An den Grenzen des Irrsinns

Sven Hanuschek und Dorothee Lossin treiben den Leser an den Rand von Literatur und Wahnsinn

Von Katharina FürholzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Fürholzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Darf ein Buch über Wahnsinn unterhaltsam sein? Der von Sven Hanuschek und Dorothee Lossin edierte Sammelband ist es jedenfalls, ein wissenschaftlicher page turner für all jene, die sich zum ersten Mal neugierig an das Verhältnis von Literatur und Medizin herantasten oder bereits seit geraumer Zeit selbst hierzu arbeiten. Der 2020 erschienene Band geht auf die Tagung Im Irrenhaus / da sind die Irren drin. Literatur und ‚Wahnsinn‘ seit den 1970er Jahren zurück, die auf Initiative der Heinar Kipphardt-Gesellschaft und der Münchner Volkshochschule vom 27.–29. April 2018 in München veranstaltet wurde.

Mit Blick auf die Veranstalter wird es kaum verwundern, dass der Titel von Tagung und Tagungsband auf einem Zitat aus Kipphardts März (1976) basiert, einem Roman also, dessen Figur des an Schizophrenie erkrankten Dichters Alexander März die für die untersuchte Thematik symptomatische Frage nach der Grenze zwischen Literatur und Psychopathologie inhärent zu Bewusstsein führt. Auch mit Blick auf die im Roman geübte Kritik an der psychiatrischen Landschaft der damaligen Zeit ist Kipphardts Werk als Vorausdeutung für Hanuscheks und Lossins heutigen Band zu sehen: So liegt der Schwerpunkt ihres Buches, das sich aus insgesamt zwölf Beiträgen aus Literaturwissenschaft und Kulturbereich zusammensetzt, gezielt auf (in erster Linie deutsch-, in zweiter auch englischsprachiger) Literatur ab den 1970er Jahren, also den Anfängen der Antipsychiatrie, welche sich durch ihre Kritik an der Auffassung psychiatrischer Kliniken als totalen Institutionen sowie an der spezifischen Ausrichtung des damaligen Patient-Arzt-Verhältnisses auszeichnete und zunehmenden Fokus auf die soziale Bedingtheit psychischer Krankheitsklassifikationen legte. Erklärtes Ziel des Sammelbandes ist es vor diesem Hintergrund, dem „Konstruktionscharakter psychopathologischer Krankheiten in der Literatur ab den 1970er Jahren bis zur Gegenwart“ auf die Spur zu kommen und zu ergründen, welchen Anteil Literatur am gesellschaftlichen Bild dieser Krankheiten hat, inwiefern auch therapeutische Bemühungen einer narrativen Logik folgen und in welcher Weise sich die Wahrnehmung psychischer Krankheiten über die Jahrzehnte hinweg verändert haben.

Dieses Interesse an Psychiatrie und Psychopathologie ist aus der Literatur wie auch der Literaturwissenschaft nicht wegzudenken: Beschäftigungen mit der Verortung des Psychischen zwischen Gesundheit und Krankheit gehören heute zum festen Repertoire jener Forschungen, die für gemeinhin unter dem Oberbegriff der ‚Literatur und Medizin‘ zusammengefasst werden. Doch trotz des inzwischen umfassenden Forschungsbestands führt auch der nun erschienene Sammelband – bereits im Titel impliziert dadurch, dass der Wahn-Begriff in sich distanzierende Anführungszeichen gesetzt wird – zu Fragen, die im Zuge wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Kranken – und damit mit Menschen, die aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands und nicht zuletzt den gesellschaftlichen Reaktionen hierauf in besonderem Maße vulnerabel sind – stets neu gestellt werden müssen, ohne dabei vermutlich je eindeutig und zufriedenstellend beantwortet werden zu können. Denn was genau hat man denn nun eigentlich vor sich liegen: einen Sammelband der irren Bücher – oder der Bücher von Irren? Aber Moment: Darf man das denn: über Irrsinnige/s? Wahnsinnige/s? Kranke/s? Deviante/s? schreiben? Oder wird gerade dadurch Krankheit zu- und der Kranke abgeschrieben? Erlaubt das Literarische das Sprechen über Wahn ohne Anführungszeichen oder führt auch dies zu einer unangebrachten Pathologisierung des Psychopathologischen?

Wer hierauf Antworten sucht, dem seien als erste Impulsgeber die Beiträge von Gisela Steinlechner und Gideon Stiening empfohlen: Im Zuge ihrer Annäherung an den an Schizophrenie erkrankten Patienten Ernst Herbeck, der seine Erfahrungen mit dem psychiatrischen System unter Anregung seines Psychiaters Leo Navratil über 40 Jahre lang in lyrischer Form verhandelte, hebt Steinlechner so hervor, dass man heute mit psychopathologischen Zuschreibungen zwar

vorsichtiger geworden [sei], was jedoch immer wieder auch dazu führt, dass wir es in der Diskussion überhaupt nur mehr mit Auslassungen und Vermeidungen zu tun haben. Der Wahnsinn steht prinzipiell unter Anführungszeichen, von Krankheit, Psychose oder Verrücktheit zu reden ist im Umfeld der Art Brut höchst obsolet […].

Die Angst zu exkludieren berge dabei die Gefahr, dass etwaige Unterschiede abgesprochen und Anderssein mit einem „befremdliche[n] und nachteilige[n] Makel“ assoziiert werde. Mit Blick auf diese Fragen des Devianten argumentiert Stiening in seiner auf (männliche) Demenz- und Alzheimer-Darstellungen zentrierten Arbeit – welche die interessante Beobachtung enthält, dass es „für den Mann des späten 20. Jahrhunderts [attraktiv wird], psychisch deviant zu sein“ –, dass „der Weg der psychischen Krankheit und ihrer psychiatrischen Betrachtung und Behandlung vom Rand der Gesellschaft ins helle Licht einer interessierten Öffentlichkeit“ nicht nur „eine kritisch-verstehende Integration psychischer Devianz in die westlichen Gesellschaften“, sondern zugleich auch „deren kulturindustrielle Verwertung und – in ihrer Verbindung mit intelligenter und gar humorvoller Subjektivität – eine neuerliche Dämonisierung“ beförderte.

Eine spannende Bereicherung für die bestehende Forschungsgemeinschaft bietet Hanuscheks und Lossins Sammelband schließlich nicht zuletzt durch seine breite Definition von Literatur, durch welche fiktionale, autobiographische und fachliterarische Zeugnisse gleichermaßen Berücksichtigung finden. Diese Offenheit ist in gewisser Weise dem Gegenstand selbst geschuldet, durchbricht das Schreiben über das Psychopathologische doch sonstige Definitionen (bzw. Konstrukte) von Gattungsgrenzen. Deutlich wird dies in Yvonne Wübbens Lektüre von Thomas Melles Die Welt im Rücken (2016) als Werk zwischen (Anti-)Bildungsroman und Pathographie: Wie Wübben argumentiert, erlaube es der Rückgriff auf das Genre des Bildungsromans Melle, in seiner autobiographischen Erzählung über seine bipolare Persönlichkeitsstörung einen „Sinnzusammenhang“ zu stiften, „den medizinische Diagnosen und Krankheitsdefinitionen nicht zu stiften vermögen.“ Diese Sinnstiftung finde der Autor jedoch zugleich auch durch ein weiteres, nun medizinisch-literarisches Genre: So weise der Text zahlreiche Analogien zu den um 1900 feststellbaren Gattungsmerkmalen der Pathographie auf, die es ihm erlaube, Lebensgeschichte als Krankheitsgeschichte neu zu erzählen und so schreibend die eigene Identität als Privatperson und Autor neu zu verhandeln.

Wie tief diese verschränkende Engführung von Lebens- und Krankheitsgeschichte auch im medizinischen Kommunikationsraum verwurzelt ist, verdeutlicht Sandra Schmitts Beitrag zu Repräsentationen des Schizophrenen nach 1945. Ihr vergleichender Blick gilt hierbei neben fiktionalen Beispielen dem kasuistischen Genre, wodurch zugleich deutlich wird, wie stark auch wissenschaftliche Fallgeschichten von narrativen Strukturen geprägt werden: So lassen sich in den damaligen (zunehmend psychotherapeutisch ausgerichteten) Fallgeschichten zu Schizophrenie wiederkehrende Erzählstrukturen feststellen, durch welche „die psychologische Entwicklung der Betroffenen, [der] Aufbau des Konfliktes, die inneren Kämpfe und Leiden sowie die Wahninhalte deutend“ geordnet wurden. Den Therapeuten kam dabei selbst die Rolle von Erzählern zu, die in ihren Darstellungen zunehmend für jene komplexen, kaum trennbaren Verflechtungen zwischen Lebens- und Krankheitsgeschichte von Patienten – und, möchte man hinzufügen, in subtiler Weise auch der ihrer Ärzte, Therapeuten und Pflegenden – sensibilisierten.

So alt die Verbindung von Literatur und Wahn auch sein mag, so wenig wird sie wohl je auserzählt sein. Wer einen aktuellen Einblick in die gegenwärtige Forschungslandschaft zu dieser Thematik gewinnen möchte, dem sei dieser jüngste Sammelband sehr gerne zur Lektüre empfohlen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Sven Hanuschek / Dorothee Lossin (Hg.): Im Irrenhaus / da sind die Irren drin. Literatur und »Wahnsinn« seit den 1970er Jahren.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2020.
204 Seiten, 20 EUR.
ISBN-13: 9783865257284

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