Haken aus der „Halbdistanz“

Der im Kulturring als Stick-and-Mover brillierende Schriftsteller und Essayist Karl-Markus Gauß macht in „Die unaufhörliche Wanderung“ auch als In-and-Outer eine glänzende Figur.

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem letzten Buch Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer (2019) ist Karl-Markus Gauß das Glück vergönnt gewesen, ein Buch zu dichten, das durch seine Sicht auf Gegenstände und Sujets, durch seine Art des Fragens und des Verrichtens, durch seine Wörter und Worte und durch seinen Rhythmus und Ton von Weisheit zeugt. Von einer Weisheit, die man in so unterschiedlichen Werken wie Christoph Martin Wielands Musarion, oder die Philosophie der Grazien, Adalbert Stifters „Vorrede“ zu den Bunten Steinen, Anna Seghers’ Der Ausflug der toten Mädchen oder in Wolfdietrich Schnurres Der Schattenfotograf findet, und die sich dadurch bestimmt, dass ebenso hingebungsvoll wie besonnen über den Tag, über den Ort und über die damit verbundenen Interessen, Scheuklappen und Grenzen hinaus auf Gültiges und Bleibendes hin geschrieben wird: auf das heute im Zeichen des „C-Virus“ wieder einmal beschworene, das stets gefährdete und deshalb unablässig zu erinnernde, zu schützende und zu erwirkende Humanum nämlich in seinen vielfältigen Ausprägungen – Vielfalt ist eine grundlegende Bestimmung dieses Humanums!

Liest man in die nun vorgelegte Sammlung Die unaufhörliche Wanderung hinein – das Buch vereinigt in vier thematisch ausgerichteten Kapiteln 23 Texte aus den letzten 21 Jahren, darunter drei unveröffentlichte – so glaubt man anfangs, weiterhin mit Gauß auf Expedition in ferne Nachbarschaften und entrückte, verdrängte oder verschwiegene Gestrigkeiten zu sein, an „Begegnung[en] mit fremden Welten in der nächsten Nähe“ teilzuhaben, wie es hier im vorletzten Text Bis man zum Vorlesen kommt. Auf Lesereise in Deutschland (2019) heißt. Gleich aus der ersten, filigran punzierten und bislang ungedruckten Miniatur Der Sommelier von Berat nämlich steigt jene besondere Klangfarbe beispielsweise aus Abenteuerliche Reise hervor, die den alltagsabenteuernden, den im vermeintlich Randständigen und Abseitigen, im Vergangenen oder Vergehenden heimischen Flaneur Gauß so unverwechselbar macht. 

Diese orchestrale Klangfarbe, dieses Gestalt-werden-lassen durch nuancierte, geschichts- und kulturgesättigte Einprägung von Oberflächen dominiert auch in einer Reihe weiterer in der Wanderung wiedergegebener Texte. Ohne nachfolgend nicht genannte Texte damit in irgendeiner Weise abzuwerten – kein Text ist bei der Lektüre von Ausrufezeichen und anderen, Wichtigkeit signalisierenden Markierungen verschont geblieben –, sei beispielsweise auf Eine Kreuzung von Welt (2015), Třebíč. Stadt ohne Juden (Erstdruck), Die Wirklichkeit des Albums. Venedig in Schwarzweiß (2003), Das eiserne Herz des Waldviertels. Von Döllersheim nach Allensteig (2006), Die unaufhörliche Wanderung. Unterwegs in Odessa (2009), Der virtuelle Dorfplatz. Vom Überleben der Gottschee im Internet (2011) oder auf den den Band beschließenden Erstdruck Das Wunder von Monte Pasubio. Wie ich zum literarischen Wettergott wurde hingewiesen.

Und ja, beide Markenzeichen, Klangfarbe und Einprägung, sind auch in jenen Texten präsent, wo anderes in den Vordergrund strebt; etwas kleinformatiger und manchmal sogar schon ins Zierliche gehend vielleicht, doch zumindest wie eine von Eigenart und Verlässlichkeit und hochgemutem Bekenntnis zeugende Anstecknadel auf dem Revers der freilich von allem Tümelnden freien, bodenständigen Joppe ein ums andere Mal.

Da begegnen wir beispielsweise im vierten Kapitel „Lesen und Schreiben“ vorwiegend Gauß selbst, zunächst im Albumblatt für Dr. Joseph Guth untertitelten Text Ein Lehrer (2016). Löst auch ein solcher Titel angesichts all der Unholde, die das deutsche Lehrerzimmer spätestens seit Conrad Ferdinand Meyers Das Leid eines Knaben (1888) und Arno Holz‘  / Johannes Schlafs Der erste Schultag (1889) bevölkern und die in diesem einiger Ausnahmen insbesondere jüngeren Datums zum Trotz immer noch die stärkste Gruppe bilden, eher instinktives Frösteln aus. Und scheint auch das „Albumblatt“ des Untertitels nur satirisch oder auch sarkastisch gemeint sein zu können – schon die ersten beiden Sätze dann belehren uns doch eines Anderen, Erfreulichen:

„Er hieß Guth und war mein bester Lehrer. Er brauchte lange, sich zu diesem zu entwickeln, und ich brauchte lange, ihn als diesen zu erkennen.“ Wie das im Einzelnen zugegangen ist, wird dann, auf wunderbare Weise „sechs Jahre“ auf nicht einmal vier Seiten raffend, anschaulich und begreiflich gemacht, stets in dem Bewusstsein selbstverständlich, „mir meine Jugend“ zu „erfinde[n]“. Dabei fällt die Wahrheit, die in der Hommage „staune heute noch darüber, wie anarchisch der Witz dieses konservativen Mannes, wie unangepasst seine altväterische Kauzigkeit war“ steckt, wie von selbst auf diese dezidiert selbstkritische Erfindung zurück.

Auf diese Weise auf das Thema ‚Wie ich wurde, was ich bin‘ eingestimmt, werden nachfolgend diejenigen, die auch biographische Zugänge zur Literatur suchen, besondere Freude an Kurze Autobiographie des Autors als junger Leser (2017) haben. Dabei ist dieser ironischerweise mehr als 20 Seiten lange Text viel mehr als nur eine Auflistung früher, die Studienzeit einschließender Lektüren und ein Erinnern an Weggefährten wie Erich Hackl und Klemens Renolder sowie an eigene Kauf-, Lese-, Kommentar- und Wertungspraktiken damals – erkennbar wird u.a., wie ausgeprägt Gauß‘ Hochschätzung der Sprache und sein Sprachempfinden schon im Jugendalter gewesen sind.

Der Text ist nämlich zugleich eine Reflexion über Lesen und Schreiben, Persönlichkeitsprofil und Lektüre, Literatur und Politik, Lesen, Leben und Erinnern, Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik, identifikatorisches, technisches und systematisches Lesen, „Realität und Wirklichkeit“ (Wirklichkeit und Wahrheit) sowie die nicht eben wenigen blinden Flecken der Literaturgeschichtsschreibung. Und er ist eine Erinnerung an – sozial- und mentalitätsgeschichtlich sehr aufschlussreich – den hohen Stellenwert, den Literatur und Lesen um 1970 herum selbst unter jungen Leuten noch hatte, nicht zuletzt auch ‚anbandlungstechnisch‘: „Mir genügte es zu wissen, dass ich im Eros des Lesenden stand“, lässt Gauß uns lakonisch wissen. Schließlich ist dieser Text aber auch Apologie und Feier der Literatur selbst. Nicht nur wird ihr attestiert, ein in seiner Art einmaliges und von daher unverzichtbares Erfahrungs- und Erkenntnismedium zu sein. Es heißt von ihr auch, dass sie „die Kraft hat, uns nicht nur mit dem Ähnlichen, sondern auch mit dem Fremden, dem Andersgearteten auf uns selbst zu bringen.“

Am sich anschließenden Text Bis man zum Vorlesen kommt (s. o.) wird – wie den Rezensenten auch – LeserInnen aus den neuen Bundesländern ganz gewiss Gauß‘ Aussage erfreuen, „[s]elten“ sei er „so wohlerzogenen Menschen begegnet wie kürzlich im Osten Deutschlands […], der mir doch als Aufmarschzone der Drauf- und Dreinhauer geschildert worden war.“ Aber nicht vorwiegend deshalb wird an dieser Stelle kurz auf diesen Text verwiesen, sondern weil er zu denjenigen gehört, die nachvollziehbar machen mögen, warum der Titel dieser Besprechung den grundfriedfertigen Karl-Markus Gauß in einem Boxring imaginiert und ihn mit Attributen versieht, die auch die auf ihre Art singulären Stilikonen Muhammad Ali und Teófilo Stevenson zierten – ganz unbeteiligt ist Gauß selbst daran im Übrigen nicht, endet doch die Kurze Autobiographie mit dem einladenden sprachlichen Einfallstor, in der „Halbdistanz“ habe er den ihm „gemäßen Ort“ gefunden. 

Gegen Ende von Bis man zum Vorlesen kommt nämlich stellt Gauß fest, es komme ihm so vor, als sei Deutschland „ein ‚armes Land der reichen Leute‘ geworden“, lasse „das reichste Deutschland, das es jemals gegeben hat,“ doch „seine Infrastruktur vor den Augen aller verfallen, wie man es sich zu schlechteren Zeiten nicht hätte vorstellen können.“

Wie nun, hat der „Mit mir, ohne mich“-Flaneur Gauß den meist sacht als Zeige- oder Taktstock gebrauchten feingliedrigen Spazierstock mit einem Mal mit einem auch als Waffe tauglichen knotigen Wanderstock, ja sogar mit einem ausgemachten Prügel getauscht? Es gehört zu den großen Überraschungen von Die unaufhörliche Wanderung, dass uns Gauß hier in in dieser Schärfe und Massierung ungewohnter Weise als Kommentator des akut Politischen gegenübertritt, sei dieses Politische tagesaktueller oder zeittendenzieller Art oder von dieser oder jener Natur – Sprachpolitik, wen wunderte es, treibt Gauß insbesondere um.

Nicht, dass demjenigen, der den Autor über die Jahre verfolgt hat, diese sozusagen taufrische Form seiner Zeitgenossenschaft im Sinne des ‚Auch‘ verborgen geblieben wäre. Aber wie ausgeprägt diese Form bei ihm tatsächlich ist, ist angesichts der verstreuten Publikationsorte der betreffenden Texte und des „feinfühligen Flaneurs“, als den ihn auch der Klappentext des hier zur Rede stehenden Buches bewirbt, doch in den Hintergrund getreten. Von daher mögen sich Verlag und Autor fragen lassen, ob der jetzt gewählte, andere Assoziationen auslösende Buchtitel nicht doch eine zu geruchsmonotone und insofern irreführende Duftmarke setzt.

In Die ausfotografierte Öffentlichkeit. Vom Gaffen (2017) buchstabiert Gauß das uralte doch höchst virulente Thema der Schau- und das damit mittlerweile verbundene Thema der Fotografierlust breiter Bevölkerungsschichten angesichts von Unfällen, Katastrophen und dergleichen an. Er indiziert das „merkwürdige[] Phänomen“, dass diese Lüste in ihrem Mit- und Gegeneinander keineswegs mehr privater oder teilöffentlicher Natur sind, sondern eine totale Überwachung des öffentlichen Raumes heraufbeschwören. 

Demut, lauthals (2018) entlarvt mal satirisch, mal sarkastisch, mal schneidend argumentativ die von Bankern, Managern und von Politikern wie Sebastian Kurz, Emmanuel Macron oder Theresa May – ich ergänze für Deutschland aktuell: Jens Spahn beispielsweise – zur Schau gestellte, geradezu „monumentale[] Bescheidenheit“ als ein „,enorm unterschätztes‘“, sehr gezielt eingesetztes „Machtmittel“: „Es ist ein rechter Wettkampf darum im Gange, wer als Marktschreier seiner Bescheidenheit den anderen zu überbieten und aus dem Felde zu schlagen weiß.“ Wichtig in diesem Zusammenhang ist Gauß‘ Erkenntnis, dass sich die „reaktionäre und gefährliche Revolte“ eines Donald Trump gegen dieses „erbärmliche[] Schauspiel“ der „List der Dialektik“ verdankt, der „Rabauke“ als Gegenbewegung dem Demutsheroen ob dessen „verlogene[n] Inszenierung“ also schon innewohnt.

Von Sprachpolitik, von „Weihrauch“ und „Pesthauch“ („Demut, lauthals“) als siamesischen Zwillingen im Geiste wie im Handeln ist auch in Vom Verschwinden des Konkurrenten (2019) die Rede – für Österreich werden namentlich die ÖVP und die FPÖ als ein Duo angeführt, an dem sich das Zusammenwirken von „Schönfärberei und Regelverstoß“ erkennen lasse. Mit Reinhard Schlüter und Robert Pfaller wendet sich Gauß in der „politischen Sphäre“ gegen eine „falsche[] Empfindsamkeit“ und eine damit einhergehende Infantilisierung des Publikums und ganz allgemein gegen die „vorgeblich achtsame Sprache der Zwangsharmonie“. Der „rhetorische[n] Verhübschung“ nämlich – „Marktbegleiter“ statt „Konkurrent“ beispielsweise – gehe es nicht um eine Veränderung der „soziale[n] und politische[n] Realität, sondern einzig“ um eine der „Wahrnehmung“.

Sprachpolitik ist auch das Thema von Der Turmbau zu Babel. Über den Reichtum an Sprachen (2017). Hier setzt sich Gauß kritisch mit dem Bestreben der „Strategen der Wirtschaft“ auseinander, die Welt „mono-lingual“ zu machen. Die Wissenschaften werden als Handlanger dieses Bestrebens identifiziert, allen voran jemand wie der „Ökonom und Philosoph Philippe Van Parijs“, der „sprachliche Verarmung als gesellschaftliche Bereicherung“ anpreise. Demgegenüber fordert Gauß „Artenschutz“ auch für Sprachen, die mehr seien als bloßes „nützliches Vehikel“,

der Urgrund des Menschen, der ohne sie keiner wäre, ein unendlich fein nuanciertes, wandlungsreiches Medium, in dem der einzelne seiner selbst bewusst, seiner Mitmenschen gewahr und des Reichtums der Welt innewird.

Politisch von ganz anderem Zuschnitt ist der Text Exil in der Milchstraße (2017). Von der Beobachtung ausgehend „Sind die sozialen Utopien erst einmal als vermeintliche Hirngespinste abgetan, blühen irrwitzige Hirngespinste als technologische Utopien auf“, bedenkt Gauß mit „abwägender Skepsis“ Stephen Hawkins‘ rigoristisches, als alternativlos behauptetes Plädoyer für einen „Exodus der Menschheit“ von der Erde. Aktuelle Versuche etwa von Jeff Bezos oder Elon Musk, das All zu erobern und neue Planeten zu kolonisieren, verdankten sich eben jenem „Geist“, „der zum Untergang des unseren führt“. Aber wer zwinge uns eigentlich, weiterhin in diesem Geist zu denken?

Ein solcher Geist, der recht eigentlich Ungeist ist, soll auch abschließend betrachtet werden. Das führt freilich dazu, dass diese Besprechung nur insofern ein Happy End nimmt, als vorab verbucht werden kann, dass Gauß mit Die unaufhörliche Wanderung im Ring eine Vielzahl klarer, blendend herausgearbeiteter Treffer gelandet hat. Doch werden diese auch Wirkung zeigen und bei der Endabrechnung außerhalb des Rings überhaupt gezählt werden?

Ein Mädchen namens Nadica (2001) ist jener Text des Buches, der mich am meisten beschäftigt hat und beschäftigt. Er, im Ton zornig-bitter und anklagend und frei von jeder deplatzierten Nachsicht, handelt von der Abschiebung eines zwölfjährigen serbischen Roma-Mädchens Anfang unseres Jahrhunderts: „[…] wenn Unrecht exekutiert wird, gibt es Gesetze, deren Vollzug bald verschleppt, bald beschleunigt werden kann.“ „Bei allem, was von Amts wegen geschieht, sind es keine anonymen Institutionen oder Apparate, die selbsttätig agieren, sondern Menschen, die sich entscheiden.“ „Die soziale Verrohung ist von oben verfügt, aber sie schlägt durch bis in alle Verästelungen dessen, was einst das soziale System Österreichs war.“ – Nein, ich kann und will diesen Text nicht zusammenfassen. Nadica und ihrem in Österreich verfügten Schicksal müssen Sie schon selber begegnen, ihrer Würde halber, aber auch um all derjenigen willen, denen die Trutzburg Europa heute die kalte Schulter zeigt. Vielleicht steigen ja auch Sie dann wie Gauß in den Ring.

Titelbild

Karl-Markus Gauß: Die unaufhörliche Wanderung. Reportagen.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020.
208 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783552072022

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch