Überleben dank Distanz

Eine kämpferische Einzelgängerin brilliert im Endzeitszenario von Katie Hales „Mein Name ist Monster“ – doch leider nicht dauerhaft

Von Marisa MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marisa Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Katie Hale zeichnet in bildhafter Sprache eine unkonventionelle und unerschrockene Figur inmitten eines dystopischen Settings: Eine Außenseiterin überlebt als letzter Mensch verheerende Katastrophen. Als die Einzelgängerin im zweiten Teil eine weitere Überlebende – ein verwildertes kleines Mädchen – findet, wechselt die Erzählperspektive; das seelische Zerwürfnis ersetzt die Autorin durch Schilderungen, die teils an Tagebucheinträge eines pubertierenden Mädchens erinnern. Dieser Wechsel, der die zwei Hauptteile voneinander trennt, verursacht einen erheblichen Spannungsverlust des Buches – eine bemerkenswerte Leistung, das große Potential der ersten Hälfte derartig zu verspielen. 

Das Thema des letzten Menschen lässt auf eine lange Tradition zurückblicken. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschien der fantastische Roman Le Dernier Homme des französischen Schriftstellers Cousin De Grainville, in welchem der Ich-Erzähler als letzter Überlebender einer globalen Katastrophe entgeht. Fast zeitgleich erscheint Jean Pauls rätselhafte Erzählung Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht, in welcher der Protagonist unter Migräne vom Ende der Menschheit fabuliert. „Seit 1800 kommt die Literatur nicht mehr von dem Gedanken los, dass es einmal wieder eine menschenleere Welt geben könnte.“ (Manfred Schneider: Das Attentat, 2010) Es folgen unzählige Romane und Verfilmungen bis hin zur gegenwärtigen Popkultur. Seuchen, Naturkatastrophen, (Atom-)Kriege oder die Überzeugung des Paranoikers Daniel Paul Schreber vom menschlichen Untergang „als Wirkung sittlicher ‚Fäulnis‘“ (Schneider 2010) – die Ursachen für das finale Verderben erscheinen unerschöpflich. Hales Debütroman unterscheidet sich in einem wichtigen ‚Detail‘ von ihren VorgängerInnen, ihr ‚letzter Mensch‘ ist eine Frau, und noch dazu mit einem „Bedürfnis nach Leere und Weite“.

Die Ich-Erzählerin schreibt sich mit ihrem Namen Monster selbst Eigenschaften wie Robustheit, Stärke und eine gewisse Andersartigkeit zu, auf die sie stolz ist. Zu anderen Menschen wahrte sie schon immer die Distanz und sie ist das Alleinsein gewöhnt. Während der grassierenden Seuche, welche die Welt in ein Endheitsszenario verwandelt, machen sie ihr Misstrauen sowie ihre eigensinnige Ader im Darwin’schen Sinne zu dem am besten angepassten Indivduum. LeserInnen stehen am Anfang völlig im Bann des Endzeitszenarios, in welchem die Ich-Erzählerin namens Monster durch glückliche Umstände und dank ihrer ungewöhnlichen Lebensart die Apokalypse überlebt – „Erfrierungen und eine Kälte, die bis ins Herz schneidet: Sie sind der Preis fürs Überleben.“  

Wenn man vollkommen allein ist, fällt es leichter, die Menschen zu hassen, als sich nach ihnen zu sehnen. Während des Krieges und später während der Krankheit verließen sich die meisten zu sehr auf die Menschen, die ihnen nahestanden. Aber das Überleben hat seinen Preis. Immer. Man bezahlt es mit dem Alleinsein, damit, Freunde und Familie wie ein Krebsgeschwür aus seinem Leben herauszuschneiden und die Wunde zu verschließen. Und wer den höchsten Preis zahlt, überlebt am längsten – deshalb bin nur noch ich übrig, und deshalb muss ich weitergehen.

Hales englische Originalfassung erschien im Juni 2019, das grundlegende ‚Social Distancing‘ der Hauptfigur, die Erinnerungen an Menschen in Quarantäne, Auseinandersetzungen um mögliche Heilmittel und geplünderte Supermärkte muten jetzt wie eine radikale Vorwegnahme des erstmalig im November 2019 aufgetretenen Coronavirus an. 

Obwohl Monster sich zunächst als einziger Mensch im ersten Romanteil durch zerbombte Städte und verwilderte Landschaften kämpft, sind diese Erlebnisse keineswegs langweilig, im Gegenteil: Hale gestaltet eine Erzählwelt, in der menschliche Interaktionen nicht notwendig sind, um eine mitreißende Handlung zu kreieren. Angelehnt an das Schicksal von Daniel Defoes Robinson Crusoe, der im gleichnamigen Roman als einziger Überlebender fast drei Jahrzehnte auf einer einsamen Insel verbringt, begleiten die LeserInnen die Protagonistin, wie diese sich Tag und Nacht disziplinieren muss, um am Leben zu bleiben. Dabei geht es nicht mehr nur darum, die materielle Lebensgrundversorgung sicherzustellen, sondern auch darum, mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Hadern mit sich selbst zurechtzukommen. Denn Monster merkt, dass auch sie nach über drei Monaten absoluter Einsamkeit an ihre Grenzen stößt – immer mit dem Gedanken, dass alle Menschen, denen sie jemals begegnet ist, tot sind. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Lebenskampf. 

Ich denke an all die Menschen, die ich jemals gekannt habe. Jeden Tag fällt mir jemand anders ein, als wären sie in mir gehortet wie Bücher in einer Bibliothek, die nur darauf warten, dass mein Verstand seine Wahl trifft. Es ist erschreckend, wie vielen Menschen man in seinem Leben begegnet.

Rückblenden sind regelmäßig in den Erzählstrang eingewebt, darin schildert die Protagonistin insbesondere das Verhältnis zu ihrer Mutter. Auch erfahren die LeserInnen mehr über ihr Einzelgänger-Dasein vor der Apokalypse, über Mobbing-Attacken anderer Mitschülerinnen. Ihr Name erweist sich als tiefsinniger, wenn sie – ähnlich wie in Mary Shelleys Roman Frankenstein – von einer stets feindlich gesinnten Gesellschaft zum Monster wird, um sich zu schützen. Erfreulich sind für sie die aus ihrem eigenbrötlerischen Sinn entsprungenen, obskuren Sammlungen, die sich aus Kabeln und kaputten Geräten zusammensetzen. Alles, was sie jetzt noch besitzt, passt in einen Rucksack, ihr persönliches Behältnis zum Überleben. „Mein Segen ist ein Rucksack voll mit Kleidung, Lebensmitteln, einem Schlafsack, zwei Rollen Pflaster, einem Schweizer Taschenmesser, einem Seil, einem Feuerzeug. Diese Dinge werden mich am Leben erhalten.“ 

Monsters Rückblicke auf die eigene Kindheit kontrastieren wiederholt die nüchterne und nackte Wirklichkeit, mit der sich die Figur nun auseinandersetzt. Trotz allem bleibt sie leichtfüßig und wertneutral, ihre Sprache versteigt sich nicht. Es wirkt, als versuche die Protagonistin durch das Aufzählen ihrer Erinnerungen neuen Sinn zu stiften. „Aber wie soll ich meinen Weg fortsetzen, wenn er mich nirgendwohin führt? Wie soll ich ohne Wurzeln wieder wachsen?“

Während das erste Kapitel aus der Perspektive der nahezu autistisch anmutenden Ich-Erzählerin authentisch wiedergegeben wird, wirkt die zweite Perspektive vielmehr plump. Die Perspektiven schließen zwar nahtlos aneinander an, doch schleichen sich Logikbrüche und sprachliche Wiederholungen im zweiten Part ein, als hätte die Autorin vergessen, dass sie zum Beispiel die exakt gleiche Schilderung einer Uhr oder einen ähnlichen Dialog Seiten zuvor bereits eingebaut hat. Aus der Sicht des kleinen Mädchens erfährt man, dass Monster, die von dem Kind Mutter genannt wird, sie wortkarg und gefühlskalt aufzieht. Die Heranwachsende sehnt sich nach anderen Menschen, Geheimnissen und Abenteuern und bricht damit mit den Erwartungen der „Mutter“. Beide leben zusammen auf einem Hof nahe einer zerstörten Stadt, auf dem sie eigenes Gemüse anpflanzen und Hühner halten. Die einzige Gemeinsamkeit der beiden sind ihre traumatischen Erlebnisse, über die sie sich allerdings nicht austauschen. So sehr Monster mit ihrer eigenen Mutter das Gefühl eines Zuhauses assoziierte, so sehr ist sie nicht im Stande, dem verwaisten Mädchen beständig Zuneigung zu geben. Ihr Verhältnis ist schließlich geprägt von Ablehnung, Neid und Unverständnis, das in stetigen Intervallen zum Vorschein kommt.

Dennoch sieht das Mädchen das Besondere, das Schöne in der Welt und ist im Gegensatz zu Monster voller Hoffnung. Wenn sie Wörter für Geräusche oder Gegenstände nicht kennt, beschreibt sie diese konsequent mit Hilfe ihres simplen Vokabulars. Originell tritt ebenfalls die starke Naturverbundenheit beider Figuren in den Vordergrund, an der sich letztlich die Sprache stark mit malerischen Vergleichen und Metaphern bedient. 

Hales Roman, der anfänglich die Apokalypse und die damit verbundene Bedeutung der Menschen füreinander reflektiert, wandelt sich massiv mit dem Einsetzen des zweiten Teils, der aus der kindlichen Perspektive wiedergegeben wird. Der naive Grundton hat nichts mehr mit den ursprünglich gesäten Erwartungen einer düsteren Weltzerstörung gemeinsam. Vielmehr finden sich die LeserInnen in den immer gleichen Tagesabläufen und Streitereien der beiden Figuren auf dem Hof wieder. Damit spannt die Autorin immerhin einen vielseitigen Bogen von spannend, philosophisch bis hin zu ermüdend.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Katie Hale: Mein Name ist Monster.
Aus dem Englischen von Eva Kemper.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
384 Seiten, 22,- EUR.
ISBN-13: 9783103974690

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