Vom Lügen und Erwachsenwerden

Elena Ferrantes neuer Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ erzählt die Coming-of-Age-Geschichte einer jungen Frau

Von Sandra FolieRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Folie

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieder Neapel. Der neue Roman Elena Ferrantes beginnt allerdings nicht ‚unten‘, in einem ärmlichen Viertel der Stadt, sondern im kultivierten Rione Alto; nicht in den 1950er, sondern in den 1990er Jahren und nicht in einem Arbeiter*innen-, sondern in einem Intellektuellen-Milieu. Die Geschichte kreist um eine Kernfamilie, die den sozialen Aufstieg bereits hinter sich hat, und in deren Tochter – der Ich-Erzählerin – Ferrante-Leser*innen manchmal, fast unweigerlich, eine Nachfahrin der Lenù aus den neapolitanischen Romanen sehen werden. Obgleich Parallelen zur Tetralogie bestehen und die derbe Stimme Lilas – Lenùs bester Freundin und zugleich größter Konkurrentin – in zahlreichen Dialogen widerhallt, handelt es sich um eine eigenständige Geschichte: Jene der Teenagerin Giovanna, die dazu erzogen wurde, gut und wahrhaftig zu sein.

Diese bis zu Giovannas dreizehntem Lebensjahr unhinterfragten Grundfeste ihrer humanistischen Erziehung und ihres wohl behüteten Lebens beginnen schlagartig zu bröckeln, als eines kalten klaren Februartages der Vater zur Mutter sagt, dass seine Tochter „sehr hässlich“ sei. Auch wenn dies nicht die exakten Worte des stets gut gekleideten, freundlichen und hochangesehenen Gymnasiallehrers waren; dieser vielmehr flüsternd feststellte, dass seine Tochter allmählich „wie seine Schwester wurde“, so ist das doch die Botschaft, die bei Giovanna ankommt. Und es handelt sich dabei weniger um eine kindliche Übertreibung als vielmehr um einen Euphemismus, denn Vittoria verkörpert ihrem Bruder zufolge nicht nur „die Hässlichkeit“, sondern auch „die Boshaftigkeit in Person“. Sie wird als „Monster“ beschrieben, „das jeden besudelt und infiziert, der mit ihm in Berührung kommt“, und das bei den Eltern „Ekel und Angst“ auslöst – eine Befindlichkeit, die bisher Elternsache war, die nun aber, unmittelbar damit in Verbindung gebracht, auch Giovanna zu kümmern beginnt.

So macht sich die junge Protagonistin, die seit einiger Zeit mit pubertären Stimmungsschwankungen, wachsenden Brüsten, ihrer Menstruation und erwachenden Sexualität ringt, auf die Suche nach der Wurzel dieses Übels; eine Suche, die sie zunächst zu der – ihr bislang unbekannten – Tante Vittoria tief hinunter in ein heruntergekommenes Industrieviertel Neapels und ins Elternhaus ihres Vaters führt, zu rauen Umgangsformen und zu einem Dialekt, der bei ihnen „zu Hause tabu war“. Vittorias Gesicht erweist sich, zu Giovannas Überraschung, als „so ausgeprägt unverschämt […], dass es zugleich sehr hässlich und wunderschön gewesen war“, weshalb sie „nun ratlos zwischen beiden Extremen schwankte“. Dieses Hin- und Hergerissensein bezieht sich immer mehr auch auf Giovanna selbst, die lernt, dass ihr Vater Andrea, der in „vollkommener Autonomie“ zu leben schien – „ganz als hätte er gar keine Blutsverwandten, ganz als hätte er sich selbst gezeugt“ – nicht der ist, der er zu sein vorgibt; dass die Werte, mit denen sie erzogen worden ist, von ihren Eltern zwar eingefordert, aber nicht gelebt werden: „Also, was ging in der Welt der Erwachsenen vor, im Kopf von höchst vernünftigen Menschen, in ihren ideenbeladenen Körpern? Was reduzierte sie auf denkbar unberechenbare Tiere, schlimmer noch als jede falsche Schlange?“

Nicht nur Hässlichkeit und Schönheit, sondern auch Vulgarität und Kultiviertheit, Ekel und Lust vermischen sich immer öfter. Die jahrelange Affäre von Giovannas Vater mit der Mutter ihrer besten Freundinnen, die auch die Freundin ihrer Mutter war, wird nicht schöner oder weniger hässlich, nur weil sie unter dem Deckmantel der Kultiviertheit von statten ging. Dass Andrea wenige Jahre, bevor er diese Affäre begann, jene seiner Schwester Vittoria gewaltsam beendet und sich als moralische Instanz der Familie aufgespielt hatte, weist ihn zudem als Heuchler aus. Von Heuchelei und Chauvinismus ist sie sowieso randvoll, diese Welt der Erwachsenen, in der die Scham über den plötzlichen schulischen Misserfolg der Tochter bald das einzige Gefühl ist, das die Eheleute noch verbindet. Während jedoch Nella, Giovannas Mutter, an der Trennung beinahe zugrunde geht (so wie vor ihr schon Vittoria an ihrer Liebe zugrunde ging und nach ihr deren ‚Nichte‘ Giuliana zugrunde gehen wird), zieht Andrea mit seiner reichen Geliebten zusammen und lebt weiter wie zuvor oder – mit nunmehr drei Töchtern statt einer, einem etwas größeren und helleren Arbeitszimmer und all den Annehmlichkeiten, die Bedienstete mit sich bringen – vielleicht sogar noch ein klein wenig besser als zuvor. Giovanna erkennt, „[w]ie viel Macht Männer doch haben, sogar die erbärmlichsten“.

Sie selbst findet sich zunehmend in sexuell übergriffigen Situationen wieder, die sie zwar einerseits mit herbeiführt, weil sie ihr das Gefühl von Ungehorsam und Selbstbestimmung geben und sie von ihrer Einsamkeit und Niedergeschlagenheit ablenken, die aber andererseits auch schnell eine Eigendynamik entwickeln, die größer und mächtiger ist als sie. So, wenn Giovanna, als der einige Jahre ältere Corrado sie auffordert, seinen Penis anzufassen (was sie zunächst noch belustigt tut) und dann auch in den Mund zu nehmen (was sie ekelt), sich eingesteht: „das hätte ich sogar gemacht, in diesem Augenblick hätte ich alles getan, was er von mir verlangte, nur um zu lachen, aber aus seiner Hose drang ein schwerer Latrinengeruch“. Die Szene wiederholt sich wenig später im Dickicht eines Parks, wo sie sich dazu entschließt, ihn anzufassen, weil ihr das weniger unangenehm erscheint, als von ihm angefasst zu werden: „Ich war durcheinander, warum bin ich hier, warum will ich das machen. Ich spürte kein Verlangen, hielt das nicht für ein amüsantes Spiel, war auch nicht neugierig […]“. Die ambivalenten Gefühle Giovannas und die Schwierigkeit, ihre Treffen mit Corrado einzuordnen, erinnern an jenes Spannungsfeld zwischen Gut und Böse, Täterschaft und Opferschaft, Aktion und Reaktion, an dem sich schon Mary Gaitskill in Bad Behaviour abgearbeitet hat.

Auch wenn sich Giovanna später bewusst von Corrados Annäherungsversuchen distanziert und auf seinen Vorwurf, dass sie „eine Nutte“ sei, selbstbewusst mit „Wenn ich will, ja“ antwortet, wird im letzten Kapitel, das wohl eines der verstörendsten und kitschbefreitesten ersten Male der Literaturgeschichte bereithält, nur allzu deutlich, wie tief sich ihr die vorhergehenden Erlebnisse eingeschrieben haben. Ferrantes Beschreibungen der ersten sexuellen Erfahrungen Giovannas mögen bei manchen Leser*innen ein – mit quietschender Kreide vergleichbares – Erschaudern verursachen, sind aber gerade aufgrund ihrer Mischung aus jugendlicher Naivität und Berechnung, Peinlichkeit und Erotik auch besonders reizvoll. Die Ich-Erzählerin reflektiert ihrerseits über die Schwierigkeit, Sexualität zu beschreiben, und fragt sich dabei: „Warum reicht ein einziges Adjektiv nicht aus, um zu definieren, was Sex ist, man braucht viele – peinlich, geistlos, tragisch, komisch, angenehm, abstoßend –, und nie nur eines, sondern alle gleichzeitig“.

Hinzu kommt die von der erfahrenen Ferrante-Übersetzerin Karin Krieger bedachtsam ins Deutsche transferierte Polyphonie. Zu Beginn des Romans wird schönes Italienisch (bzw. Deutsch) gesprochen, der Dialekt gehört nach ‚unten‘ – räumlich wie auch sozial gedacht. Als die Familienfassade jedoch zu bröckeln beginnt, schleicht sich anfangs zögerlich und zunehmend rasant auch ‚oben‘, und vor allem in Giovannas Sprache, eine neapolitanische Färbung ein, die sie teilweise aber so verfälscht übernimmt, dass sie für ihr Gegenüber schwer verständlich ist. Das zeigt, dass auch Dialekt gelernt sein will und dessen nicht recht gelungene Imitation ‚unten‘ mindestens so unangenehm werden kann, wie ein ‚falsches‘ Italienisch oben. Auch wenn die Übersetzung dies nicht imitiert, indem sie die Figurenrede regelmäßig ins Dialektale wechseln lässt, so verändert sich die Sprache doch zusehends: über das Vokabular, das vulgärer wird – Tante Vittoria herrscht ihre Nichte an, sich doch ins Knie zu ficken – und über den Stil, der an Unverfrorenheit gewinnt. Während zunächst eine derbe und schonungslos direkte Sprache, wie sie viele Leser*innen von der Figur der Lila aus den neapolitanischen Romanen kennen, nur in Vittorias Rede vorkommt, färbt diese zunehmend auf Giovanna ab:

Ich hatte – würde sie [Vittoria] mir erläutern – die Lust zu ficken gesehen, und nicht die Lust zu ficken aus den Aufklärungsbüchlein, die mir meine Eltern geschenkt hatten, mit bunten Bildchen und einfachen, sauberen Erklärungen, sondern etwas Abstoßendes und zugleich Lächerliches, wie ein Krächzen, wenn man Halsschmerzen hat.

Die „erregende Hässlichkeit“ von Tante Vittorias Sprache, die sich so stark vom „sauberen“ Italienisch ihrer Eltern unterscheidet, geht jedoch nie ganz auf Giovanna über, die sich zunehmend emanzipiert und auf der Suche nach sich selbst Versatzstücke unterschiedlichster fiktionaler – sie liest unter anderem Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und die Evangelien – wie auch realer Identitäten ausprobiert. Der vorläufige End- oder Höhepunkt ihrer Entwicklung spiegelt sich in den Beschreibungen eines mit ihr befreundeten Paares wider. Wenn ihre Freundin, die schöne Zahnarztassistentin Giuliana, ihr bewundernd und nicht ganz ohne Neid entgegnet: „Du hast etwas an dir, was nur dir gehört und dir genügt.“ Oder deren Verlobter, der vielversprechende Nachwuchswissenschaftler Roberto, Giovanna als „eine, die glaubt, sich zu langweilen, sich aber nie langweilt“, beschreibt.

Giovannas Achterbahnfahrt des Erwachsenwerdens bietet eine lohnende und mitreißende Lektüre; eine schonungslose Milieustudie aus der Perspektive einer Heranwachsenden, drapiert um die verdrängte ‚einfache‘ Herkunft des Vaters und dessen heuchlerische Existenz. Diese dringt mit einiger Wucht in Giovannas Alltag ein und entlarvt alles, was bis dato war, als Lüge – und auch wieder nicht, da das ‚Böse‘ das ‚Gute‘ nicht einfach wegfegt, sondern beides nebeneinander existiert.

Titelbild

Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
415 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429525

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch