Elfen, Saurier und eindimensionale Charaktere

Ursula Poznanskis Jugendthriller „Cryptos“ hetzt seine Protagonistin durch zahllose Welten

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Kurztrip zu einem Tauchgang im Great Barrier Reef oder auf den Spuren Angelina Jolies zur Tempelanlage von Angkor Wat, ein Wochenendausflug für einen Kamelritt vor den Pyramiden oder für eine nostalgische Shoppingtour durch die Carnaby Street auf einen Sprung schnell mal rüber nach London. Alles das dürfte zumindest fürs erste vorbei sein. Wie wäre es da, einfach den gewünschten Zielort zu nennen und schon befindet man sich nicht nur in einem fernen Urlaubsland, sondern gleich in einer völlig anderen Welt?

Nichts einfacher als das. Jedenfalls für die Menschen des ausgehenden 22. Jahrhunderts in Ursula Poznanskis Jugendthriller Cryptos. Wenn in dem Roman von „virtuellen Welten“ gesprochen wird, ist das allerdings reichlich übertrieben. Tatsächlich handelt es sich eher um virtuelle Themenparks. Um ein irisches Dorf etwa, ein Schlachtfeld, ein Gebiet voller Elfen und anderer Fabelwesen, eine Gegend, in der sich gefräßige Saurier tummeln, ein mittelalterlicher Ort, an dem blutige Turniere ausgefochten werden, ein anderer zum kontemplativen Philosophieren und dergleichen mehr. Meist haben diese ‚Welten’ sprechende Namen wie Bloom, Sinfonia, Bibliomania, Vampyrion, Klondirwas oder Sokratia. Es dürfte etliche Tausende von ihnen geben. Sofern man im Besitz eines entsprechenden Passes ist, kann man jede von ihnen in Nullkommanichts aufsuchen.

Während die Menschen sich mit allen Sinnen in diesen Welten fühlen und bewegen, liegen ihre Körper tatsächlich in sogenannten „Kapseln“, um sie vor den Folgen der längst eingetretenen Klimakatastrophe zu schützen. Denn in der realen Welt herrscht eine kaum zu ertragende Hitze. Überhaupt können die Menschen nur noch für kurze Zeit auf wenigen verbliebenen Landstrichen zwischen den unter dem rasant steigenden Meeresspiegel versunkenen ehemaligen Küstengebieten und den sich stetig ausbreitenden Wüsten leben.

Angesichts des Zustandes der realen Welt würden die Menschen ihr Dasein am liebsten ausschließlich in den virtuellen Welten verbringen. Doch müssen sie täglich eine gute halbe Stunde hinaus in die wirkliche Welt, damit ihr Körper wenigstens einigermaßen fit bleibt. Darum wacht man in seiner Kapsel auf, wenn man in einer der virtuellen Welten einschläft. Ebenso, wenn man virtuell ermordet wird oder auf andere Weise zu Tode kommt. In diesem Fall kann man die betreffende Welt allerdings für eine Weile nicht mehr besuchen.

Ermöglicht wird all dies auch dadurch, dass aufgrund des technologischen Fortschritts kaum noch ein Mensch arbeiten muss. Denn es gibt nur noch drei Dinge zu tun: Da wären einmal die Versuche der Wiederaufforstung ehemaliger Wälder, sodann die Welten zu designen, in denen sich die Avatare der Menschen bewegen, und diese Welten am Laufen zu halten.

Geregelt wird das alles nicht mehr von einer Regierung, denn es gibt keine Staaten mehr. Stattdessen liegt die Macht in den Händen von Konzernen, welche die Geschicke der Menschen leiten. Sie schaffen und erhalten die virtuellen Welten, halten die Kapseln in Schuss, sorgen für die Wiederaufforstung und vergeben die Fortpflanzungszertifikate, die allerdings nicht ohne weiteres zu bekommen sind. Die Motive, Ziele und Zwecke ihres Tuns bleiben jedoch recht dunkel. Profit zu scheffeln, scheint es jedenfalls nicht zu sein.

In Europa hat die Führungsspitze des Konzerns Mastermind das Sagen. Die siebzehnjährige Ich-Erzählerin Jana ist eine der DesignerInnen von Mastermind und gehört damit zu den wenigen, die „nach draußen berufen“ sind, also ihr Leben nicht in virtuellen Welten verbringen, sondern in der Realität. Als Designerin ist sie stolze Besitzerin eines „Generalpass[es]“, kann also ganz nach Belieben alle Welten aufsuchen.

Als Jüngste in ihrem Team hat sie bisher drei Welten geschaffen. Ausgerechnet in dem von ihr designten „unendlich friedlich[en]“ Örtchen Kerrybrook geschieht plötzlich ein Mord. Und nicht nur das, es stellt sich heraus, dass er von einem „Phantom“ begangen wurde und die betreffende Person auch in der wirklichen Welt ums Leben gekommen ist. Die Gesichtsmaske ihrer Kapsel hat ihr einen tödlichen Stromschlag verpasst. Obwohl Jana für den Zustand der Kapsel gar nicht verantwortlich ist, bekommt sie daraufhin ziemlichen Ärger mit ihren Vorgesetzten. Denn das Problem mit den Phantomen gilt als schon lange gelöst. Daher versucht sie herauszufinden, was in Kerrybrook vorgefallen ist.

Aufmerksame Lesende werden zwar schnell einen Verdacht haben, wer hinter allem steckt. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn die kriminellen Machenschaften erweisen sich als viel größer, skrupelloser und umfassender als gedacht.

Jana hat auf den nächsten 400 Seiten damit zu tun, Licht in das Dunkel der verbrecherischen Machinationen zu bringen. Deshalb weist das Titelblatt den Roman auch nicht als Science Fiction, sondern als Thriller aus. Auf ihrer Suche nach dem Mörder, der natürlich auch eine Mörderin sein kann, springt sie durch zahllose Welten. Allerdings werden nur die von ihr selbst geschaffenen etwas näher beschrieben, denn sie ist ziemlich stolz auf ihre Werke. Wie sich zeigt, hatte sie tatsächlich die eine oder andere originelle Idee. In ihrer magischen Elfenwelt etwa wird mit Knospen bezahlt. Die Handel Treibenden wissen daher nicht, welcher tatsächliche Wert die Besitzerin wechselt. Das stellt sich erst heraus, wenn die Knospen erblühen.

In den allermeisten Welten verweilt Jana nur für wenige Seiten, sodass die Lesenden kaum einen Eindruck von ihnen gewinnen können. Es scheint, als habe die Autorin möglichst viele Ideen zwischen den beiden Buchdeckeln unterbringen wollen, ohne sich allerdings die Mühe zu machen, sie wirklich auszuarbeiten. So ermüdet Janas Rumgehopse zwischen den nur oberflächlich gestalteten Welten ziemlich schnell. Immerhin findet es zur Mitte des Buches ein Ende und die Lektüre wird vorübergehend interessanter. Dann aber verzettelt sich die Protagonistin in etlichen Scharmützeln, bei denen zwar ständig etwas geschieht, allerdings ohne dass sie der Lösung des tödlichen Rätsels näher kommt und die Handlung somit vorangehen würde. Erst gegen Ende des Buches beginnen sich die Dinge zu klären und die wahren Schuldigen und ihre Motive werden enttarnt. Sollten sich die Menschen an der Spitze der Konzerne hier einmal nicht als die eigentlich Bösen entpuppen, wäre das ein ziemliches Novum nicht nur der SF- und Thrillerliteratur für Jugendliche.

Sind die virtuellen Welten nur wenig ausfabuliert, so bleiben die Charaktere eindimensional und ohne psychologischen Tiefgang. Das trifft nicht nur auf die Protagonistin zu, sondern mehr noch auf ihre MitstreiterInnen und GegenspielerInnen. Auch wirken alle Figuren sehr heutig, nicht wie Menschen einer entfernten Zukunft, welche die meiste Zeit in verschiedenen Welten leben. Gleiches gilt für die sehr konventionell anmutenden Geschlechterverhältnisse, die Sprüche – jemand ist „nicht die allerhellste Kerze auf der Torte“ – und die Mode des fiktionalen 22. Jahrhunderts, in der „verwaschene Jeans“ und „spiegelnde Sonnenbrille[n]“ als „schick“ gelten. Und die obligate Romanze darf natürlich auch nicht fehlen. 

Erwachsene werden das Buch wohl wenig befriedigt aus der Hand legen, womöglich gar vorzeitig. Eher schon dürften es Jugendliche – zumal weiblichen Geschlechts, denn schließlich ist die Identifikationsfigur eine der ihren – schnell herunterlesen. Sie sind ja auch die Zielgruppe.

Titelbild

Ursula Poznanski: Cryptos.
Spiegel-Bestseller.
Loewe Verlag, Bindlach 2020.
448 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783743200500

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