Die Gefangenschaft des Menschen

Jean-Paul Dubois brillanter und zutiefst humaner Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ erzählt von der Frage nach dem glückseligen Leben

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ich-Erzähler dieses Romans sitzt im Gefängnis von Montréal, in das er als Strafe für eine Tat, über die wir als Leser/innen erst am Ende Genaueres erfahren, am 4. November 2008 – dem Tag vor Barack Obamas Wahl zum Präsidenten der USA – eingewiesen worden ist. Im Januar 2010, nach 14 Monaten Haft eines auf zwei Jahre angesetzten Strafvollzuges, beginnt der am 20. Februar 1955 in Toulouse geborene Paul Christian Fréderic Hansen seinen Lebensrückblick. Was wir von den Stationen seines Lebens und der Geschichte seiner Vorfahren erfahren, ist an Normalität, ja vielleicht sogar Banalität, kaum zu übertreffen:

Seine protestantische Erziehung und die tiefen Verunsicherungen, die sie in seinem Inneren hinterlassen hat, taugt ebenso wenig zur unerhörten oder erschütternden Begebenheit wie seine hingebungs-, beinahe aufopferungsvolle Pflichterfüllung über 25 Jahre als Hausmeister einer luxuriösen Wohnresidenz namens „Excelsior“. Etwas mehr Aufmerksamkeit findet da schon das wunderlich anmutende ungleiche Paar, das seine Eltern mit dem Vater als protestantischem Pastor und der revolutionär-subversiv und 68er-bewegten Mutter abgeben. Dennoch legt man, einmal mit dem Lesen begonnen, diesen Roman so schnell nicht wieder aus der Hand und wenn, dann nur, um kurz innezuhalten angesichts der Wucht der gedanklichen Bilder und erzählerischen Reife dieses Textes und der – offenbar auch glänzend ins Deutsche übertragenen – Poetizität seiner Sprache.

Denn nahezu alles in diesem Roman, jede Handlung, jeder Schauplatz, jede zwischenmenschliche Konstellation wird zum Gleichnis, erhält vielleicht gerade durch die Einfachheit der Handlung und Lebensgeschichte des Pastorensohnes Paul Hansen jenen gleichnishaften Charakter,in dem alles Irdisch-Vergängliche gerade nicht mit einem metaphysischen Bedeutungsgehalt überschrieben wird, sondern dieses einzelne Leben mit all seinen Verflechtungen nur exemplarisch für das (vergebliche) Streben und Scheitern menschlichen Daseins insgesamt steht. 

Hansens Bewährungshelfer stellt relativ am Anfang des Berichts im Rahmen eines von Hansen wiedergegebenen, aber nicht kommentierten, Gesprächs eine zentrale Frage, die sich innerfiktional zwar an Hansen richtet, die aber auch als Leitfrage programmatisch über dem gesamten Roman stehen kann: Wer gehört wo im Leben hin? Warum ist jemand wie Hansen, mit diesen Eltern, mit diesen (Bildungs-)Voraussetzungen nur Hausmeister und schließlich straffällig geworden. Der Bewährungshelfer beantwortet die Frage für sich nur in der pauschalen Feststellung, dass Hansen nicht ins Gefängnis gehöre – und auch der Roman selbst gibt keine Antwort auf diese Frage, sondern entfaltet präzise und wortreich die psychologische und pathologische Verfasstheit von Gefangengen und Gefangensein, was hier natürlich permanent in einem doppeldeutigen Sinn zu verstehen ist. Denn der Gefangene Hansen ist der in seinen Gefühlen, Wünschen und existenziellen Fragen, seiner sozialen und familiären Umgebung verstrickte, gefangene moderne Mensch der Gegenwart.

Mit dieser strukturellen Anlage des Romans gelingt Dubois natürlich ein erzählerischer Coup: Einerseits bedient er damit die auf Spannung abzielende Gattungsfolie des analytischen, rückblickend erst die gegenwärtige Situation auflösenden Lebensberichtes. Andererseits – denn die Spannung resultiert eben nicht nur aus der Tatsache, dass die Leser/innen erst zum Schluss erfahren, was es mit den immer genannten drei Toten auf sich hat – öffnet diese Frage nach dem Wesen und richtigen Ort für den einzelnen Menschen eine philosophische Ebene, die ungleich fesselnder ist als die nur als Vehikel dienende Kriminalgeschichte. Dass Hansens Erzählen vom Alltag, von den Umbruchszeiten der späten 1960er Jahre oder auch vom Gefängnisalltag nicht langweilt oder ins Banale abzudriften droht, dass seine Erzählung von Kultur- und Alltagsgeschichte als Individual- und Weltgeschichte als Konzept aufgeht, liegt vor allem an seiner suggestiven und ungemein dichten Sprache, die aber nichts Angestrengtes oder Anstrengendes hat.

So wird immer wieder die Spielsucht seines Vaters und die damit verbundene Veruntreuung von Gemeindegeldern erwähnt, was dann in seinem letzten Spiel mit seinem letzten Geld in der Spielbank kulminiert und schließlich die ganze Tragweite und den Endpunkt der väterlichen Verfehlungen darstellt – und womit auch der endgültige Zerfall einer eigentlich musterhaften Familie besiegelt wird. Der Erzähler vergegenwärtigt den Leser/innen die Szenerie, in der der Vater das Rollen der Roulette-Kugel in die richtige Farbe erwartet und doch schon weiß, dass das kein gutes Ende nehmen wird. Jenes Ereignis, das das Ende seiner Familie bedeutet, kommentiert der Erzähler nur knapp, aber ungeheuer eindrucksvoll: „In der Sekunde, da das Rad zum Stehen kam, verwandelte sich mein Vater in einen kleinen Dieb, einen unerwünschten Ausländer mit Daueraufenthalt, der von seiner Diözese bald vorgeladen und abgesetzt, von seiner Bank belangt und unweigerlich mit einem Gerichtsverfahren konfrontiert würde.“ Solche Textstellen sind Beispiele für Hansens Erzählweise und Dubois’ geniale Romankomposition und prägen den gesamten Text. Die Meisterschaft dieses Romans zeigt sich in der ungeheuren Assoziationsdichte der scheinbar lapidaren Lebensstationen und Ereignisse und in dem Subtext dessen, was erzählt wird, bei dem so vieles mitschwingt, was eben nicht erzählt wird.

Hansens Haft-Situation ist natürlich konstitutiv für die Richtung, die sein Nachdenken über sein Hausmeisterdasein, sein Verbrechen und seine – offenbar verlorene – Frau nimmt: Als Gefangener, der über die Bedingungen für ein glückendes, glückliches und schließlich scheiterndes Leben nachdenkt, entzünden sich die bedeutenden Gedanken gerade in der Konfrontation mit der Tatsache, dass man selbst in Gefangenschaft und vom Leben ausgeschlossen ist, dabei aber auch ein Gefühl der Gleichzeitigkeit empfindet, dass „die Menschen draußen glücklich sind – und das nicht wissen“.

Der Titel des Romans geht im Übrigen auch auf ein Zitat einer seiner Figuren zurück: Hansens Vater gebraucht die Worte – „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ – in einer Predigt, schon in dem Wissen, dass sein berufliches und privates Leben an ein Ende gelangt ist.

Ursprünglich stammten sie aber wiederum von seinem Vater, der sie gebrauchte, um die „Verfehlungen jedes Einzelnen zu mildern“. Diese Milde oder auch Barmherzigkeit wird Hansens Vater nicht mehr zuteil. Die gleichzeitig verstörende, erhellende, beängstigende und ermutigende Wirkung dieses Romans verdichtet sich im Titelzitat insofern noch einmal, als die vom Großvater Hansens noch als Instrument der Versöhnung und Heilung benutzte Formel spätestens in der Biographie und Lebenswelt seines Enkels, dem Ich-Erzähler dieses Romans, nur noch als die ernüchternde, ohne Trostperspektive auskommende Kontrafaktur des christlich-johanneisch-paulinischen „ut unum sint“-Gedankens – dass wir alle eins seien – erscheint.

Titelbild

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise.
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver.
dtv Verlag, München 2020.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282406

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