Europa schwankt

Pieter Waterdrinker zeigt in seinem Roman „Tschaikowskistraße 40“, wie Einzelschicksale und die Geschichte Europas mit der russischen Geschichte verwoben sind

Von Christina BickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Bickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichten von Revolutionen bedingen sich gegenseitig, so der Grundgedanke des Romans Tschaikowskistraße 40. Eine autobiografische Erzählung aus Russland: „Nur Idioten glauben, dass eines Tages das Reimen der Geschichte aufhört und durch Märchenprosa ersetzt wird.“ So spiegelt der Schriftsteller Pieter Waterdrinker also seine eigene Geschichte in der russischen und europäischen auf vielschichtige Weise: Waterdrinker wuchs in einem kleinen niederländischen Badeort als Sohn eines Café- und Restaurantbesitzers auf. Nach seiner Studienzeit und einem Intermezzo als Animateur auf den kanarischen Inseln kreierte er sieben Jahre lang als untergebener Headliner Überschriften für eine große niederländische Zeitung. Als sich die Möglichkeit bietet, als Korrespondent in Russland zu arbeiten, zieht er ohne zu zögern dorthin, in die nach einem Revolutionär, nicht nach dem berühmten Komponisten benannte Tschaikowskistraße 40.

Der Wohnort passt zum Protagonisten, denn revolutionär ist dessen Kampf vom Bodensatz der Literaturszene gegen deren Überbau. Es ist ein Kampf, den er mit clownesken Figuren ausficht. Schneidend fällt seine Kritik am Literaturbetrieb aus: Literatur habe nichts Erhabenes an sich. Statt auf Stil und Inhalt komme es auf eine glatte Oberfläche und auf die Präsentation in Talkshows an. Der Literaturbetrieb löse in ihm einen solchen Ekel aus, dass er lieber eines Tages seinen Geist auf der besetzten Krim aushauchen würde. Die russische Geschichte unter einer Demagogie nach der anderen fungiert als Spiegel der Unterdrückung des Schriftstellers durch den Literaturbetrieb. Oder mit Waterdrinkers Worten: Geschichte reimt sich – so auch die Geschichte Russlands mit seiner eigenen Biographie. Es sind historische Bilder, die wie Webstuhlschiffchen durch ihn hindurch schießen.

Drastisch illustriert er dies mit folgendem Vergleich, der als eine makabre Hommage an Franz Kafkas Verwandlung gelesen werden kann: Während in der Hölle des Gulags Gefangene bei vierzig Grad unter Null nackt an Pfählen mit eiskaltem Wasser übergossen und auf grausame Art in Bernstein verwandelt werden würden, dürfe Waterdrinker als glücklicheres Insekt vor den glänzenden italienischen Schuhen der Verleger herumkriechen.

Waterdrinkers schriftstellerische Laufbahn ist nicht nur vom Kampf gegen das Etablissement geprägt, sondern auch von politischen Querelen. Ganze drei Jahre muss er sich vor Gericht wegen des literarischen Missverständnisses einer Figurenaussage gegen den Vorwurf des Kryptofaschismus verteidigen. Sämtlicher Widrigkeiten zum Trotz lässt der Autor sich nicht unterkriegen, sieht sich der politischen Meinungsäußerung verpflichtet und verfasst im Abstand von zwei Jahren zuerst ein Buch über Lenin und dann eines über die Russische Revolution. Dabei ist er über seine eigene Produktivität überrascht. Denn seiner Meinung nach können nur glückliche Menschen Bücher schreiben – Menschen, zu denen er sich nicht zählt. Seine Bücher unterliegen der Zensur, seine Frau Julia hat wegen der Kremlkritik ihre Stelle an der Universität verloren und spürt, was es bedeute, im größten Knast der Welt zu leben. Das Gefühl, das ihn dabei umgibt ist eines der ständigen Unsicherheit.

Doch nicht nur mit Waterdrinkers Lebensgeschichte reimt sich die Geschichte Russlands, sondern auch mit sich selbst. Nachdem Lenins Vorhang fällt, betritt Stalin mit seinem verlotterten Adelsclan aus Ballerinen, Dandys und Schauspielerinnen die Weltbühne. Nichts wird besser: „Das rote Gespenst der Menschenliebe rülpste, stank aus allen seinen Poren und übersäte den ganzen alten Kontinent mit seinen Exkrementen.“ Und auch, nachdem der eiserne Vorhang, fällt existieren die Reime fort. Manche blieben zurück, andere stürzten sich in ein neues Zeitalter – differenziert durch ihren Modestil.

Die aktuelle Relevanz des Romans ist evident. Waterdrinker vermeidet es dennoch bewusst, sein Werk mit Gegenwartspolitik zu belasten. Getragen wird er von der Hoffnung, dass es nicht zu einem falschen Reim in der Geschichte kommt und wir vor einer neuen, blutigen Sintflut stehen. Eventuell müsse er eines Tages fliehen, auch wenn er noch nicht wisse, wohin.

Der Roman kann als Ermutigung gelesen werden, den eigenen Weg auch gegen Widerstände aktiv und bisweilen auch revolutionär zu gehen und sich nicht vom Unglück überwältigen zu lassen. Denn jeder hat die Wahl, seine eigene Haltung zum Ausdruck zu bringen, wenn es auch notwendigerweise nichts an seinem persönlichen Leid zu ändern vermag. Es ist ein Gedanke, den Waterdrinker durch einen Knef-Chanson artikuliert:

Du musst entscheiden, wie du leben willst,
Nur darauf kommt es an
und musst du leiden, dann beklag dich nicht,
du änderst nichts daran.

Waterdrinkers Tschaikowskistraße 40 zieht in eine dunkle Atmosphäre hinein, in eine schwankende, unsichere, schockierende und brutale Welt, in der es zwar Handlungsoptionen gibt, die das Individuum ergreifen sollte, die aber dennoch vom Lauf der Geschichte und darin agierenden Machthabern auf kafkaeske Weise ad absurdum geführt werden können. Den nächsten Reim im Schema der Geschichte kennen wir noch nicht. Überhaupt besticht der komplex angelegte Roman durch uneigentliche, bildhafte, interpretationsoffene Sprache, die dem Werk einen poetischen Sound verleiht und vor Plattitüden bewahrt.

Titelbild

Pieter Waterdrinker: Tschaikowskistraße 40.
Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
450 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783957578723

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