Kunst des Verbindens

Paul Celans Gedicht „Coagula“

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

COAGULA

Auch deine
Wunde, Rosa.

Und das Hörnerlicht deiner
rumänischen Büffel
an Sternes Statt überm
Sandbett, im
redenden, rot-
aschengewaltigen
Kolben.

Paul Celans Gedicht COAGULA verbindet: Das macht seine Kunst aus. Celan verbindet im Gedicht, und er verbindet das Gedicht. Das Titelwort, als Imperativ genommen, ist dabei Maxime und Aufforderung zugleich. Es verrät das Verfahren des Gedichts und hält den Leser an, es ihm nachzumachen. Das ist auch nötig: Das neunzeilige Gedicht besteht nur aus zwei kurzen, unvollständigen, beim ersten Lesen rätselhaften Sätzen, die man ergänzen muss, um ihre Sinnfülle zu erfassen.

COAGULA, 1967 zuerst in Atemwende erschienen, verbindet zunächst zwei Lektüren: die von Franz Kafkas Erzählung Ein Landarzt im ersten mit der eines der Briefe aus dem Gefängnis von Rosa Luxemburg im zweiten Satz. Celan hat beide Texte gelesen, allerdings ist nicht mehr genau zu ermitteln, wann. Im selben Jahr entstanden, verbindet sie in seiner Leseweise als Erzählungen zweier Juden das Motiv der Wunde und der Name Rosa. Die Wunde eines kranken Jungen beschreibt Kafka in seiner Erzählung, von der blutenden Wunde eines misshandelten Büffels berichtet Rosa Luxemburg Mitte Dezember 1917 in ihrem Brief an die Frau Karl Liebknechts. Rosa wiederum scheint bei Kafka nicht nur die Wunde des Jungen, Rosa ist auch der Name des Dienstmädchens, das der Arzt auf seinem Hof zurücklässt, von einem Pferdeknecht gewaltsam bedrängt.

Die zweite Zeile kann man zunächst, wenn man einer Briefäußerung Celans gegenüber Petre Solomon folgt, als verdeckte Anspielung auf die Wunde des kranken Jungen verstehen, zu dem der Landarzt in der Nacht gerufen wird. Kafka hat sie in einer Genauigkeit beschrieben, die zugleich an Gustave Flauberts Poetik des Unbeteiligtseins und an Charles Baudelaires Ästhetik des Hässlichen orientiert zu sein scheint: Die „handtellergroße Wunde“ ist „Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags“.

Rosa Luxemburgs Brief, auf den im zweiten Satz angespielt wird, schildert besonders die Misshandlung eines Büffels durch einen mit dem Peitschenknauf schlagenden deutschen Soldaten in dem Gefängnis von Breslau, in dem sie Ende 1917 einsaß. Ihr Brief ist ein berühmtes Beispiel für das Mitleiden nicht nur mit dem Menschen, sondern auch mit dem Tier: mit aller Kreatur.

Beide Texte mögen für Celan nicht bloß Ausdruck einer jüdischen Sensibilität für Verwundungen sein. Indem Kafka das Wort „Rosa“ als Adjektiv und als Nomen in zwei Bedeutungen verwendet, übt er sich in einer Kunst der Verbindung, die Celan sich zueigen macht. Mit der Verwendung doppelt lesbarer Wörter und Wendungen gewinnt er ein Verfahren, überraschende Verbindungen herzustellen. Aus der rosa Wunde macht er die Wunde Rosas. Denn auch ihr fügte am Ende bei ihrer Gefangennahme ein Soldat eine schwere Wunde zu: Er schlug ihr mit einem Gewehrkolben den Schädel ein, bevor man sie in den Landwehrkanal warf. Das Titelwort, das in der Alchemisten-Formel „solve et coagula“ die Bedeutung „verbinde“ hat, ist gleichlautend mit dem Nominativ Plural von „coagulum“: „das Lab“, das Milch gerinnen macht, übertragen: ein Gerinnsel. Noch das letzte Wort des Gedichts „Kolben“ hat eine zweite, chemische und alchemistische Bedeutung.

Was es mit Rosas eigener, von ihr nicht mehr beschriebener, ja nicht beschreibbarer Wunde auf sich hat, wird im ersten Satz mit dem „Auch“ nur angedeutet; der Leser muss es selbst erkennen. Möglich ist das etwa über das Adjektiv „rot-/ aschengewaltig“. Als Attribut zu „Kolben“ ist es offenbar eine Anspielung auf die Vernichtung der europäischen Juden. Es legt eine bestimmte Deutung der Ermordung der Revolutionärin nahe: Wenn schon der Gewehrkolben des Freikorpssoldaten ‚aschengewaltig‘ war, dann ist auch Rosa Luxemburg Opfer antisemitischer Gewalt geworden.

Das Motiv der Verwundung verbindet Celan mit seinem Leben und Erleben. Zum einen durch den Hinweis, dass die Büffel, die Rosa Luxemburg im Breslauer Gefängnis sah, aus Rumänien stammten, was sie zu einem kleinen Lob der „freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens“ bewegt. Zum anderen durch die Metapher des Hörnerlichts. Barbara Wiedemann, die das Gedicht eingehend kommentiert hat, sieht in ihr eine Anspielung auf den „Büffelkopf mit einem Stern zwischen den Hörnern“ im „Wappen des Fürstentums Moldau“: Auf dessen früherem Territorium musste Celan Zwangsarbeit verrichten. So verdeckt die Verbindung zum eigenen Leben auch durch die kühne Metapher ist: Durch sie erweisen sich die literarischen Referenzen jenseits aller Artistik vollends als existenziell motiviert.

Celan hat schließlich auch das Gedicht verbunden – mit anderen vor allem aus Atemwende. Zunächst und am offensichtlichsten mit dem vorangehenden, das SOLVE überschrieben ist. Zusammen ergeben die beiden Titel die alchemistische Formel „solve [et] coagula“: „Löse und verbinde“. Verbunden ist COAGULA aber noch mit anderen Gedichten des Bandes. Wunde ist in ihm ein wiederkehrendes Motiv ebenso wie Sand und Asche, etwa in DIE SCHWERMUTSSCHNELLEN HINDURCH, STEHEN, KEINE SANDKUNST MEHR, ASCHENGLORIE oder IN PRAG, wobei die beiden Motive zusammen wiederum auf Celans erste Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen zurückweist. Eine offensichtliche Verbindung besteht schließlich auch zu einem späteren Gedicht Celans: zu DU LIEGST. Anlässlich eines vorweihnachtlichen Berlin-Besuchs 1967 entstanden, nimmt es gleichfalls Bezug auf die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts.

Celans Gedicht verbindet. Es stellt Zusammenhänge her, wo sie erst nicht zu erkennen sind. Eine unmittelbare Verbindung zwischen Franz Kafka und Rosa Luxemburg – über die gleichzeitige Entstehung ihrer Texte hinaus – gibt es ebensowenig wie zwischen Rosa Luxemburg und Paul Celan. Der Autor stellt sie im Gedicht her: im Horizont seiner Lektüren und seiner Erfahrungen. Er lädt dabei einzelne Wörter mit Bedeutungen auf, die sie in ihrem ursprünglichen Verwendungszusammenhang nicht haben, auch nicht haben können. Ob sie nur verborgen oder unterlegt sind, muss abermals der Leser entscheiden; der Dichter setzt sie, um Verbindungen anzudeuten. Alchemistisch mag an seinem Verfahren sein, dass im Verbinden verwandelt und umgewandelt wird: Aus dem Stoff der Literatur wird wieder der Stoff des Lebens, auch des eigenen.

Literaturhinweise

Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M. 2003, S. 203 (Text) sowie S. 741-742 (Kommentar). Zitat S. 742.

Frank Kafka. Die Erzählungen. Hg. von Max Brod. Frankfurt a.M. 1946. Zitat S. 151.

Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. Berlin 1927. Zitat S. 64.

Der Beitrag gehört zur Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.