Man tut ja alles, um der eigenen Seele zu entgehen

Mit „Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden“ hat Lori Gottlieb ihr eigenes und das Leben ihrer Patienten zu einem Bestseller über Psychotherapie verwoben

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichten von Psychotherapeuten oder Psychiatern, aber auch von Patienten sind kein neues Phänomen – von Joanne Greenbergs Klassiker I never promised you a rose garden (1964) über Oliver Sacks’ Fallberichte, von denen Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte wohl der bekannteste Titel ist, bis hin zu Irvin Yalom, der nicht nur maßgebliche Fachliteratur zur Gruppenpsychotherapie verfasste, sondern auch zahlreiche Bestseller-Romane wie Und Nietzsche weinte (1993). Mit welchen Pfunden könnte Lori Gottliebs Bestseller Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden in dieser illustren Ahnenreihe des Psychotherapie-Genres wuchern und bestehen?

Nun, zunächst einmal weiß die Autorin, wie Storytelling funktioniert. Lange bevor sie ihre Berufung als Psychotherapeutin fand, war sie bereits Drehbuchschreiberin bei erfolgreichen Serien für das US-Fernsehen. Das ist stilistisch von Seite eins an spürbar: knapp, pointiert, leichtfüßig – das Buch hat Pageturner-Qualitäten. Auch Dramaturgie und Timing, mit dem die verschiedenen Erzählstränge ineinander geblendet werden, dürfen getrost als Vorlage für jedes Creative Writing Seminar herhalten: Die alte, einsame, verbitterte Ruth, der erfolgreiche, narzisstische, notorisch unter Strom stehende John, die junge, sterbenskranke Julie, die trinkende, stets unglücklich verliebte Charlotte – sie geben sich im Therapiezimmer die Klinke in die Hand und Gottlieb entfaltet mit Feingefühl die Tragik ihrer Lebens- und Leidensgeschichten. Das ist emotional, menschlich und bewegend.

Gottlieb spürt den bewussten und unbewussten Seelenregungen ihrer Patienten nach, zwischen Sehnsucht, Verzweiflung, Abwehr, Vermeidung, Trauer und Wut. Sie macht aber auch ihre eigenen Gedanken und ihr Vorgehen als Therapeutin transparent und räumt dabei mit einigen Mythen über Therapeuten und psychotherapeutische Behandlungen auf. Dazu gehören auch, in gut verdaulicher Dosierung, Reflexionen zu klinisch-therapeutischen Fragen und zu ihrem eigenen Verständnis psychischer Störungen.

Sie wirft Licht ins Dunkle der Patientenseele, aber auch in die eigene. Ein wesentlicher, vielleicht der spannendste Teil des Buches sind ihre autobiographischen Berichte: Erfahrungen in der TV-Industrie, ihre Ausbildung zur klinischen Psychologin und insbesondere die Kapriolen ihres Privatlebens, die sie offen schildert – bis hin zur Zeugung ihres Sohnes mithilfe einer Samenbank. Vor allem aber nimmt sie ihre Leser auch mit zu ihrem eigenen Therapeuten Wendell und den Selbsterkundungen, die sie dort auf sich nimmt:

Selbstverständlich schlagen Therapeuten sich genauso mit den täglichen Herausforderungen des Lebens herum wie alle anderen Menschen auch. Und es ist eben die Vertrautheit mit diesen Schwierigkeiten, aus der die Bande erwachsen, die wir zu Fremden knüpfen, die uns ihre schwierigsten Geschichten und Geheimnisse anvertrauen.

Insgesamt gewinnt Gottliebs Text damit eine tendenziell aufklärerische Dimension, insofern Psychotherapie von beiden Seiten des Geschehens realistisch und facettenreich dargestellt wird: Weder Wissensvermittlung noch Deutung stehen hier im Mittelpunkt, sondern ein Beziehungsgeschehen, in dem emotionale Muster sichtbar werden können.

Dem Buch ließe sich wohl sein Zuschnitt aufs Massenpublikum, sein etwas weichgespülter Grundton vorhalten, seine wohltemperierte Durchkomponiertheit, welche die Verfilmung fürs US-Fernsehen (Hauptrolle: Eva Longoria) bereits antizipiert zu haben scheint. So hält sich Gottlieb fachlich auch nicht mit allzu sperrigen Themen auf wie etwa dem Scheitern von Therapie, mit chronifizierten Verläufen, psychosomatisch-verhärteter Sprachlosigkeit, veränderungsresistenten feindseligen Charakterdeformationen und ähnlich unerfreulichen klinischen Phänomenen.

Andererseits, vielleicht bekommt dem tiefschürfenden Sujet die Leichtigkeit der Erzählerin auch gar nicht schlecht. „Man tut ja alles, auch das Absurdeste, um der eigenen Seele zu entgehen“, schrieb C. G. Jung und Gottlieb stellt diese Zeilen ihrem Buch voran. Um dann knapp vierhundert Seiten später, mit Blick auf ihren eigenen therapeutischen Prozess, daran anzuknüpfen: „Schwierige Wahrheiten einzugestehen hat seinen Preis – die Notwendigkeit, sich ihnen zu stellen –, aber es hat auch einen Lohn: Freiheit. Die Wahrheit befreit uns von der Scham.“

Titelbild

Lori Gottlieb: Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden.
hanserblau, Berlin 2020.
528 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446266049

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