Wahrheit oder Lüge

Werner Busch prüft „Die Künstleranekdote 1760–1960“ anhand diverser Beispiele auf ihren wahren Kern

Von Steffen KrautzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Krautzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte der Kunst ist von Beginn an voller Anekdoten. Ob in den antiken Künstlerlebensläufen des Plinius, in den „Viten“ des Giorgio Vasari oder den Biographien zeitgenössischer Künstler – in der Kunstgeschichte existieren zahlreiche dieser kleinen Erzählungen, die im Kern eine allgemeine Aussagekraft in sich tragen oder genauer: tragen sollen. Die meisten lassen sich zu bestimmten Topoi sortieren, die über Jahrhunderte wiederholt und variiert wurden. Die Entdeckeranekdote etwa berichtet vom unerkannten Künstler, dessen Genialität erst durch einen Kenner aufgedeckt wird. So soll das Talent des junge Schafhirten Giotto beim Zeichnen seiner Herde vom Maler Cimabue entdeckt worden sein. Egal ob solche Geschichten auf Fakten basieren, wahr sind oder nicht: Welche Beweiskraft Anekdoten haben, wie groß ihr Anteil bei der konkreten Interpretation von Kunstwerken sein kann, darüber schreibt der Kunsthistoriker Werner Busch kenntnisreich und spannend in seinem neuesten Buch.

Werner Busch, von 1988 bis 2010 Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, widmet sich in sieben Kapiteln sowie Prolog und Epilog Themen und Künstlern, die ihn seit Jahrzehnten beschäftigen und zu denen er immer wieder Maßgebliches veröffentlicht hat. Drei der neun Texte erschienen in Erstfassungen in anderen Bänden, wurden für das Buch aber grundlegend überarbeitet. So bilden das 18. und 19. Jahrhundert mit dem englischen Schriftsteller Laurence Sterne und den englischen Malern George Stubbes, Thomas Gainsborough, William Turner sowie dem Deutschen Adolph Menzel den Schwerpunkt. Mit den Amerikanern Mark Rothko und Ad Reinhardt sowie dem englischen Schriftsteller Bruce Chatwin wird das Thema Anekdote ins 20. Jahrhundert erweitert. Daher ist es verkraftbar, dass mit Caspar David Friedrich und Francisco de Goya zwei von Buschs Favoriten früherer Veröffentlichungen diesmal fehlen, William Hogarth und Joseph Wright of Derby nur am Rande vorkommen. Die subjektive und begrenzte Auswahl zeigt deutlich, dass es sich um keine Enzyklopädie zur Künstleranekdote handelt, sondern anhand ausgewählter Beispiele, mit Hilfe von zahlreichen Quellen und Abbildungen in die Tiefe gegangen und auf diesem Wege Allgemeingültiges hergeleitet werden soll.

Von 1996 bis 2002 gab das Kunsthistorische Institut der FU Berlin eine fünfbändige Geschichte der klassischen Bildgattungen heraus, die anhand nahezu aller wichtigen historischen Quellentexte die unterschiedlichen Theorien der jeweiligen akademischen Bildaufgaben untersuchte. Von den fünf Gattungen der Malerei, Historie, Porträt, Genre, Landschaft und Stillleben widmete sich Werner Busch in diesem Großprojekt als Herausgeber des 1997 im Reimer Verlag erschienenen Bandes der Landschaft.

Neben der Gattungstheorie sind dem Autor auch alle Primär- und Sekundärquellen zu den genannten Künstlern bekannt, wovon ausführliche 30 Seiten mit Anmerkungen im Anhang zeugen. Als Leser ist es daher ein großes Vergnügen, ihm bei seiner detektivischen Untersuchungsarbeit an bestimmten Anekdoten zu folgen. So hinterfragt er zum Beispiel den Wahrheitsgehalt einer bis heute in der Forschung als Tatsache angesehenen Geschichte, nach der im Atelier von Thomas Gainsborough kleine Ferkel frei herumgelaufen wären. Die in einem berühmten Gemälde dargestellten Tiere seien nur deshalb so realistisch getroffen, so die gängige Begründung. Schlüssig erklärt Busch, dass es sich hier um ein Beispiel des weit verbreiteten Topos der Verpflichtung des Künstlers zu unmittelbarer Naturwiedergabe handele. Zudem wäre Gainsboroughs Ferkel-Geschichte ein Zeichen für seine Unkonventionalität und folgten die Tiere als Bildmotiv außerdem noch einer bestimmten, bislang unerkannten ikonographischen Tradition. Kleine, scheinbar simple Anekdoten werden zu Ausgangspunkten für schlüssige Bildinterpretationen, obwohl die berichteten Ereignisse in der Realität wahrscheinlich überhaupt nicht stattgefunden haben.

Im Kapitel Außenseiteranekdoten – Adolph Menzel und Friedrich II. untersucht Busch anhand von Menzels Holzstich-Illustrationen zu Franz Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen das persönliche Verhältnis zwischen Künstler und Dargestelltem. Zwischen dem Tod des preußischen Königs und der Veröffentlichung von Menzels Bildern lagen über 50 Jahre. Busch deckt Menzels Textquellen auf, erläutert in einem kleinen Exkurs den Begriff des Historischen im 18. Jahrhundert und kommt schließlich zu einer einzigen, auf den ersten Blick eher unbedeutenden Illustration. An dieser erklärt er im Detail, Stück für Stück Menzels eigenen Anteil, die Offenbarung des eigenen Wesens in der Illustration einer überlieferten Friedrich-Anekdote. Es ist spannend nachzuvollziehen, wie sich Menzel die künstlerische Freiheit zu Eingriffen und Änderungen nahm. Unter dem Topos „Narrenfreiheit“ existieren auch Anekdoten über Menzel selbst, der oft als Außenseiter und Einzelgänger beschrieben wird. Und genau diese wechselseitigen Beziehungen zwischen den Ebenen machen das Buch so kurzweilig und erhellend. So berichtet Busch zum Beispiel von einem Amsterdamer Museumsbesuch, bei dem er ermahnt wurde, nicht zu dicht an ein abstraktes Gemälde von Mark Rothko zu treten. Für die vom Künstler gewünschte Seh-Erfahrung ist die Betrachtung seiner Bilder von Nahem aber unerlässlich – so wird das Erlebnis des Autors selbst zur aussagekräftigen Anekdote.   

Der Epilog endet mit persönlichen Erinnerungen des Autors an einen aus Bremen stammenden Kunstsammler. Busch stellt dessen Anekdoten Erläuterungen zu Bruce Chatwins 1988 veröffentlichten Roman Utz über einen fiktiven Porzellansammler voran. Chatwin war lange beim Londoner Auktionshaus Sotheby’s tätig und seine Romanfigur Utz trägt einige Züge des realen Sammlers Rudolf Just. Über das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit lässt sich auch oder vor allem bei Künstleranekdoten hervorragend nachdenken und forschen. Dass sich nach den eher anspruchsvollen aber auch für kunstinteressierte Laien gut lesbaren Kapiteln der Fokus am Ende des Buches nun auf die Fiktion richtet, ist eine sympathische Idee. Der Wissenschaftler Werner Busch schreibt über die Erzählungen des Bremer Sammlers: „Die Geschichte, die ich damals aufgesogen habe, ist so schön, dass es mir ganz gleichgültig ist, ob sie wahr oder nur gut erfunden ist.“

Titelbild

Werner Busch: Die Künstleranekdote 1760–1960. Künstlerleben und Bildinterpretation.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
304 Seiten , 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406758256

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