump bezeichnet das Sars-CoV-2 Virus zuerst als eine von den Demokraten erfundenen Fiktion, dann erkrankt er selber daran, findet aber einen Ausweg, indem er von seiner Covid-Erkrankung als Wohltat spricht, etwas, das man eigentlich wollen sollte, um seine robuste Verfassung schon wieder unter Beweis zu stellen. Das lässt sich leicht sagen, wenn man Zugang zu den neuesten und teuersten Experimentaltherapien hat. Ein ähnliches Szenario malte Tony Kushner für Cohn aus: Cohn verneint alles, was sein gesundheitlicher Zustand über sein Sexualleben aussagen könnte und drückt damit die gleiche Annahme aus, die den berühmten ‚alternativen Fakten‘ des Trump-Regimes zugrunde liegt:

ROY: Your problem, Henry, is that you are hung up on words, on labels, that you believe
they mean what they seem to mean. AIDS. Homosexual. Gay. Lesbian. You think these 
are names that tell you who someone sleeps with, but they don’t tell you that. 
HENRY: No? 
ROY: No. Like all labels they tell you one thing and one thing only: where does an 
individual so identified fit in the pecking order? Not ideology, not sexual taste, but 
something much simpler: clout. […] Roy Cohn is not a homosexual. Roy Cohn is a 
heterosexual man, Henry, who fucks around with guys.
[…]
HENRY: You have AIDS, Roy.
ROY: No, Henry, no. AIDS is what homosexuals have. I have liver cancer.

(Kushner, Angels in America S. 52)

Das Virus macht aber nicht Halt vor den Wörtern, die man benutzt, um es zu bezeichnen. Wenn es ein anderes Virus ist, das zu Trumps Abwahl geführt hat, dann vielleicht nicht wegen der allgemeinen Unzufriedenheit mit seiner Behandlung der Krise – ob er wirklich an dem Tod von über 200.000 AmerikanerInnen schuld ist, wie seine Gegner gerne sagen, kann man nicht definitiv nachweisen –, sondern weil es vielen Menschen erst jetzt auffällt, dass die Materialität des Körpers eine Art Innengrenze zur Macht der Sprache darstellt. Bei Kushner steht die Figur des Roy Cohn für folgendes Prinzip: Man kann alles verneinen oder verwerfen, außer den eigenen Tod. Wenn die Logik des Populismus auf der Besetzung freischwebender Signifikanten mit beliebigen ideologischen Inhalten basiert (siehe Ernesto Laclau, On Populist Reason, 2005), frustriert diese Materialität als Limit des sterblichen Körpers die Sehnsucht nach Erlösung durch sprachliche und symbolische Operationen. Wenn die Trump-Fanatiker also mit ihrer verpfändeten Freizeit über die Kohlekumpel und analoge Figuren dazu verleitet wurden, sich auf der „dunklen Seite der Empathie“ mit Trump zu identifizieren, zerbricht die Identifikation an der Bezeichnung des Virus als ‚Wohltat‘, eine Erfahrung, die die wenigsten an Covid erkrankten MitbürgerInnen gemacht haben dürften. Wie das jetzt weitergeht, weiß keiner. Dass Trump jetzt auch dem politischen Wirklichkeitsprinzip nachgeben muss, liegt auf der Hand. Es gibt, soviel ich weiß, keinen Präzedenzfall für die Nichtanerkennung einer allem Anschein nach gültigen Wahl durch einen amtierenden Präsidenten. Dass selbst seine Freunde ihn zum Schluss auslachen und nach Hause schicken, wie Judith Butler sich die Szene ausmalt, dürfte der wahrscheinlichste Ausgang sein. Dass es immer noch Realitätsverweigerer im Kabinett gibt, überrascht auch nicht. Die affektgesteuerte Politik war in gewisser Hinsicht immer schon die Regel, keine flüchtige Erscheinung am Rande der Gesellschaft. Die Herausforderung der kommenden Jahre und Jahrzehnte wird sein, die Affekte nicht abzubauen, sondern anders zu lenken: nicht Abtötung wie bei einer Chemotherapie, sondern Verteilung auf die richtigen Funktionen, wie bei der Autoimmunität des gesunden Organismus.