Wie schmeckt das Mittelalter?

Barbara und Hans Otzen präsentieren eine Auswahl an (vermeintlich) mittelalterlichen Rezepten

Von Andrea HofmeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Hofmeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach unzähligen Publikationen zu historischen und kulturellen Themen, darunter auch regionalen Kochbüchern, ist das erfolgreiche Autorenduo Barbara und Hans Otzen offenbar auf den Geschmack gekommen, den Buchmarkt um ein weiteres Mittelalter-Kochbuch zu bereichern. Auch wenn das Zielpublikum nicht eigens deklariert wird, kann man unschwer erraten, welche Kreise mit dem erstaunlich preisgünstigen Band bedient werden sollen: Reenactment-Gruppen, Mittelaltervereine sowie Mittelalter-begeisterte Hobbyköch/innen, die stets auf der Suche nach neuen Genüssen aus einer längst vergangenen Zeit sind. Ihnen allen verspricht der Werbetext „Kurzweyl in der Küche, Schlemmerey an der Tafel“, aber auch fundierte Informationen in „aufschlussreichen Exkursen zur mittelalterlichen Kräuterey, zur Jagd und zu original mittelalterlichen Kochbüchern“. Schon das opulente Titelbild lässt einem das Wasser im Mund zusammenlaufen: Darauf prangt in einer rustikalen Eisenpfanne ein mit Speck bardiertes, knusprig gebratenes Vogeltier – wenn da nur nicht als Garnitur Bratkartoffeln zu identifizieren wären … Ob das Buch seinen Ankündigungen gerecht werden kann, sei im Folgenden stichprobenartig untersucht.

Die Hoffnung, durch die Lektüre des attraktiv aufgemachten Bildbandes „im Handumdrehen zu einem Gourmet des Mittelalters“ zu werden, wird leider getrübt: Die einführenden Informationen über „Tafelfreuden auf Ritterburgen“, „Mittelalterliche Kochbücher“ und „Nahrungsmittel und Getränke“ erstrecken sich gerade einmal über zusammengerechnet sieben Spalten des quadratischen Bandes ‒ zu wenig Raum, um in die Tiefe zu gehen, auch wenn das wenige Gesagte im Großen und Ganzen korrekt ist, bis auf die Illustration zum Thema Getränke: einen unkommentierten Holzschnitt aus dem Großen Destillierbuch von Hieronymus Brunschwig von 1512, der zwei vornehm gekleidete Männer bei der Zubereitung von Theriak zeigt, also nicht im Entferntesten mit Kulinarik zu tun hat.

Angesichts derart lakonischer Kürze bleiben wichtige Aspekte auf der Strecke: Man kann nicht angemessen über mittelalterliche Speisegewohnheiten sprechen, ohne die kirchlichen Fastengebote zu erwähnen, denn die standesgemäße Gästebewirtung an Fasttagen war gerade für die Burgherrenküche von zentraler Bedeutung. Genau genommen dürfte auch der Aspekt der Gesundheitslehre auf Basis der antiken Säftelehre und einer ausgewogenen Lebensführung (inklusive Ernährung) nicht außer Acht gelassen werden, denn damit ließe sich etwa das leidige Vorurteil des Überwürzens ein für alle Mal ausräumen: Gewürze wurden ursprünglich als Arzneien eingesetzt und dienten bis weit in die Neuzeit vornehmlich dazu, die Verträglichkeit der Speisen zu fördern. Ihr maßloser Einsatz hätte somit dem Prinzip des Maßhaltens widersprochen, ja nachgerade als Arzneimittelabusus gegolten. Wollte man mittelalterliche Speisen stilecht servieren, wären darüber hinaus Hinweise zur Tafelkultur und zu den elaborierten Tischsitten angebracht, über die sich die höfische Gesellschaft unter anderem definierte. Bei Festmählern wurden in aufeinanderfolgenden Gängen jeweils mehrere Speisen gleichzeitig aufgetragen, von denen man nur kostete, um sich angesichts der dargebotenen Vielfalt immer noch Appetit für den nächsten Gang aufzuheben, während die Autoren des Bandes die einzelnen Gerichte wie selbstverständlich jeweils auf die heute üblichen Sättigungsportionen hin berechnen. Übrigens war in jener Zeit, in der sich die Gabel als Besteckteil noch nicht etabliert hatte, das Essen mit den Fingern kein Indiz für „raue Sitten“. Solch unreflektierte Äußerungen zementieren nur das alte Vorurteil vom Primitivismus unserer Altvorderen.

Dass eine oberflächliche Einlassung auf die Materie bisweilen zu Missverständnissen führt, zeigt sich in der Servierempfehlung für Mandelmilch als Getränk, während diese Zubereitung in der gehobenen Küche des Mittelalters als unverzichtbares Fastensurrogat für Tiermilch eingesetzt und stets aus säuberlich gehäuteten (!) Mandeln hergestellt wurde, um dieser optisch möglichst nahe zu kommen. Falsch verstanden wurde auch ein küchentechnischer Hinweis aus einer französischen Quelle, wenn die Autoren erklären, das Abbrühen des rohen Bratenstücks diene der Säuberung „von oberflächlichen Verunreinigungen“. Abgesehen davon, dass mit dieser Behauptung die küchenhygienischen Standards des Mittelalters grob unterschätzt werden, zielte die Kombination zweier Garprozesse in historischer Zeit darauf ab, die humoralmedizinischen Qualitäten des Fleisches zu optimieren, wie im Tacuinum sanitatis nachzulesen ist.

Mit ihrer Auswahl von insgesamt 54 Rezepten bemühen sich die Autoren, alle Speisentypen einschließlich der Zubereitung von Getränken abzudecken. Zu jedem der Rezepte werden knappe kulturhistorische Informationen geliefert. Ein besonderes Anliegen scheint den Verfassern zu sein, zu jedem der Rezepte eine historische Quelle anzuführen oder zumindest die Bestätigung, dass gewisse Speisenformen und Zutaten bereits in historischer Zeit bekannt und geschätzt waren. Da die ausschließlich aus der sozialen Oberschicht stammenden Kochrezeptüberlieferungen allerdings hauptsächlich Festtagsspeisen enthalten und sich kaum über das Alltägliche wie Basisrezepte für die Zubereitung von einfachen Getreidebreien oder die Herstellung von Brot äußern, die schon wegen der dafür nötigen Infrastruktur (Backofen) nicht in den Bereich der Küche fiel, sehen sich die Autoren gezwungen, ihre Recherchen auf das weite Feld des mündlich überlieferten Traditionswissens auszuweiten. Andererseits vermisst man in ihrer Sammlung so wichtige Speisentypen wie Eiergerichte, die an gewöhnlichen Fasttagen den Verzicht auf Fleisch erleichterten, Krapfen, die in vielerlei Gestalt gefertigt wurden, Salsen als diätetisch fein abgestimmte Ergänzung zu Fleisch und Fisch, gefärbte Speisen sowie Imitations- und Schaugerichte, die auf keiner Festtafel fehlen durften.

Was den Zeitraum und den geographischen Herkunftsraum der Rezepte betrifft, geben sich die Autoren großzügig: Die Sammlung umfasst Rezepte aus ganz Europa einschließlich des orientalischen Raumes, was den kulinarischen Vorlieben der weltgewandten Adelsgesellschaft des Spätmittelalters durchaus gerecht wird. Anders die zeitliche Ausdehnung der Ritterzeit, die bei Otzens offenbar von der alttestamentlichen Zeit bis um 1900 reicht. Denn mit dem Argument, dass man gewisse Zutaten immer schon kulinarisch verwertet habe, werden etliche neuzeitliche Speisen im Mittelalter verortet, obwohl sie in der heute bekannten Form erst viel später in Erscheinung traten, wie das österreichische Traditionsgericht „Tafelspitz“ (mit Kartoffeln und Apfelkren), das sich erst der Wiener Fleischteilung um 1900 verdankt, und die französische „Zwiebelsuppe“, die mit dem spätmittelalterlichen veganen (Fasten-)Rezept aus Taillevents Viandier nicht viel mehr als die gerösteten Zwiebeln gemein hat und frühestens im 18. Jahrhundert mit einer überbackenen Käsehaube versehen wurde.

Wohl aus Sorge, den Leser/innen das pure Mittelalter nicht zumuten zu können, gestatten sich die Autoren zahlreiche Anachronismen, nicht ohne zu erwähnen, dass die gesamte Palette der Gewürze und Früchte der Kolonialzeit im Mittelalter hierzulande noch nicht bekannt war. Das wirft die generelle Frage auf, wie viel Mittelalter in den dargebotenen Umsetzungsvorschlägen steckt. Der Befund ist ernüchternd: In fast allen Fällen wird die mittelalterliche Überlieferung zum reinen Stichwortgeber degradiert, indem zwar eine historische Quelle genannt, aber das originale Rezept nicht angeführt wird. Stattdessen folgt gleich ein moderner Umsetzungsvorschlag, wie er bereits aus älteren Publikationen bekannt und vielfach im Internet verbreitet ist. An erster Stelle steht hier der (nicht fehlerfreie) Dauerbrenner von Hans Jürgen Fahrenkamp: Wie man eyn teutsches Mannsbild bey Kräfften hält (sein ‚Steynbrodt‘ ist unter diesem altertümelnden Namen längst zum Klassiker der Mittelalter-Freaks avanciert). Mitunter hat der Zufall den Autoren vertrauenswürdigere Umsetzungsvorschläge von Wissenschaftlerinnen wie der Historikerin Odile Redon (Die Kochkunst des Mittelalters) und der Germanistin Trude Ehlert (Das Kochbuch des Mittelalters) in die Hände gespielt ‒ beide Bücher sind im Internet reich exzerpiert (und dort oftmals sogar ordnungsgemäß zitiert). Doch werden auch diese überlieferungsnäheren Modernisierungen von den Autoren durch Verbesserungsvorschläge systematisch verfremdet. Mitunter wird überhaupt frei assoziativ kurzerhand ein modernes Rezept abgedruckt, dessen Herkunft aus einem der zahlreichen Kochrezeptforen im Internet trotz gewisser Abänderungen anhand von Zusammensetzung, Mengenangaben und speziellen Formulierungen unverkennbar ist: so die „Lammkeule mit Rosmarin und Orangensauce“, das „Hirschragout“, die „Rehkeule in Rotweinsauce“ und der „Karpfen auf Gemüsebett“.

An dieser Stelle scheint ein Blick auf das Urheberrecht gestattet: Während die Erschließung von Überlieferungen durch Edition und wissenschaftliche Kommentierung eindeutig eine schützenswerte geistige Leistung darstellt, verhält sich das bei Kochrezepten an sich weniger eindeutig: Zutatenlisten und die bloße Mitteilung von Arbeitsschritten zur Zubereitung einer Speise allein werden noch nicht als individuelle geistige Leistung gewertet, solche Rezepttexte wären aufgrund mangelnder Schöpfungshöhe gemeinfrei. Sobald die eigentlichen Kochanleitungen jedoch durch Angaben zur Herkunft, Geschichte et cetera oder durch spezielle Serviervorschläge in einer originellen Sprachform (wenn auch nicht unbedingt auf literarischem Niveau) angereichert sind, haben sie als Schriftwerke Anspruch auf urheberrechtlichen Schutz. Insofern hätten die beiden Otzens selbst Schutzwürdiges geschaffen, wenn es denn ihre eigene geistige Leistung wäre. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich aber viele ihrer Rezepte als Kompilation, wenn nicht gar wörtliche Übernahmen aus nicht deklarierten Internet- und Printquellen. In welchem Ausmaß der Tatbestand des Plagiats vorliegt, mögen Berufenere beurteilen. Die Nennung der Sekundärquellen – wenn schon nicht en detail, so wenigstens pauschal in Form einer beigeschlossenen Bibliographie – wäre nicht nur eine moralische, ja sogar gesetzliche Verpflichtung zum respektvollen Umgang mit der Leistung anderer gewesen, sondern hätte all jenen Leser/innen einen echten Mehrwert gebracht, die sich in die Thematik weiter vertiefen möchten.

Wesentlich klarer äußert sich das Urheberrecht in Bezug auf Abbildungen: Fotografien dürfen ungeachtet der Gestaltungshöhe keinesfalls ohne Zustimmung des Rechteinhabers übernommen werden. Dieser gesetzlichen Bestimmung tragen die beiden Autoren pflichtgemäß Rechnung, indem sie für einen Großteil der Fotos im Abbildungsverzeichnis die Quellen angeben: Dabei handelt es sich durchwegs um Stockfotos, also um Bilder, die von diversen Agenturen zugekauft wurden. Dass alle übrigen Fotos selbst angefertigt worden seien, stimmt allerdings nicht: Mehrere (unbeschriftete) Abbildungen stammen aus historischen Quellen, konkret drei Miniaturen mit Jagdszenen aus dem Codex Manesse sowie zwei Holzschnitte aus online verfügbaren Frühdrucken. Ebenfalls zweifelsfrei als Übernahme aus dem Internet nachzuweisen sind schließlich zwei Fotos, deren Deklaration man schlicht vergessen haben dürfte: die Abbildung zu den „Gefüllten Wachteln“ (mit Cocktailtomaten als Garnitur!) und jene zum norwegischen Nationalgericht „Får i kål“, einem Eintopf aus Hammelfleisch und Kohl mit Kartoffeln (!), der der Legende nach auf einen Wikingerkönig im 10. Jahrhundert zurückgeht. Dieses Foto kommt auf mehreren Webseiten zum Einsatz und wurde für den Band, aus welchem Grund auch immer, beschnitten und seitenverkehrt montiert.

Es stellt sich also die Frage, welchen Nutzen die Publikation für das mutmaßliche Zielpublikum besitzt, enthält das Buch doch kaum Informationen und Erfahrungswerte, die man nicht anderswo selbst auffinden könnte, ja die zugekauften Abbildungen lassen gar den Verdacht aufkommen, dass die Rezepte nicht einmal selbst erprobt wurden. Enttäuschend ist schließlich, wie halbherzig die Autoren sich ihrem Thema widmen, wie wenig Mut zum Experiment sie an den Tag legen. Zwar stimmt es grundsätzlich, dass „jede Realisierung eines mittelalterlichen Rezeptes […] notwendigerweise Interpretation und Versuch [bleiben muss], sich dem anzunähern, was der mittelalterliche Kochbuchautor gemeint haben könnte“ (Trude Ehlert), jedoch ist es sehr wohl möglich, mit Hilfe der reichlich vorhandenen Forschungsliteratur und durch Vergleich der heutzutage immer zahlreicher durch Editionen und Übersetzungen vorliegenden Kulinarik-Überlieferungen aus ganz Europa ein Stück weit zu rekonstruieren, wie Ritterspeisen einst ausgesehen und geschmeckt haben könnten. Da aber eine Annäherung an den Geschmack der historischen Kulinarik gar nicht erst versucht wird, bringt dieses Buch für Leser/innen mit echtem Interesse an mittelalterlicher Küche leider wenig Erkenntnisgewinn.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Barbara Otzen / Hans Otzen: Ritterspeisen. Das Beste aus der mittelalterlichen Burgherrenküche.
Regionalia Verlag GmbH, Rheinbach 2018.
96 Seiten , 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783955402365

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