Reich lebt es sich doch immer besser

„Die zitternde Welt“, in der Tanja Paars gleichnamiger Roman spielt, gerät aus den Fugen

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilhelm, Maria und ihre Kinder, namentlich Erich, Hans, Traudl und Irmgard, führen ein beschauliches Leben, sodass sie nahtlos in einen österreichischen Heimatroman passen würden. Nur bricht in ihr Dorfidyll in Tanja Paars Roman wider Erwarten nicht ein Fremder ein, sondern die ganze österreichische Familie ist in ihrer Wahlheimat Anatolien fremd.

Wilhelm hatte zuvor die schwangere Maria in Leonding sitzen lassen und war ins Osmanische Reich aufgebrochen, um dort als Ingenieur beim Jahrhundertprojekt der Bagdadbahn zu arbeiten. Der Roman setzt also Ende des 19. Jahrhunderts ein, in dem kleinen Städtchen Bünyan, wo die tapfere junge Frau ihren Wilhelm nach langer Suche endlich wiederfindet.

Dort genießt die junge Familie das privilegierte Leben in der Provinz, wo sie Bedienstete hat, hoch angesehen ist und sich etwas aufbauen kann. Maria gärtnert, lebt in den Tag hinein und entwickelt ein Selbstbewusstsein, das in der damaligen Zeit dem konservativen Wilhelm, vielmehr aber noch den Osmanen um sie herum, unangebracht erscheint. Wenn sie schon bei allen offiziellen Anlässen nur in der zweiten Reihe hinter den Männern sitzen darf, will sie wenigstens heimlich die in Trance tanzenden Derwische sehen – was Frauen ansonsten streng verboten ist. Viel tiefer dringt die Autorin leider nur selten in die historischen Umstände oder kulturellen Besonderheiten ein, sodass der Leser beispielsweise erst bei der Rückkehr des mittlerweile erwachsenen Sohnes Erich in die Türkei Atatürks erfährt, dass die Kinder sehr gut Türkisch sprechen. Das Leben zwischen Sprachen und Kulturen wird ansonsten kaum thematisiert. Auch Französisch lernen die Kinder Erich und Hans – wie es sich damals für die gehobene Mittelschicht gehört – beim Privatlehrer. Dass auch die Mutter der beiden, Maria, auf Drängen von Wilhelm am Unterricht teilhaben soll, tut ihr mehr als beabsichtigt gut, denn zwischen Monsieur Bertrand und ihr entwickelt sich eine kurze romantische Affäre, die aber dann doch andere Züge annimmt als die von Madame Bovary.

Das Attentat von Sarajewo, mit dem der erste Weltkrieg seinen Lauf nimmt, wird zum Wendepunkt des Romans. Während das Deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich der Donaumonarchie im Untergang folgen, gerät auch das Leben der Familie völlig aus den Fugen.

Erich und Hans können nur dank eines gütigen Paschas vom Dienst in der osmanischen Armee befreit werden, aber der Preis dafür ist hoch: Hans bekommt eine französische Identität und Erich eine deutsche. Der Rest der Familie muss ohne die beiden zurück nach Österreich, erlebt aber in Wien einen stetigen Niedergang, weil sie einerseits in der Zeit des aufkommenden Dritten Reichs auf der „falschen“ Seite stehen und andererseits von einer hochgeschätzten Ingenieursfamilie zu einer ums Leben ringenden geistig und körperlich kränkelnden Eisenbahnerfamilie werden.

Maria verkommt nach Wilhelms Tod zu einem garstigen, frustrierten Hinterhofweib, keift, meckert und schimpft die Tochter sei nur „eine Esserin mehr“. Am Ende ist sie, die einst so selbstbewusste Frau, ohne ihren Mann und die Eisenbahnerwohnung, aufgeschmissen. Tanja Paar lässt ihre zu Beginn so hoffnungsvoll aktive, aufgeweckte Protagonistin in der zweiten Hälfte des Romans jeden Emanzipationsgedanken vergessen. Plötzlich ist sie auf Almosen oder die Hilfe von Erich angewiesen. Sie bettelt, er möge nach Wien zurückkommen, als würde seine Rückkehr aus Istanbul, wo er als Tangolehrer auch nicht ganz unabhängig überlebt, etwas an ihrer Situation ändern. Der große Traum von der Bagdadbahn ist mit Wilhelm, mehr aber noch durch den Krieg und die Ölfunde im Irak, gestorben.

Auf dem Cover des Romans steht ein Apfelbaum bzw. die Welt Kopf, die Luft scheint zu brennen. Tanja Paars Generationenroman hingegen wird linear und konventionell erzählt, jähe Spannungs- oder Überraschungsmomente wirken wie unmotivierte Brüche. Wenn plötzlich Maria als Hauptfigur von Erich abgelöst wird, der seine Tanzlehrertätigkeit in Istanbul wegen eines Zeitungsartikels vom ersten Ölfund in Kirkuk aufgibt, um eben dort mit seinen Sprachkenntnissen sofort zum Leiter des Personalbüros aufzusteigen, dann ist dies für die Leser ein nicht nachvollziehbarer Gedankensprung. In Paars Danksagung am Ende des Romans wird von der Autorin auf die Möglichkeit verwiesen, ihre fiktiven Figuren auf historische Persönlichkeiten treffen zu lassen. Lawrence von Arabien, Nâzim Hikmet oder Süheyl Furgaç fallen dabei einem zweifelhaften Namedropping zum Opfer, weil sie keineswegs in die Handlung eingebunden sind. Während der Herr Ingenieur und seine Maria wohl noch stilecht in Anatolien mit Baedecker-Wissen glänzen, bedient sich Paar einiger Klischees, wenn es über Erichs Gönner Ali heißt, er sei sein „warmer Freund“ aus der Türkei, mit dem er zudem noch im Hotel Sacher wohnt und im Café Central residiert. Mit der Mutter geht es später aufs Riesenrad am Prater, mit der Schwester zum Heurigen in Nussdorf – mehr Tourismus passte wohl nicht in den Roman.   

In diesem Sinne könnte man über Die zitternde Welt behaupten, der Roman ließe sich zunächst flüssig lesen, bis er mit dem Ausbruch des Krieges anfängt, wie im Orientexpress zu ruckeln und zu zuckeln, wodurch er zunächst an Fahrt und dann vor allem an Richtung verliert. Nichts bleibt dem Zufall oder dem Leser überlassen, der am Ende schließlich sprach- und ratlos dasteht.

Titelbild

Tanja Paar: Die zitternde Welt. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2020.
296 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783709981122

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