Die Krise als Machtfaktor

Politiker und andere Kommunikatoren sollten bei diesem Buch genauer hinschauen

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Politik gibt es keinen Unterschied zwischen Reden und Handeln. Politik besteht zu einem beträchtlichen Teil aus dem strategischen Einsatz von Sprache. Vom Tweet bis zum Gesetzentwurf geht es darum, Menschen zu überzeugen, an die Macht zu kommen, Mehrheiten zu finden und inhaltliche Vorstellungen durchzusetzen, um das Zusammenwirken innerhalb der Bevölkerung zu gestalten. Eine wichtige Textsorte ist das Wahlkampfprogramm. Parteien erzeugen besonders dann erfolgreich Aufmerksamkeit für sich und ihr Programm, wenn sie Wege aus einer Krise aufzeigen – und erst recht aus einer, die sie selbst besser erkennen und darstellen können als andere. Politik gibt es auch außerhalb von Krisen und Krisenpostulaten, aber in der Krise kommt Politik in besonderer Weise zu sich.

Severina Laubinger zeigt, dass das gleich zwei Gründe hat, die eng miteinander zusammenhängen. Erstens: Krisen sind Entscheidungssituationen und Politik lebt vom Wettbewerb – zwischen verschiedenen Krisendiagnosen und verschiedenen Vorschlägen zur Krisenbewältigung. Zweitens: Handlungsdruck im politischen Raum ist sprachlich konstituiert und je besser jemand diesen Druck artikuliert, umso größer sind die Chancen, dass er Bürgerinnen und Bürger überzeugt. Mit anderen Worten: Keine politische Krise ohne Rhetorik. Und das heißt auch: Keine politische Lösung ohne Rhetorik.

Die Autorin wehrt sich zu Recht entschieden gegen die Vorstellung, Rhetorik sei Augenwischerei, Ablenkung vom eigentlichen Geschehen, Verzögerungstaktik. In ihrem Buch Die Wirkungsmacht der Krise beschäftigt sie sich damit, wie bundesdeutsche Parteien in ihren Wahlprogrammen von Krisen sprechen. Sowohl auf der theoretischen wie auf der analytischen Ebene erbringt die Untersuchung wichtige und für Politiker, Politikberaterinnen und -berater sowie für die politolinguistische Forschung nützliche Ergebnisse.

Der umfangreiche theoretische Teil mustert drei Konzeptionen von Krise: als objektiv gegebene Situation, die durch den strategischen Spracheinsatz zu entschärfen ist, als diskursives, also sprachlich überhaupt erst hergestelltes Konstrukt und als Ergebnis der Kommunikationsanstrengungen einer Gruppe, der es gelingt, möglichst viele „von der negativen Bewertung eines Sachverhaltes zu überzeugen“.

Drei zentrale Erkenntnisse seien hervorgehoben. Laubinger stellt fest, dass ‚Krise‘ in der Unternehmenskommunikation „mit negativer Berichterstattung über das Unternehmen in den Medien gleichgesetzt“ wird und dass „einheitlich davon ausgegangen wird, dass eine Prävention von Krisen durch Öffentlichkeitsarbeit erfolgen müsse. Maßnahmen, welche einen negativen Zwischenfall inhaltlich verhindern sollen, finden keine Erwähnung.“ Krisenkommunikation ist ein lukrativer Markt, dessen Prämissen und Werkzeugen Laubinger hiermit ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt.

Ein zweiter wichtiger Beitrag auf theoretischer Ebene besteht in Überlegungen dazu, wie die weitgehend unpersonale Diskurskonzeption von Foucault mit der Akteurszentriertheit des politischen Wettbewerbs übereinzubringen ist. Laubinger macht den ambitionierten Vorschlag, im Rahmen einer „rhetorischen Diskursanalyse“ zu untersuchen, „wie die einzelnen DiskursakteurInnen ihre Positionen im Diskurs strategisch durchzusetzen versuchen“. Der späte Foucault sei hierfür anschlussfähig. Der Vorschlag ist in der Tat verlockend.

Drittens fragt Laubinger, von welcher Normalität sich denn die ‚Krise‘ abhebt. Sie argumentiert, dass zu Krisendiagnosen in aller Regel der statistische Beweis für die Abweichung von einem langfristigen, verlässlichen, normativ aufgeladenen Durchschnitt gehöre. Damit wird erklärlich, dass der „Normalismus ein Spezifikum der westlich geprägten, modernen Gesellschaften der Industriestaaten“ ist und dass dieser Normalismus fast unausweichlich mit einer „zunehmenden Krisendiagnose […] seit dem Zeitalter der Industrialisierung“ einhergeht. Laubinger liegt hier auf einer Linie mit Armin Nassehis Theorie der digitalen Gesellschaft, die etwa zeitgleich erschien.

Und wie sehen die Krisendiagnosen in den Parteiprogrammen nun aus? Auch auf der empirischen Ebene sind Laubingers Ergebnisse faszinierend. Die qualitativ-hermeneutische Textarbeit mit ihrem Fokus auf Topoi bewährt sich als Methode, zumal sich manche Erkenntnis auch quantifizieren und grafisch darstellen lässt. Der wohl bedeutendste Befund ist, dass sich beim Einsatz von Krisentopoi Regierungs- und Oppositionsparteien sehr viel deutlicher voneinander unterscheiden als linke und rechte Parteien. Nicht die Ideologie, sondern die strategische Ausgangsposition ist also ausschlaggebend dabei, wie Parteien von Krisen sprechen.

Auffällig ist, dass in den 1950er und 60er Jahren überhaupt nur die SPD von Krisen spricht, und in den vergangenen vier Jahrzehnten insgesamt am häufigsten und am dramatischsten Bündnis 90/Die Grünen – Laubinger nennt sie gar die „‚Partei der Krise‘“. Neue Parteien profilieren sich mit neuen Krisendiagnosen, wie die Toposanalyse eindrücklich erweist. Und um welche Krisen geht es? Wirtschaftskrisen stehen im Lauf der sieben untersuchten Jahrzehnte im Vordergrund, außenpolitische Themen werden deutlich seltener als krisenhaft dargestellt. Persönliche sowie grundsätzliche Systemkrisen werden seltener formuliert als Krisen bestimmter Branchen, Institutionen oder Lebensbereiche.

Die Untersuchung einzelner Topoi ergibt, dass die bundesdeutschen Parteien Krisendiagnosen dann gern mit Eigenlob verbinden, wenn sie bereits Regierungsverantwortung tragen. Krisen eignen sich deshalb zur Profilierung, weil sie Anlass bieten, Führungsstärke, Pläne und Erfolge zu betonen. Den Vorwurf, eine Krise verursacht zu haben, richten dagegen Oppositionsparteien häufiger an die Regierung als umgekehrt. Vorwürfe, eine Krise nicht zu erkennen oder sie zu verschärfen, werden sowohl von Regierungs- wie von Oppositionsparteien geäußert.

Laubinger macht in sorgfältigen Analysen sichtbar, welche Krisentopoi häufig miteinander einhergehen, welche sprachlichen Mittel dabei zum Einsatz kommen (Aufzählung, Metapher etc.) und was das für die Wirksamkeit rhetorischer Strategien bedeuten könnte. Interessant wäre in Bezug auf viele Einzelbefunde der internationale Vergleich – ist zum Beispiel die Verbindung von „Krise“ und „Chance“ nur in deutschen Wahlprogrammen selten? Was würde das über unser politisch-rhetorisches System aussagen?

Laubingers Studie ist also ertragreich und nützlich. Dass auch viele längere Sätze nicht durch einen Punkt vom nächsten getrennt sind, sondern nach einem Komma scheinbar in den nächsten übergehen, erschwert hier und da die Lesbarkeit, und viele Zusammenfassungen sind ein Ergebnis des Bemühens um Leserfreundlichkeit, blähen das Buch letztlich aber mit Wiederholungen auf. Die theoretischen Kapitel beginnen teils bei Adam und Eva (also Aristoteles und Cicero), was oft wie eine Pflichtübung wirkt, aber mit ein bisschen Wohlwollen auch als Verständigung über Grundlagen und als Versuch einer klaren Verortung der Studie begründet werden kann. Besonders zu begrüßen ist, dass die Toposanalyse, die manchmal zwischen ‚Narrativen‘ und ‚Frames‘ zerrieben wird, hier wirklich ihre Stärken beweisen kann.

Titelbild

Severina Laubinger: Die Wirkungsmacht der Krise. Strategischer Einsatz des Krisen-Topos in den Parteiprogrammen der BRD von 1949 bis 2017.
De Gruyter, Berlin 2020.
386 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110664973

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