Im Reich der Finsternis?

Mineke Schipper über den „Mythos Geschlecht“ mit Geschichten der Gewalt von Männern an Frauen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern war und ist von Gewalt, Macht und Unterdrückung gezeichnet. Die Schattenseite der patriarchalischen Struktur der menschlichen Gesellschaften ist voller Gewalt gegen Frauen, die unterdrückt, missbraucht, vergewaltigt, gefoltert und getötet wurden und werden. Das lässt sich nicht legitimieren und ließ sich nie legitimieren. Gleich welche Gründe für eine Unterordnung von Frauen (wie ja Menschen überhaupt) angeführt werden, der Umstand, dass sie damit der Gewalt – von welcher Seite auch immer – ausgesetzt werden, diskreditiert jede patriarchalische Ordnung von vorneherein. Und wenn Mineke Schippers Zusammenstellung von Mythen, Erzählungen, Berichten und Fakten über den Mythos Geschlecht eines zeigt, dann dass diese Gewaltgeschichte untrennbar zum Patriarchat gehört. Ihre Weltgeschichte weiblicher Macht und Ohnmacht stellt dem Patriarchat ein niederschmetterndes Zeugnis aus: Nicht die körperliche Unterlegenheit von Frauen setzt sie der Gewalt aus – eine Unterlegenheit, die der Publizist Adolf Heilborn in einer kleinen Schrift von 1925 als Produkt einer jahrtausendealten „Zuchtwahl“ ansah –, sondern ihre Einbindung in einer Struktur, die sie immer als Untergeordnete, als Unterlegene, als Verfügbare deklariert.

Gegen diesen Blick auf die Geschichte der Menschheit, der einigermaßen angemessen die Folgen von genderbasierter Macht und Herrschaft beschreibt, ist nichts einzuwenden. Und selbst wenn die Gewaltgeschichten, die Schipper präsentiert, nicht die Totalität oder gar die Normalität von Geschlechterbeziehungen abbilden mögen – was als Einwand vorgebracht werden kann –, so zeigen sie doch eine jederzeit präsente Möglichkeit, nämlich Machtausübung und Schutzlosigkeit, die kein natürliches, sondern ein kulturelles, ein gesellschaftliches Produkt sind.

Und das ist in der Tat das Problem. In von Macht geprägten Konstellationen ist der Missbrauch von Macht stets eingeschrieben, mehr noch, der „Missbrauch“ ist die zwingende Konsequenz von Macht. Sie ist darauf angelegt, ausgenutzt zu werden, etwa um sexuelle Gefälligkeiten oder anderes einzufordern, auch ohne sexuelle Nötigung. Das ist eine ziemlich heimtückische Seite von Macht – deren Abgrenzung von organisatorischen Autoritäten nur sehr schwer möglich ist. Was grundsätzliche Fragen aufwirft, eben auch danach, ob eine Gesellschaft ohne Über- und Unterordnung und ohne deren Missbrauch überhaupt möglich ist. Dazu gibt es optimistische und pessimistische Antworten, oder eben pragmatische, mit denen Missbrauch eingehegt werden sollen. Aber das ist ein anderes Thema.

Aber gerade weil Schippers Blick auf die Geschichten (nicht die Geschichte) der Beziehungen zwischen Männern und Frauen das immer wiederkehrende niederschmetternde Ergebnis zeigt, sind Vorbehalte an ihrer Darstellung angebracht. Und zwar weil Schipper alle Verhältnisse, Geschichten und Fakten auf diese eine, und nur diese eine Konsequenz hin liest (die Gewalt von Männern gegen Frauen), nicht aber darauf, woher diese Geschichten kommen und welche Funktion sie jeweils haben mögen. Die besonderen Bedingungen, unter denen diese Mythen, Erzählungen, Horrorgeschichten, Redewendungen und vorgeblichen Gewohnheiten funktionieren, bleiben außen vor.

Und weil Schipper die jeweiligen Kontexte ihrer Geschichten ausblendet, ist das Ergebnis, das sich ihnen entnehmen lässt – dass es nämlich auf die Umstände überhaupt nicht ankommt (es bleiben doch immer dieselben Gewaltbeziehungen) –, überhaupt erst möglich. Damit aber ist das Ergebnis – dass die Gewaltgeschichte von Männern gegen Frauen enden muss – zur Disposition gestellt. Und das ist zu bedauern.

Denn es kommt auf die Umstände am Ende doch an. Ein, wenngleich extremes Beispiel: In der Welt, in der der Kaufmann die entflohene und wieder eingefangene Haremsdame bei lebendigem Leib häuten lässt, um ihren Leidensgenossinnen den Gedanken an Flucht grundlegend auszutreiben, ist Gewalt als ultima ratio der Macht allgegenwärtig. Aber dieser Kaufmann ist dennoch in dieser Welt ein Extrem und eben nicht die Norm. Die Geschichte, die von seinem Umgang mit Frauen erzählt wird, ist nur deshalb erzählenswert, weil sie erzählt, wie grausam die Unterdrückung von Frauen sein kann, weil sie erzählen mag, wie grausam diese Gesellschaft ist, weil sie die eigene Gesellschaft als so viel besser dastehen lässt, weil sie Frauen vor Ungehorsam warnen soll oder was der Varianten mehr noch sein mag. Wenngleich das Extrem auch immer darauf verweist, dass in der patriarchalischen Gesellschaft Frauen in jedem Fall strukturell auf der Seite der Opfer stehen, bleibt dennoch zu fragen, was daran überhaupt erzählenswert ist, die Sensation? Wenn die Grausamkeit selbstverständlich wäre, bräuchte sie nicht erzählt zu werden.

Und das ist ebenso auf eine Welt anzuwenden, in denen Männer Frauen schlagen und vergewaltigen und Verbindungsstudenten Lieder singen, in denen Vergewaltigungsfantasien freien Lauf gelassen wird. Und auf Welten, in denen mythischen Männern die Macht zugeschrieben wird, Leben zu gebären – die Rippe Adams ist da noch eine der freundlicheren Geschichten, wenngleich die Umwidmung der Gebärfähigkeit immer noch als erstaunliche Operation dasteht. Oder auf eine Welt, in der ein angesehener Mediziner, dem bis heute fachliche Leistungen von beachtlichem Wert zugeschrieben werden, eine erstaunlich langatmige Begründung des „physiologischen Schwachsinn des Weibes“ verfasst (P. J. Moebius im Jahr 1901). Selbst zu künstlerischen Leistungen seien Frauen nicht fähig, also zu jenem Bereich von Kreativität, der nach und nach an die Stelle der Gebärfähigkeit getreten ist. Das Genie gebiert anderes, Höherwertiges als das „Weib“?

Jede dieser Geschichten ist in einer Welt angesiedelt, die schlichtweg als patriarchalisch anzusehen ist, und dennoch unterscheiden sie sich – was eben auch die Begründung der Gewalt gegen Frauen jeweils verschiebt. Das fängt bei den mythischen Erzählungen an, in denen Schipper die Ablösung des weiblichen Vorrangs, der durch die Gebärfähigkeit von Frauen in traditionalen Gesellschaften konstituiert wird, abgebildet sieht. Darin wahlweise den Ausdruck von Gebärneid (nicht Gebärmutterneid, auf den Gesellschaften, denen ja ansonsten jedes Wissen über Fortpflanzung abgeschrieben wird, überhaupt erst kommen müssten), von Angst vor dem weiblichen Chaos oder dem weiblichen Geschlecht (bis hin zur berühmten vagina dentata oder zur Venus im Pelz) zu sehen, ist zwar auf den ersten Blick eingängig und plausibel, ob solche Einsichten jedoch über das Niveau einer gediegenen Küchenpsychologie oder eines Gassenhauers (Männer immer Verbrecher) hinaus gehen und als seriös gelten können, darf bezweifelt werden.

Zumal dann, wenn Schipper die Thesen der früheren ethnologischen und soziologischen Forschung wie die Claude Lévi-Straussʼ an der Funktion von Mythen in traditionalen Gesellschaften mit dem Argument verwirft, dass sie „das aufklärende Licht, das Mythen ebenso wie die Populärkultur auf den Ursprung der Geschlechterungleichheit werfen“, „außer Acht“ gelassen hätten. Was hier ganz offiziell bestritten werden soll. Man mag solchen Forschungsmeinungen mit gutem Grund widersprechen, aber ein solches beiläufiges Generalverdikt hat, zumindest soweit der Lektürehorizont des Verfassers dieser Zeilen reicht, keine ausreichende Basis.

Mythen, so Schipper dann selbst, befassten sich „mit wesentlichen Fragen, die die Gesellschaft als Ganzes angehen“ (eine Einsicht, der nicht widersprochen werden soll, wenngleich hier ein näherer Blick lohnt). Allerdings bleibt durchaus zu fragen, ob sie denn tatsächlich „den Grundstein legten für die menschliche Existenz“, was wohl, wenn man den ein wenig mäandernden Gedankengang zurechtrückt, als Konstitution einer „imaginären Ordnung“ gelten kann. Solange solche Narrative, so Schipper, tradiert würden, lebten Menschen in dieser Form „imaginärer Ordnung“. Ändere sich Gesellschaft, dann würden auch neue Mythen entworfen, die der neuen Gesellschaftsstruktur entsprächen oder – wie vielleicht eingewendet werden kann – Verarbeitungs- und Interpretationsformen entwickelt. Davon abgesehen, dass die Narrative in Schippers Erläuterungen immer wieder einmal die argumentative Seite wechseln, ist eine verdeckte Renaissance der Widerspiegelungstheorie, die mit gutem Grund aufgegeben worden ist, kaum zu übersehen. Mythen spiegeln gesellschaftliche Realität, konstituieren sie allerdings auch, und werden erst obsolet, wenn sich Gesellschaft ändert. Wogegen einzuwenden ist: Zweifellos haben gesellschaftliche Narrative einen, wenn nicht den entscheidenden Einfluss auf das Verhalten von Einzelnen. Aber ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität ist komplexer und zugleich gebrochener, als es in der Lesart Schippers der Fall ist.

Denn in ihrer Erzählung über die Geschlechterungleichheit scheint seit der Erstellung der Gründungsmythen männlicher Herrschaft wenig geschehen zu sein: Als grundlegend sieht Schipper den Umstand an, dass an die Stelle ursprünglicher weiblicher Gottheiten männliche getreten seien, die deren Aufgaben und Fähigkeiten übernommen hätten. Der Ursprung menschlicher Gesellschaft sei auf männliche Gottheiten übertragen, die ursprünglichen weiblichen Gottheiten entmachtet worden. Alles andere, die Unterwerfung der unzuverlässigen, wilden und unbändigen Frau unter die Herrschaft und Verfügungsgewalt des Mannes, habe dem nachfolgen können, womit allerdings allem Anschein nach der einzige und letzte Strukturwandel von Gesellschaft in der Schipperschen Weltsicht umschrieben worden ist. Seitdem herrscht der Mann über die Frau, und er nutzt diese Herrschaft weidlich aus. Damit ist der Urgrund von Geschichte ausgemacht, was auf eine zwar nicht geschichtenlose, aber dennoch geschichtslose Gesellschaft hinausläuft.

In der Umsetzung ihres Bandes zeigt sich eine solche enthistorisierende Sicht auf Gesellschaft in der Beliebigkeit, in der Schipper Ursprungsmythen, Berichte und Erzählungen aus den verschiedenen Kontinenten und Zeitaltern, Sprichwörter, Redewendungen und schließlich auch Fakten zu einem kaum noch als facettenreich anzusehenden Gesamtbild zusammenstellt – da der Generalbass immer gleich bleibt.

Das führt freilich auch dazu, dass über die Funktionen von Narrativen nur insofern reflektiert wird, als sie allesamt der Vorherrschaft des männlichen Geschlechts und der Unterwerfung von Frauen dienen. Dass dahinter – gegebenenfalls – gesellschaftlich funktionale Organisationsformen sowie deren Reflexion, Diskussion und – sicherlich auch – Durchsetzung stecken, bleibt außen vor. Dazu einige Beispiele aus der Forschung: Die Trennung von Haus und öffentlichem Raum, die Pierre Bourdieu in seiner Studie über nordafrikanische Gesellschaften beschrieben und analysiert hat, ist Schipper lediglich als Einschränkung des Bewegungsspielraums von Frauen plausibel. Die „elementaren Strukturen der Verwandtschaft“, denen Claude Lévi-Strauss eine umfängliche Studie gewidmet hat, in der Ehe als Kommunikationsform zwischen Familien verstanden wird, deren Medium Frauen sind, werden bei Schipper auf eine vormoderne Fassung des Frauentauschs reduziert. Eine interessante Lesart etwa der adeligen Ehepolitik im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa? Wohl kaum.

Aber damit nicht genug, denn es gäbe reichlich Hinweise, in der Geschichte des intellektuellen Schwachsinns männlicher Autoren, der den Aufstieg von Frauen aus der fremdverursachten Unterwerfung begleitet, eben auch Hinweise auf den Verfall männlicher Vorherrschaft in der Geschichte der Moderne zu finden und dies auch gesellschaftstheoretisch zu reflektieren. So ließe sich auch Paul J. Möbiusʼ berühmte Kampfschrift (die Schipper im Übrigen nicht zu kennen scheint) als Ausdruck des Rückzugsgefechts bedrohter männlicher Haltungs- und Verhaltensformen verstehen. Ebenso lässt sich auch vermuten, dass übermächtige Männerfiguren, wie die eines Rambo, oder militärischer Machismus auf die Krise und Brüchigkeit männlicher Rollenbilder, mithin auf deren Dysfunktionalität verweisen. Oder auch, dass das merkwürdige Verhältnis von Freikorpsmännern zu Frauen, das Klaus Theweleit seinerzeit analysiert hat, seinen eben nicht so „guten“ Grund hat.

Schipper aber geht einen anderen Weg, womöglich den von Empörung über das Patriarchat, was aber eben auch bedeutet, dass er nicht helfen wird, die Grundbedingungen der Geschlechterbeziehungen zu bessern. Dazu bedürfte es eines differenzierteren Blicks und auch der Gewissheit, dass es am Ende vor allem darauf ankommt, Unterschiede auszuhalten, ohne daraus Machtansprüche abzuleiten. Und darauf, zwischen den Geschlechtern Verhältnisse zu stiften, die nicht von Macht, Gewalt und Missbrauch geprägt sind und all dies so weit wie möglich verhindern. So wären wenigstens die Grundkonstituenten moderner Gesellschaft zu beschreiben, nicht durch eine vorgebliche natürliche Ordnung, in der Frauen Kinder gebären und Männer Frauen schlagen. Die Natur hätte im Übrigen dazu keinen Grund.

Und vielleicht noch ein Letztes: Selbst wenn eine patriarchalische Ordnung für frühere Gesellschaften funktional gewesen sein mag (was man bezweifeln darf), gibt es für sie in der Moderne keinen Grund mehr. Und mehr noch: Ihre Kosten sind schlicht zu hoch.

Titelbild

Mineke Schipper: Mythos Geschlecht. Eine Weltgeschichte weiblicher Macht und Ohnmacht.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783608983166

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