Die Angst ist ein Plural

In seinen Erzählungen „Hotel der Schlaflosen“ beweist Ralf Rothmann einmal mehr seine schonungslose Hingabe ans Erzählen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Revolution ist eine gute Tat von guten Menschen. Aber gute Menschen töten nicht. Also macht die Revolution böse Menschen.“ Diesen verfänglichen Dreisatz formulierte Isaak Babel in seinem Erzählband Die Reiterarmee. Darin drückt sich der ganze Zwiespalt eines Autors aus, der ans Gute der Revolution glaubte, ihr aber zum Opfer fiel. Ralf Rothmann widmet der tragischen Geschichte die Titelerzählung seines neuen Bands Hotel der Schlaflosen. Isaak Babel spielt darin eine Hauptrolle, doch das erste Wort gehört seinem Widersacher, dem Tschekisten Wassili Blochin. „Die Maßnahmen fanden im Keller statt“, erinnert er sich. Als ihm hier der in Ungnade gefallene Isaak Babel vorgeführt wird, kann er nicht umhin, ihm sein Lob für Die Reiterarmee auszusprechen und ihn zugleich für das Budjonny-Porträt darin zu tadeln. Zwischen dem überheblichen Henker und seinem von der Folter schwer gezeichneten Opfer entspinnt sich ein bizarrer Dialog über Wahrheit, der damit endet, dass sich Blochin von Babel eine Signatur in ein Exemplar seiner Geschichten aus Odessa erbittet, doch dieser kann mit seinen gebrochenen Händen nur noch entkräftet einen Fingerabdruck hinterlassen. Danach wird er erschossen.

Beide Figuren sind ebenso echt wie ihre schreckliche Begegnung. Rothmann formt daraus eine großartige Erzählung, in welcher Hoffnung und Schrecken, Angst und Furchtlosigkeit einander widerstreiten. Babel bleibt auch in seiner Qual dabei, dass die Literatur „eine Verantwortung vor dem Leben, vor der Wahrheit“ hat. Worauf Blochin ihm seine eigene „reine und letzte Wahrheit“ entgegenhält: die Kugel. Blochin ist heute als Stalins Henker weitgehend vergessen, Babels Erzählungen dagegen haben als literarische Meisterwerke überlebt. Rothmann erweist ihnen und ihrem Autor auf berührende Weise die Reverenz. 

„Fear is a man’s best friend“, zitiert der Erzählband zu Beginn den Musiker John Cale. Zwischen Angst und Furchtlosigkeit, Bangen und Hoffen gibt es einen sensiblen Umkehrmoment, den Rothmann zum Epizentrum seiner Erzählungen macht. Dieser Moment spiegelt sich nicht nur in Babels Rede, sondern immer wieder auch in scheinbar alltäglichen Situationen. Geronimo erzählt von der seltsamen Begegnung, die der Ich-Erzähler 1960 als Bub mit seinem Vater erlebte. Als sie gemeinsam auf dem Weg zum Einkauf einen Schulhof überquerten, wurden sie am schmalen Eingangstor unvermittelt von einer heruntergekommenen Gestalt mit einer Pistole bedroht. Während der Junge die Situation ängstlich beobachtete, blieb der Vater demütig gelassen, zugleich konzentriert. Kaum merklich straffte sich seine Haltung und der Junge erkannte in seinem Gesicht das „überraschende, in meiner Kindheit kein dutzend Mal erlebte, aus der grauen Aura seiner Melancholie hervorstrahlende Lächeln“, das die Situation rettete. Rothmann erzählt die Ereignisse in präziser Abfolge, ohne etwas auszudeuten. So war es, mehr nicht – aber genau so. Das Lächeln des Vaters ließ den Jungen erahnen, dass es neben der sorgenvollen Alltäglichkeit „auch ein tief verschüttetes Glücksvorkommen, etwas Geheimes gab, das sich im richtigen Moment in Wohlwollen für alle und jeden verwandelte“.

Erfahrungen wie diese verleihen der Prosa von Ralf Rothmann immer wieder ein dezenten Hauch von Spiritualität, die freilich ganz ohne Überbau auskommt. In ihr leuchtet vielmehr ein tiefes Vertrauen ins Leben, so wie es ist, voller Angst und voller Glück, mit allen Schattierungen dazwischen. Seine Kunst besteht darin, dass er einfach nur erzählt. Jedes Motiv steht präzis am richtigen Ort, um im Verlauf einer Geschichte seine Rolle zu spielen. Zug um Zug entwickelt sich beispielsweise der Natursprung eines Hengstes in Admiral Frost zum nicht vorhergesehenen Drama. Dieses schlichte Erzählen, das nichts weiter tut, als eine Situation, ein Geschehen, eine Erfahrung festzuhalten, beherrscht Rothmann in Vollendung.

Vor allem aber ist er immer ganz nah bei seinen Figuren, nie kündigt er ihnen seine Empathie auf. Der dicke Schmitt mag als Oberpolier auf der Baustelle ein unmöglicher Kerl sein, doch außerhalb der Arbeit findet der Erzähler seinen wunden Punkt. Die beiden sitzen sich gegenüber, jeder mit der eigenen Angst befasst, doch nicht aggressiv, eher bedauernd, bis sich die Situation überraschend auflöst. Die Angst ist ein Plural, jeder bleibt auf eigene Weise darin gefangen, jede muss selbst aus ihr herausfinden.

Rothmann variiert dieses Motiv in die verschiedensten Richtungen. In der Angst steckt auch eine Kraft, die furchtlos macht, wie in Wir im Schilf. Nach einer schrecklichen Krebsdiagnose fühlt sich eine Geigerin mit einem Mal so leicht, dass sie den Tod nicht mehr fürchtet. Mit dem Tod längst vertraut ist die Titelfigur in Der Wodka des Bestatters, einer feinen literarischen Reminiszenz an Johann Peter Hebel. Der Bestatter wird mit seinem Leichenwagen zu einer Zeche gerufen, aus der zwölf vor Jahrzehnten verschüttete Bergarbeiter tot geborgen werden. Dabei widerfährt dem betagten Mann eine unverhoffte Begegnung mit seinem 23-jährigen Vater, den er nie getroffen hat. Unter Schock fährt er ihn im Sarg nach Hause.

Gewiss behaupten nicht alle elf Geschichten dieselbe Präzision und Intensität, hin und wieder mogelt sich diskret auch ein Klischee dazwischen. Dennoch ist in jeder von ihnen die ganze erzählerische Hingabe des Autors zu spüren. Die letzte Erzählung Ein leises Ziehen in der Herzgegend beschließt den Band mit einer feinen Volte. Der Künstler Jansohn erkennt unterwegs in einem kleinen Weiler einen Ort der Kindheit. Alles schaut aus wie einst, auch wenn es „nicht ganz mit den bewahrten Bildern“ übereinstimmt. Doch unversehens bemerkt er das Missverständnis. Was er zu finden glaubte, liegt in der Tat ein paar Kilometer entfernt. Da entspricht nun alles der gehegten Erinnerung. „Ja, genau so…“, sagt Jansohn zu sich. Wie er aber den Wagen startet, weiß er: „Das ist es auch nicht.“ In diesem Sinn ermuntern Ralf Rothmanns traurig schöne Erzählungen dazu, genau hinzuschauen und sie ein zweites, drittes Mal zu lesen.

Titelbild

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
200 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429600

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