Fantasyland

Die Wahl in den USA zeigt den tiefen Riss durchs Land entlang identitätspolitischer Fronten

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Joe Biden hat die Wahl gewonnen und die Erleichterung auch in Deutschland ist groß. Auf CNN sah man schon kurz nach der Verkündung des Ergebnisses Menschenmassen auf die Straßen der großen Metropolen stürmen – alle mit Masken natürlich – und, oft mit gebührendem Abstand, feiernd. Letzteres ist natürlich nicht unbedeutend, denn inmitten einer schon fast kriminellen Ignoranz gegenüber den eigenen Hygieneregeln, hat die Trump-Administration in rücksichtsloser Weise in den letzten Wochen zahlreiche unkontrollierte Massenveranstaltungen abgehalten, während Biden-Anhänger im privaten PKW sitzen blieben und ihrem Kandidaten zuhupten.

Ebenfalls bei CNN weint der schwarze Moderator und ehemalige Obama-Mitarbeiter Van Jones hemmungslos, als er nach einem ersten Statement zum Ergebnis gefragt wird, während der rechtskonservative Ex-Senator Rick Santorum, der die Wahl als republikanischer Kommentator in der ansonsten liberalen CNN-Runde mitgestaltet hat, etwas im ersten Moment Geschmackloses sagt. „Was wir hier sehen“, so Santorum beim Anblick der feiernden Menschen, „ist doch nur die Elite.“ Santorum war 2012 schärfster Konkurrent von Mitt Romney auf die Kandidatur und damals, in einer Zeit vor Trump, galt er als der radikal-christliche Spinner, als Polit-Clown, der mit seinen vor allem homophoben Ansichten eine kleine, radikale Minderheit der Amerikaner vertritt. Heute sitzt er in der Runde, ist seriös und artikuliert, dennoch meinungsstark, und wird von seinen Mitdiskutanten immer wieder für seine Vernunft und Ruhe gelobt.

Sieht man Santorum 2020, wirkt er wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, einer Zeit, als Leute wie er als Spinner galten; heute würde er wohl von Trump mit Tweets als republikanischer Mainstream aus dem Amt getrieben werden. Dennoch drückt sein Spruch etwas aus, das dem liberalen Amerika ein Dorn im Auge ist, denn, so Santorum weiter, die Arbeiterklasse Amerikas interessiert sich nicht für moralische Fragen, sondern dafür, ob man nächste Woche noch seine Miete bezahlen kann, woher man ggf. einen neuen Job bekommen kann, wovon man seine Kinder ernähren soll.

Es ist seit langer Zeit ein großer Vorwurf an die liberalen Kräfte Amerikas, dass sie diese Bürger aus den Augen verloren haben. Deswegen hat Hillary Clinton 2016 die Wahl verloren, deswegen hat sie Donald Trump, trotz seines totalen Versagens in der Coronakrise oder der Außenpolitik, 2020 fast gewonnen. Dass es eine Spaltung im Land gibt, ist dieser Tage mit Sicherheit nichts Neues. Dass diese Spaltung ein Ergebnis von Identitätspolitik auf beiden Seiten ist, wird wiederum nicht sehr gerne gehört – von keiner Seite. Und hier ist nicht ein gemäßigter Zentralist wie Joe Biden gemeint, ein Kompromisskandidat, der wohl nur in dieser Rolle diese Wahl gewinnen konnte. Wie sehr hatte sich Trump schon auf die linke Senatorin Elisabeth Warren eingeschossen, das hätte die Polarisierung und Spaltung noch vertieft.

Und doch scheint es erstaunlich, wie weit diese Polarisierung in die Gesellschaft vorgedrungen ist. Erschreckt wurde in den liberalen Medien die Meldung wahrgenommen, dass auf republikanischer Seite zwei mutmaßliche Anhänger des Q’Anon-Kults in den Kongress gewählt wurden. Gleichzeitig wurde stolz berichtet, wie eine Non-Binary-Person sowie eine Transgender Person zum ersten Mal ebenfalls das amerikanische Volk im Kongress repräsentieren dürfen. Nun kann man dies natürlich nicht miteinander vergleichen, aber es zeigt deutlich auf, wie weit die kulturelle Spaltung mittlerweile gediehen ist: Auf der einen Seite eine vollkommene Liberalisierung persönlicher Identitäten, auf der anderen der fast zwanghafte Drang zum Festhalten an konservativen Wertvorstellungen auf Kosten jeglicher Rationalität. Da taucht schon die Frage auf: Mit welchem Recht darf dem Amerikaner, der in einer Kleinstadt irgendwo in Wyoming, Nebraska oder Ohio lebt, abgesprochen werden, seine Werte gefährdet sehen, wie rückständig auch immer die Bürger etwa New Yorks diese auch einschätzen mögen? Macht man es sich nicht etwas zu einfach, wenn Identitätspolitik auf der einen Seite begrüßt, auf der anderen aber radikal abgelehnt wird? Denn wenn man etwas gelernt hat aus vier Jahren Trump, dann, dass der vielbeschworene alte, weiße Mann sich herausgefordert sieht, seine Vorstellung von persönlicher Identität zu verteidigen.

Genau in diese Wunde der Culture Wars hat Donald Trump letztlich gestoßen, und obwohl er die Wahl wahrscheinlich verloren hat – man weiß ja dieser Tage nicht so genau, was er noch so anrichtet, – hat er in diesem Punkt seiner Partei und ihren Anhängern einen großen Sieg eingefahren. Es mag polemisch klingen: Aber während jene ‚linke Elite‘ – wie Santorum sie nennt – in den Großstädten für die Anerkennung von jeder noch so kleinen Splittergruppe kämpft, sitzen im Supreme Court eine radikale Abtreibungsgegnerin, ein potentieller Vergewaltiger und ein erzkonservativer, strikter Verfassungsausleger, die allesamt von Trump berufen wurden, und entscheiden in den nächsten Monaten mit ziemlicher Sicherheit gegen das Recht der Frau auf Abtreibung, nehmen dabei also einer Gruppe, die über 50% der Bevölkerung ausmacht, das Recht auf Selbstbestimmung.

„You can’t have it both ways“, sagt der Amerikaner ja gerne, und in diesem Fall ist das die bittere Wahrheit. Je mehr die Identitätspolitik und die Culture Wars, die Cancel Culture usw. vorangetrieben werden, desto mehr wird sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung abwenden und sich hemmungslos weitaus radikaleren sozialen Ausgrenzungen hingeben. Auch aus diesem Grund klammerte man sich an den Zentristen Biden als letzten Strohhalm, aber nach dem Verlust mehrerer Kongresssitze wettert die Fraktion um die linke Leitfigur (und rechtes Hassobjekt) Alexandria Ocasio-Cortez schon wieder gegen das Parteiestablishment der Demokraten, während dieses die Parteilinken an den Pranger stellt.

Auf einer Podiumsdiskussion vor einem Jahr saß ich unter anderem mit einer nicht unbekannten, jungen New Yorker Literaturkritikerin und -wissenschaftlerin auf der Bühne und es begann eine Diskussion über einige Romane zur aktuellen amerikanischen Realität. Nach ihrer Meinung zu einem bestimmten Buch befragt, sagte sie nur: „Oh, you know, I don’t read books written by men anymore.“ Nicht aggressiv oder provokant, es war einfach ein als neutral zu verstehendes Statement, dass ihren Standpunkt untermauern sollte. Und das amerikanisch/kanadische Publikum, allesamt Geisteswissenschaftler, nickte zustimmend.

Ein beliebter Hetzspruch Trumps war in den letzten Monaten immer: „He/She hates our country“. Wir lesen in diesem Spruch nur eine seiner üblichen hirnlosen, fiesen Tiraden, doch dahintersteckt, wie so oft bei Trumps Äußerungen und Tweets, deutlich mehr. Die konservativen Amerikaner, die Wähler der Republikanischen Partei fühlen tatsächlich, dass ihre Werte in Gefahr sind, dass sie ihr Land verlieren an eine diverse, aufgeklärte Gesellschaft, mit der sie nichts anfangen können; eine unpatriotische, ja, globalisierte Elite. Für sie ist es die Zerstörung des Lokalen. Die Globalisierungsangst dieser Menschen impliziert einen Verlust von Identität, die natürlich immer geknüpft ist an eine Scheinwelt, eine imaginierte Vergangenheit.

Peter Handke schrieb in seinem Amerika-Roman Der kurze Brief zum langen Abschied, Amerikaner würden ihr Schicksal stets nur imaginieren anstatt es zu leben. Und Jan Brandt berichtet fast 50 Jahre später in seinem Buch Eine Wohnung in der Stadt/Ein Haus auf dem Land fasziniert davon, wie Amerikaner architektonisch eine nie dagewesene Vergangenheit minutiös rekonstruieren, um Geschichte zu imaginieren, während in Europa die Vergangenheit der Abrissbirne zum Opfer fällt, weil man stets in die Zukunft blicken will. Kurt Andersen schreibt in seiner beeindruckenden Studie Fantasyland, wie Amerika seit jeher nur ein Produkt der Imagination ist. Doch es ist dieses von Handke beschriebene ‚imaginierte Schicksal‘, dass die Identitätskrise des konservativen Amerika bedingt und den Kampf gegen die Globalisierung anfeuert. Und jetzt kam doch tatsächlich ein Präsident, der gegen alle Gesetze wirtschafts- und sicherheitspolitischer Logik diese Globalisierung zurückdrehen will. Dass er dies nur tut, um sein Ego zu befriedigen, ist in dem Moment, in dem es geschieht, zweitrangig. Es ist passiert und die Welt hat vier Jahre lang den Atem angehalten.

2019 erschien Jill Lepores hochgelobte Amerika-Biographie Diese Wahrheiten. Es sei eine ultimative Nacherzählung der amerikanischen Besiedlungs-Geschichte, von der Ankunft Kolumbus’ bis zur Wahl Donald Trumps. Das Lob bezog sich vor allem auch auf die wunderbar poetische Sprache, in der Lepore ihre Geschichtsstunde verfasst hat. Ja, sie sei eher dem linken Lager zuzurechnen, bescheinigten deutsche Kritiker, aber es sei ja trotzdem eine gelungene Darstellung. Lepore ist eine der angesehensten Historikerinnen Amerikas, und trotzdem ist ihre Geschichte durchgehend von einem Thema bestimmt: Sklaverei. Es ist ein legitimer Blickwinkel: Amerika ist nur durch die Versklavung von Menschen zu dem geworden, was es ist. Die Demokratie konnte nur auf dem Rücken von Sklaven eingeführt werden, und die Rechte galten natürlich nur für diejenigen, die als Menschen angesehen wurden, zu denen die versklavten Afrikaner definitiv nicht zählten. Ja, sogar das ganze Wahlmännersystem, über das man dieser Tage auch in Deutschland erhitzt debattiert, fußt darauf, dass man sich nicht einigen konnte, ob Sklaven nun als Menschen zählen oder nicht (man einigte sich darauf, dass ein Sklave als 3/5-Mensch gezählt werden soll).

Das alles ist richtig und trotzdem liest sich das Buch wie ein Abgesang auf die USA, ein Affront auf alles, was vielen Amerikanern immer noch heilig ist: das Versprechen vom gelobten Land, eine aus sich selbst erwachsene Demokratie, ein Hort der Freiheit. Fantasyland, ja, aber viele Millionen Menschen halten daran fest. „She hates our country“, würde Trump tweeten, würde er denn Bücher lesen, und natürlich: Lepore hasst das blutige Fundament, auf dem das Land erbaut wurde. Doch kann man nicht zugleich auch verstehen, wie sich viele Menschen von einer einseitigen Lesart amerikanischer Geschichte vor den Kopf gestoßen fühlen?

Nun ist Lepore klug genug, genau das zu antizipieren, und schreibt gleich zu Beginn, Geschichte werde immer aus einer bestimmten Perspektive erzählt und diese Perspektive spiegle nun mal bei aller Faktenbasiertheit die Sichtweise des Erzählers wieder. Aber nicht nur das, die Erzählerin bestimmt letztlich vor allem auch, wie Ereignisse miteinander verknüpft werden und wie sich ein Narrativ langsam entfaltet, das andere Sichtweisen, mitunter aus nachvollziehbaren moralischen Gründen, ausblendet. Das gesellschaftliche Ergebnis, nicht des Buches, sondern des eben erläuterten narrativen Prozesses ist aber, leider, eine fast schon krude Einteilung in Gut und Böse, in Recht und Unrecht, auf Basis einer vermeintlich objektivierten Moral.

Insofern mag es sogar ein Segen sein, wenn mit Joe Biden ein zentristischer Mann von Gestern ins Weiße Haus einzieht, begleitet von einer Vizepräsidentin, die zwar schwarz ist (und eine Frau), aber dennoch eher als knallharte Staatsanwältin bekannt wurde denn als linke Aktivistin – denn egal, was Trump an Verschwörungstheorien predigte, Kamala Harris war den Parteilinken der Demokraten bei ihrer Nominierung eher ein Dorn im Auge.

Es wird also Zeit, aufeinander zuzugehen. Am Ende der langen Wahlnächte haben sich dann auch Van Jones und Rick Santorum, die manchmal hart aneinandergeraten waren, gegenseitig ihren Respekt ausgesprochen, in einer großen Versöhnungsgeste, die trotzdem ehrlich und intim wirkte.