Die Allgegenwärtigkeit des Geschehenen

„Der Löwe Gottes“ verkörpert in Maren Friedlaenders gleichnamigen Roman einen Rächer des Judentums

Von Simone WalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Walter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Mund geschlossen halten, zuhören und beobachten, das Erzählte auf sich wirken lassen. So geht es der „stummen Zuhörerin“ in Friedlaenders Roman Der Löwe Gottes. Was am Anfang einem alltäglichen Geschehen gleicht, verwandelt sich in ein Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Der Roman beginnt mit einem Szenario in einem Kaufhaus, wo eine Frau einen Lippenstift sucht und dabei auf einen außergewöhnlichen Mann trifft: „Er war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Ich kann schöne Männer sonst nicht besonders leiden. Sie vergessen zu leicht, dass eine Packung auch einen Inhalt braucht. Aber dieser Mann hatte gar keine Verpackung. Er schien nur aus Inhalt zu bestehen.“ Die vermeintlich zufällige Begegnung nimmt eine Wendung, als der Mann namens Ariel offenbart, die Frau zu kennen. Sie ist Autorin und soll über seine Erlebnisse eine Biografie schreiben. Vollkommen hingezogen von seiner Attraktivität folgt sie Ariel und fährt immer wieder zu seinem Bauernhaus auf dem Land, um seiner Geschichte zu lauschen und sich seiner Vergangenheit anzunehmen.

Der Löwe Gottes ist nach dem Protagonisten Ariel benannt. Ariel hat in seinem Leben viel Gutes und Schlechtes erlebt. Als Jude, geboren zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, ist er sich des unverzeihlichen Verbrechens der Nationalsozialisten bewusst. Mit dem Erzählen seiner Geschichte versucht er all seine Erlebnisse aus seiner Kindheit und seine Taten als Agent des israelischen Geheimdienstes zu verarbeiten. Der Kampf um Gerechtigkeit, die Liebe zu verschiedenen Frauen und die Familienverbundenheit bilden zentrale Schwerpunkte in seiner Geschichte. Dabei setzt sich Ariel immer wieder selbst mit der Frage nach seiner Zugehörigkeit auseinander: „Ich weiß, dass ich meinem Land damit half. Ich sage, meinem Land und war mir doch nie 100 Prozent sicher in meinem Gefühl zum Staat Israel. War denn Israel wirklich mein Land?“

In der tiefenpsychologischen Erzählweise des Romans spiegelt sich wider, dass Maren Friedlaender ein Studium der Psychologie absolvierte: Ariel ist ein Mann, der andere Menschen durchschaut, ihre Seelen offenlegt und dabei gar nicht weiß, wie es um ihn selbst steht. Nicht nur in der Geschichte, auch beim Aufeinandertreffen mit der Zuhörerin präsentiert er seine Menschenkenntnis. Er erkennt die Traurigkeit der Frau und weiß genau, wie er sie überzeugen kann, das Buch zu schreiben. Friedlaender stattet den Protagonisten mit viel Feingefühl und Genauigkeit aus. So versetzt sich Ariel zurück in die Lage seiner Mutter, als der Vater beim Einsatz für den Britischen Geheimdienst von der Gestapo ermordet wurde und sie nicht wahrhaben wollte, dass er nicht mehr wiederkommt:

Jeden Abend zog sie sich um für das Dinner, das wir dann doch wieder nur zu zweit einnahmen. Aber den nächsten Tag begann sie in gleicher erwartungsfroher Weise. Ich weiß nicht, wo sie die Kraft für ihr hoffnungsvolles Warten hernahm. Doch! Es war natürlich die Liebe, aus der sie diese Kraft schöpfte. Meine Mutter besaß eine ganz außerordentliche Liebesfähigkeit, die auch mir zuteilwurde. Es ist eine Gnade für ein Kind, wenn es sich so bedingungslos geliebt fühlt.

Anders als in Berichten wird keine nüchterne und klare Sprache genutzt, sondern sehr stark auf subjektive, aber auch emotionale Details geachtet. Hinzu kommt, dass die Entwicklung Ariels in seinem Inneren stattfindet. Er erzählt seine Geschichte, scheint dabei aber schon gänzlich mit ihr verschmolzen zu sein: „‘Ich muss gehen‘, wiederholte ich. Und er blickte erstaunt auf, als sehe er mich zum ersten Mal und wundere sich, was ich in seinem Haus, hier auf seiner Terrasse suchte.“ Zugleich enthält der psychologische Roman durch die gewählte Thematik, der Zeit nach dem Nationalsozialismus und die Aktivitäten des Mossads, Bestandteile eines historischen Romans. Ariel ist durch den Tod seines jüdischen Vaters stark getroffen. Seine Mutter, eine herzensgute Äthiopierin, kümmert sich sehr, kann ihn aber nicht von den Gefahren der Welt fernhalten. Von einer Frau unter Druck gesetzt, beschließt er, für das Volk Israel zu kämpfen, als Rächer des Judentums aktiv zu werden und den NS-Leuten auf die Schliche zu kommen – dadurch riskiert er sein Leben.

Wie genau er bei seinen Missionen vorgeht, wird ausführlich beschrieben. Der Leser erfährt seine Gedanken, steigt dadurch in das Geschehen ein und treibt auf der Welle der aufeinanderfolgenden Ereignisse. Einen Gegenpol zur Geschichte des Juden Ariel bildet die „stumme Zuhörerin“. Sie schafft es immer wieder, das Tor zur Gegenwart zu öffnen. Wenn Ariel seine Erzählung unterbricht, teilt sie ihre Beobachtungen Ariels in Form ihrer Gedanken mit und gewährt Einblick in ihre emotionalen Gedankenkreise. Zum Teil fragt sie sich selbst, wieso sie Ariel, einem wildfremden Menschen, vertraut oder weshalb sie sich so stark zu ihm hingezogen fühlt: „Ich wünschte mir, einen Platz in seiner Geschichte einnehmen zu dürfen. Ich fürchtete, dass am Ende seiner Geschichte kein Platz für mich sein würde.“ Sie ist selbst die Tochter von Nationalsozialisten und kann gegenüber Ariel lediglich die Funktion der Zuhörerin übernehmen: Ihre für ihn nützlichen Fähigkeiten liegen darin, dass sie es als Autorin schafft, Menschen einfühlsam in ihren Büchern zu beschreiben. Genau so soll sie auch bei Ariel und seiner Geschichte vorgehen. Ariel durchleuchtet ihre Seele und zieht sie damit in seinen Bann, indem sie ihm folgt, seinem Willen gerecht wird und sich seinen kurvenreichen Erlebnissen hingibt: „Ich verstehe alle Frauen, die sich in ihn verlieben. Verliebt man sich nicht in den Menschen, der die eigene Seele erkennt?“ Von Seite zu Seite wird es demzufolge offensichtlicher, dass sich ihre Gefühle für diesen besonderen Mann verstärken.

Mit Der Löwe Gottes versucht die Autorin und gebürtige Kielerin Maren Friedlaender, die Emigration ihrer jüdischen Familie zu verarbeiten. Alle Geschichten, die sie über die Jahre bei Familientreffen gehört hat, hat sie in diesem Roman zu einer fiktionalen Geschichte zusammengesetzt. Während der Lektüre weiß der Leser, dass Details und verschiedene Beschreibungen aus der Geschichte des Judentums stammen. Das führt erneut zu einer Auseinandersetzung mit eben jener dunklen Historie Deutschlands. Auch werden Bräuche und Sitten dieser Religion näher beschrieben, wodurch der Roman an inhaltlicher Relevanz gewinnt. Dadurch, dass Friedlaender die Zuhörerin einbaut, wird die Geschichte lebendig. Sie ist die Deutsche, die der Geschichte eines Juden lauscht und sie auf sich wirken lässt. Die Gedanken der Zuhörerin regen dazu an, sich mit ihr zu identifizieren. Als Leser nimmt man selbst die Rolle des Zuhörers ein. Zugleich bilden die Zuhörerin und ihre Gedankenkreise einen Rahmen um Ariels Geschichte, der Ariel als Figur beschreibt und seine Wirkkraft beleuchtet. Dadurch erfährt der Leser während Ariels Erzählung nicht nur von den zwei verschiedenen Seiten seines Wesens, sondern auch von der Einstellung der Zuhörerin zu Ariel. Selbst bei seinen zum Teil unmoralischen Handlungen keimt keine Ablehnung auf und es ist keine klare Distanz zu ihm möglich. Tief in seinem Inneren durch die Vernichtung der Juden verletzt, ist er ein aufrichtiger und liebevoller Mensch, den die Zuhörerin kennen und lieben lernt.

Die vielen beschriebenen Ereignisse aus Ariels Leben erzeugen emotionale Momente und lassen die Lektüre des Romans zu einem besonderen und zutiefst ansprechenden Leseerlebnis werden. An keiner Stelle wird es langweilig, ganz im Gegenteil: Nach den 220 Seiten verspürt der Leser die Lust, weiterzulesen. Ein überaus gelungener Roman, der durch die gewählte strukturelle Komponente des immer wieder auftretenden Zeitsprunges und die eingelagerte Erzählung eine ungewöhnliche und dadurch gerade abwechslungsreiche, fesselnde Alternative zur sonst gängigen Romanstruktur bildet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Maren Friedlaender: Der Löwe Gottes. Roman.
Gmeiner Verlag, Meßkirch 2020.
220 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783839226384

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