Der Wunsch nach einem besseren Leben – unserem Leben?

Lucia Leidenfrost erzählt von Hoffnung in einer Mischung aus nüchterner Dystopie und kindlicher Wahrnehmung

Von Julia SteinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Steinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es herrscht Krieg, die Flugzeuge kreisen, nach und nach verlassen die Erwachsenen – zunächst die Eltern und Kinderlosen, dann auch die Großeltern – das Dorf, weil sie eingezogen werden, keine Arbeit finden oder schlichtweg vor ihren eigenen, auf sich gestellten Enkeln fliehen. Zurück bleiben 19 Kinder in einem Dorf ohne Perspektive. Doch ein Mädchen tanzt aus der Reihe, weigert sich, die Regeln zu befolgen und ein Teil des kollektiven Körpers zu werden. Mila kocht oder flüchtet in die Bibliothek der Schule, um zu lesen, während die anderen über den Vorrat an Gummischlangen herfallen oder Waffen basteln. Sie glaubt schon lange nicht mehr, dass die Eltern, wie versprochen, zurückkommen. Sie ist die Stimme der Vernunft, das Kind, das am schnellsten gelernt hat, erwachsen zu werden, und dadurch in Missgunst gerät.

Dieses dystopische Szenario eines vom Krieg gebeutelten und von den Erwachsenen verlassenen Dorfes ist Dreh- und Angelpunkt des Romandebüts Wir verlassenen Kinder der österreichischen Schriftstellerin Lucia Leidenfrost. Sie ist Co-Gründerin des Kollektivs für Junge Literatur Mannheim und engagiert sich dafür, den Wert von Literatur in einer größeren Öffentlichkeit sichtbar zu machen.

Der Wert ihres Romans liegt vor allem darin, einer Generation, die Krieg glücklicherweise nur aus Erzählungen der Großeltern, Filmen oder Büchern kennt, dessen Folgen und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit vor Augen zu führen. Besonders die fehlende historische und geografische Einordnung der erzählten Welt lässt die Bedrohung so nah wirken. Und auch das erträumte bessere Leben wie in einem Puppenhaus, das die Kinder früher im Schaufenster gesehen haben, ist für viele von uns bereits zu einer Selbstverständlichkeit geworden:

In dem Puppenhaus, das wir uns holen möchten, ist für jedes Kind ein eigenes Zimmer […] und im Wohnzimmer neben der Couch steht ein Stubenwagen mit einem Baby darin und das Baby wird vom Vater auf den Arm genommen, wenn es schreit. Der Vater geht auch nicht ins Wirtshaus, sondern jeden Wochentag zur selben Zeit aus dem Haus, und kommt jeden Tag wieder nach Hause. Er begrüßt die Kinder im Kinderzimmer, er gibt der Mutter einen Kuss auf die Wange. […] Er setzt sich nicht vor das Radio mit einer Flasche Schnaps, sondern baut mit den Kindern ein Iglu im Schnee, wenn es Winter ist, und ein Baumhaus im Wald, wenn es Sommer ist. […] Am Sonntagnachmittag macht unsere Puppenhausfamilie einen Ausflug und es gibt Eis für jedes Kind.

Der Roman besteht aus vielen kurzen Kapiteln, in denen verschiedene personale Erzähler auftreten oder Briefe von ehemaligen Dorfbewohnern gezeigt werden. Besonders letztere verweisen auf die Alternativlosigkeit und machen wahlweise die Eltern, den Staat, den Teufel oder die Kinder selbst verantwortlich für die Situation im Dorf, die immer aussichtsloser wird. Die Spannung des Romans besteht nicht darin, ob die Eltern ihr Versprechen einer baldigen Rückkehr halten im Gegenteil, besonders die Naivität, mit der sich die Kinder an diese Hoffnung klammern, erschüttert den Leser jedes Mal aufs Neue. Vielmehr ist es spannend zu beobachten, wie sich die Kinder organisieren, Regeln aufstellen und sich doch immer weiter von ihrer Vision eines besseren Lebens entfernen. Ausgenommen davon ist Mila, die sich nicht an den Verhaltenskodex der Kinder hält, sondern nach eigenem Ermessen handelt. Früh stellt sich die Frage: Wann werden diese zwei Ansichten aufeinanderprallen und welche wird sich durchsetzen?

Das Setting erinnert an Der Herr der Fliegen (1954),doch anders als in William Goldings Roman schottet Leidenfrost ihre verlassenen Kinder nicht komplett ab. Die Eltern sind doch immer irgendwie anwesend – ob in Form von Paketen, die sie ihren Kindern schicken, Briefen, in denen sie ihre Entscheidung rechtfertigen, oder der Hoffnung einer baldigen Rückkehr, an die sich die Kinder klammern. Somit blickt Wir verlassenen Kinder nicht nur in eine hypothetische gesellschaftliche Zukunft und fragt: ‚Was passiert, wenn …?‘, sondern betrachtet auch die Vergangenheit dieser hypothetischen Zukunft und stellt die Frage: ‚Wer ist dafür verantwortlich?‘.

Wir verlassenen Kinder grenzt sich nicht nur dadurch von klassischen dystopischen Romanen, wie George Orwells 1984 (1949) oder Aldous Huxleys Brave new world (1932) ab, dass die erzählte Welt statt einer ganzen Gesellschaft lediglich ein kleines Dorf umfasst, sondern vor allem dadurch, dass es Kinder sind, die ihren ‚Kleinstaat‘ organisieren. Durch diese Prämisse und die den Leser begleitenden moralischen Rechtfertigungen der Erwachsenen wandelt sich bei Leidenfrost die gesellschaftskritische Grundaussage des dystopischen Entwurfs: Es steht nicht mehr die Kritik der Modernisierung und Technologisierung im Vordergrund. Vielmehr wird an die Leser appelliert, aktuelle gesellschaftliche Grundwerte wie Frieden und Rechtsstaatlichkeit nicht als Selbstverständlichkeit anzusehen, indem der Roman zeigt, wie schnell diese Prinzipien unterlaufen werden können, wenn Perspektivlosigkeit einsetzt.

Leidenfrost zeigt auch, dass die Ausweglosigkeit nicht nur ein Produkt des endlos scheinenden Kriegszustandes ist, der ständig über den Köpfen der Kinder kreist:

Wir können uns auch noch daran erinnern, dass wir geschlagen wurden von unseren betrunkenen Eltern und Großeltern. Dass wir sie manchmal abholen mussten aus dem Wirtshaus und heimbringen. Aus ihren Mündern hat es gestunken und sie haben sich beim Gehen auf uns abgestützt, weil sie so gewankt haben.

Die Gewalt der Eltern wird ebenso wie die auf den Leser unverhältnismäßig hart wirkenden Strafen der Kinder, die Mila über sich ergehen lassen muss, in einer geradezu verstörenden Nüchternheit geschildert. Dieser nüchterne Erzählstil zieht sich durch den ganzen Roman und manövriert den Leser in einen Zwiespalt aus Erschrecken und Mitleid. Auch die vielfältige Bildsprache kindlicher Erzählungen führt zu einem verstärkten Empfinden des Grauens. So beschreibt Mila die Wutanfälle ihres Vaters beispielsweise anhand einer Spinne:

Vaters Spinne lebt schon lange unbemerkt auf seinem Rücken. Eines Tages hat sie sich dort auf seinem Rücken eingenistet, baut seither keine Netze mehr, sondern ernährt sich von den Stimmungen des Vaters. Sie frisst seine guten Stimmungen, kommt hervor, wenn Vaters Laune schlecht wird. Die Spinne greift mit ihren Beinen nach seinen Augen, in seinen Mund, steckt sie ihm in die Ohren. Deshalb ist er selten in einer guten Art still. Alle guten Gefühle hat er an die Spinne abzugeben.

Die starke Bildsprache lässt Milas kindlichen personalen Erzähler authentisch erscheinen und bietet so eine Identifikationsmöglichkeit für die Leser. Diese wird dadurch verstärkt, dass Mila als eines der wenigen Kinder namentlich genannt wird und nicht im kollektiven, konturlosen Wir untergeht. Dieses Wir treibt die Inszenierung einer Gruppendynamik, wie sie beispielsweise auch in Verena Günters Power (2020) beschrieben wird, auf die Spitze: Denn die Kinder „sind ein Körper geworden“. Es drängt sich daher nahezu auf, den Roman als einen Appell zu verstehen, sich von der Masse abzuheben und, auch wenn es nicht einfach ist, seine Vision von einem besseren Leben zu verfolgen, und zwar nicht mit dem Bauen von Waffen, Beharren auf Regeln und Austragen von Machtkämpfen, sondern durch Bildung und soziales Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen.

Gewiss keine leichte Bettlektüre, aber ein wichtiger, hochaktueller, sozialkritischer Appell: Wir verlassenen Kinder zeigt, dass unser Leben in Frieden mit zahlreichen Perspektiven keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine Errungenschaft, für die es sich einzustehen lohnt. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Lucia Leidenfrost: Wir verlassenen Kinder. Roman.
Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2020.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783218012089

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