In Bildern schreiben und mit Wörtern sehen

Mit „Zorn und Stille“ arbeitet Sandra Gugić ein Stück jugoslawische Geschichte auf

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Eltern emigrieren, wollen sie oft einerseits, dass ihre Kinder sich dem neuen Zuhause anpassen, andererseits auf keinen Fall den Bezug zu Sprache, Kultur und Herkunftsland verlieren. Wie sehr das schiefgehen kann, erzählt Sandra Gugić in ihrem Roman Zorn und Stille. Hier löst sich die Protagonistin Biljana Banadinović von ihrer Familie, der Heimat der Eltern und deren Werten. Sie wird, um von der Geschichte Jugoslawiens nicht ständig eingeholt zu werden, zur Fotografin und Fotokünstlerin Billy Bana.

Ähnlich wie die Tochter später, hatten auch ihre Eltern Sima und Azra in ihrer Jugend Veränderung gesucht und viel riskiert. Sie waren zunächst dem patriarchalischen Dorf- und Hofleben nach Belgrad entflohen, weil sie unter den Wutausbrüchen und Strafen ihrer Väter litten, die – wie Simas Vater – selbst die eigenen Ehefrauen „schlechter behandelte[n] als eine Dienstmagd“. Die Kinder waren Eigentum der Erwachsenen und hatten sich zu fügen.

Aus Belgrad zogen sie bald in den goldenen Westen, wo sie dann schon in Wien hängenblieben. Aus den Bauernkindern wurden Gastarbeiter. Sie holten die kleine Biljana nach, bekamen noch einen Sohn und richteten sich in einer „schuhschachtelgroßen Substandardwohnung“ ein. Sie versuchten, wie die meisten Migranten, fürs Erste wenig aufzufallen und etwas aufzubauen. In ihren schwierigen Momenten holten sie ihre jugo-nostalgischen Bilder hervor – das erste Mal am Meer, der gemeinsame Aufbruch nach Wien –, um dem Alltag weiterhin trotzen zu können.

Biljana aber reicht das neue Glück der Eltern nicht, sie empfindet das angepasste Leben als unerträglich. Sie wächst in Wien auf, spricht zu Hause Jugo, ein Kauderwelsch aus Österreichisch und Serbisch, und fährt nur anfangs noch mit den Eltern zu Besuch in deren Heimat. Mit 16 reißt sie von Zuhause aus, lässt den geliebten kleinen Bruder zurück und entscheidet zum ersten Mal selbst, zu wem und wohin sie gehört. Ihre neue Freundin, Ira Goldfarb, lässt sie den Leitsatz der Eltern – Was werden die Leute von uns denken? – endlich vergessen. Während der Vater alsbald angesichts des sogenannten Heimatkrieges seinen Nationalstolz entdeckt, wendet sich Billy der Freiheit im hierarchielosen Hausbesetzer-Kollektiv zu. Rückblickend fragt sie sich: „Wie konnte das Wort Heimat meinem Vater so viel bedeuten und mir so wenig?“

Die mediale Berichterstattung über die kriegerischen Zustände im zerfallenden Jugoslawien wird Auslöser erbitterter verbaler Gefechte zwischen Vater und Tochter. Die Eltern

waren überzeugt alles sei Propaganda gegen unsere Leute. Ich verstand nicht, wer unsere Leute sein sollten, warum wir plötzlich Serben waren. Die Berichte waren eine Bedrohung ihres Selbstbilds, eine Bedrohung des Bildes der Heimat, eine Bedrohung des Bildes der unhinterfragten Wirklichkeit, eine Bedrohung der Richtigkeit der Perspektive, es musste an einer Schieflage der Perspektiven liegen, wer für die einen als Nationalheld und für die anderen als Volksfeind galt.

Kein Krieg ohne Bilder – ohne Bilder kein Krieg? Würden Kriege ohne bildliche Repräsentation, fragt sich der Leser, überhaupt in das öffentliche Bewusstsein eindringen? Haben womöglich Bilder einen höheren Anspruch auf Authentizität als andere Mittel der Information? Sie haben zumindest die Macht, auch durch ihre Unterschlagung, den Hass der gegnerischen Seiten zu schüren und Familien zu entzweien. So bricht auch der gedankliche Graben der in Wien sozialisierten Tochter zu ihrem Vater auf. Die häufigen Anrufe, bei denen die fremde Stimme nur fragt: „Serben oder Kroaten?“, machen Billy zunehmend sprachlos. Der auferlegte Zwang zum Bekenntnis zu einer Nation, die ihr nichts mehr bedeutet, treibt sie schließlich in die Flucht: Die Fotografin verlässt mit ihrer Freundin Ira Wien und Familie, lebt ein unstetes Leben mal in Berlin, mal wieder in Wien oder in Budapest. Nicht nur in Ex-Jugoslawien hat man die Bilder verändert, „damit sie zur Erinnerung passen“.

Die Autorin zeichnet nicht nur mit Billy, sondern auch mit ihrer Großmutter und ihrer Mutter starke Frauenfiguren, die in ihren Zeiten und Umgebungen aufbegehren und ihren eigenen Weg gehen. So lebte die mit 14 Jahren verheiratete Großmutter, nachdem sie zwei Jahre lang nicht schwanger wurde, ausgestoßen am Rande des Dorfes, bei Marica, einer Moped fahrenden Malerin aus Belgrad, die sie aufnahm und damit „die Ordnung der Dinge im Dorf“ störte. Gugićs Geschichten über Frauen sind eben auch Geschichten über Frauensolidarität.

Wie bereits in ihrem Debüt Astronauten (2015) findet die Autorin auch in diesem Roman für die etwas spärliche Handlung ein kunstvolles Arrangement. Einem Prolog über den Flug der Protagonistin zum Begräbnis des Vaters nach Belgrad folgen vier Kapitel: Eingerahmt von der Perspektive Billy Banas wird in einem Kapitel aus der Perspektive der Mutter und im nächsten aus der des Vaters erzählt. Die verschiedenen Blickwinkel auf die gleichen Ereignisse ermöglichen der Autorin, den Ausgang einer heiklen Situation oder die Reaktion auf einen unbedacht hingeworfenen Satz hinauszuzögern: Stößt die Tochter den Vater vor den Kopf, erfährt der Leser erst viele Seiten später aus der Vaterperspektive, was genau Billy getan hat und wie das beim Vater angekommen ist.

Trotz des fehlenden Verständnisses politisch-emotionaler Natur, werden die Familienbande bei den Banadinovićs nicht ganz gekappt. Beide Eltern verurteilen und verstoßen ihre Tochter nicht. Die Mutter bringt anfangs heimlich Lebensmittel zum besetzten Haus und der Vater sammelt stolz Zeitungsberichte über die Künstlertochter Billy Bana. Aber zurückholen und umstimmen können sie sie nicht. Für ihren kleinen orientierungslosen Bruder ist Billy das große Vorbild. Er taucht in Wien immer wieder bei ihr auf und versucht, in dem er sich ihr auch in Berlin aufdrängt, mit ihrer Hilfe den Sinn für sein Dasein zu finden.

Während im Leben der Fotografin Billy Bana Bilder im Vordergrund stehen, auch die, die sie nicht selbst fotografiert hat, sind Gugićs Werkzeug Wörter wie „Urlaubsfluggastenthusiasmus“, „Vielfliegerbusinessarroganz“ oder „Mondlandung“, die für die alljährliche Ankunft im Dorf bei den Großeltern steht. Die Protagonistin spricht durch ihre Bilder, die Autorin zeichnet ihre Figuren gekonnt und präzise mit Wörtern. Dabei überlässt sie die Wertung gern dem Leser, widerspricht so wortlos manchem Stereotyp.  

Wenn Sandra Gugić sich mit diesem Roman die jugoslawische Vergangenheit, die ihr natürlich immer zugeschrieben wird, in gewisser Weise weg-schreiben will, dann lässt sie dies ihre Hauptfigur wirklich lückenlos tun: Jedenfalls nehmen Tito, Milošević, Karadžić, Praljak und Vučić wesentlich mehr gedanklichen Raum ein, als der Aktionskünstler Otto Muehl, Jörg Haider oder die österreichische Landespolitik – allesamt übrigens Männer mit zweifelhaftem Einfluss auf ihr Umfeld und dessen Geschichte. Es steckt wirklich sehr viel Substanz in diesem Roman, ohne die politischen Zusammenhänge und die Ursachen des Krieges zu thematisieren. Während der Vater verzweifelt daran glaubt, dass eine Seite doch die richtige sein musste, verweigert Billy auch 25 Jahre nach Kriegsende „zur Wahrheit der einen und zur Wahrheit der anderen“ Stellung zu beziehen und verurteilt den weiter anhaltenden „Nachkrieg um Erinnerung und Bewältigung“.

Nach diesem Roman ist es gut möglich, dass Sandra Gugić in Zukunft nur noch Themen bearbeiten wird, die nichts mehr mit Jugoslawien zu tun haben. Das hängt davon ab, wie viel Alter Ego in Billy Bana steckt und ob in ihr der Zorn oder die Stille überwiegt.    

Titelbild

Sandra Gugic: Zorn und Stille.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455009767

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