Ein Revolutionär und Cotton-Lord
Zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels
Von Dieter Kaltwasser
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Sein Name“, verkündete Friedrich Engels 1883 bei der Beerdigung seines Freundes und Mitstreiters Karl Marx in London, „wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk.“ Er sollte Recht behalten. Doch wie steht es um seinen eigenen Nachruhm? „Es war ein seltenes ‚Compagniegeschäft‘“, schreibt Jürgen Herres in seinem Buch Marx und Engels. Porträt einer intellektuellen Freundschaft. Im Jahr 1842 wurde in Köln das Fundament dieser Männerfreundschaft gelegt, und sie währte 41 Jahre bis zum Tode von Marx im Jahr 1883.
Der am 28. November 1820 in Barmen im Wuppertal als Sohn einer Industriellenfamilie geborene Friedrich Engels galt als rheinische Frohnatur; nicht nur in Manchester und London war er ein stets gut gekleideter Herr in Gehrock und Zylinder von großem Humor und mit Spottlust ausgestattet; ein Bonvivant, Frauenheld, passionierter Fuchsjäger und erfolgreicher Baumwollmagnat. Er war ein tiefsinniger Moralist und ein scharfer Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise, heißt es in Michael Krätkes vorzüglichem Lesebrevier Friedrich Engels oder: Wie ein ,Cotton-Lord‘ den Marxismus erfand, das auch Texte von Friedrich Engels sowie einige ausgewählte Briefwechsel, Erinnerungen und Interviews enthält, darunter eines mit der Zeitung Le Figaro vom 8. Mai 1893.
Seine ersten Aufsätze und Artikelserien publizierte der junge Engels noch anonym, da er Rücksicht auf seine Familie zu nehmen hatte; die Briefe aus dem Wuppertal über die Bedingungen im Industrierevier von Barmen sorgten für helle Aufregung unter seinen Landsleuten. Der Industriellensohn hielt ihnen einen Spiegel vor, in den sie nicht blicken mochten. Er schilderte die armseligen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter, die Kinderarbeit und Pauperisierung der Handwerker sowie die unerträglichen Wohnverhältnisse in den Arbeitervierteln; die Zerstörung der Umwelt durch die Fabriken, die Flüsse und Bäche in Kloaken verwandelten und die Luft verschmutzten. Hätte sein Vater den Autor dieser Artikel gekannt, er hätte ihn vor die Tür gesetzt, vermutet Krätke in seinem einleitenden Essay.
Der Geschäftsgeist der Fabrikherren in Barmen und Elberfeld verband sich mit einem pietistischen Klima. „,Mit irdischem Erwerb beschäftigt, die himmlischen Güter nicht außer Acht lassend‘, so hat Goethe rückblickend auf seinen Elberfelder Aufenthalt von 1774 die Wesensart der Bevölkerung dieser ,betriebsamen Gegend‘ charakterisiert.“ Und wenige Jahre später schwärmt der Theologe Gottfried Menken, ein Vertreter der Erweckungstheologie in Nordwestdeutschland, über das Erstarken der niederrheinischen Erweckungsbewegung: „In dieser Gegend ist überhaupt so viel Religiosität und Frömmigkeit wie vielleicht in keiner anderen Gegend in Deutschland.“
Mit diesen Worten in ihrem überaus lesenswerten Beitrag Religiöser Wahn – Ein seit Engels’ Kritik unabgeschlossenes Thema im neu erschienenen Sammelband Arbeiten am Widerspruch – Friedrich Engels zum 200. Geburtstag, beschreibt Susanne Schunter-Kleemann prägnant das Wuppertal als Zentrum des Spät- und Restaurationspietismus, in welchem man „von einer das öffentliche Leben beherrschenden pietistisch-kirchlichen Atmosphäre bis in den Vormärz hinein sprechen kann“. In den Leitungsgremien der Kirchen fanden sich zumeist Mitglieder der wirtschaftlichen Oberschicht. So war Friedrich Engels’ Vater Kirchenmeister in der von seinem Vater Johann Caspar Engels gestifteten Vereinigten-Evangelischen Gemeinde Unterbarmen.
„Viele der calvinistischen Geistlichen waren“, so Schunter-Kleemann, „Anhänger der Prädestinationslehre. Sie sehen die unternehmerische Tätigkeit als Mittel christlicher Bewährung und deuten – ganz im Sinne der wohlhabenden Fabrikherren – deren kommerziellen Erfolg als Zeichen des Bestehens vor Gott.“ Diese geschäftstüchtige Seite der protestantischen Ethik wurde „sinnigerweise ergänzt durch einen weltverneinenden, asketischen Zug. Erweckte Geistlichkeit und fromme Unternehmerschaft sind sich einig, dass sinnliche Vergnügungen und Genüsse wie Alkohol, Tanz oder Musik, ,Verlockungen des Teufels‘“ seien.
In der Heimat von Engels ging diese Art von gefühlsbetonter Religiosität eine fatale Verbindung mit einer calvinistischen Ethik ein, die den ökonomischen „Erfolg als Zeichen der Auserwähltheit interpretierte und so den erbärmlichen sozialen Zuständen eine religiöse Legitimation verschuf“, schreibt der Theologe und Philosoph Bruno Kern in seiner kleinen, klug kommentierten Textsammlung Friedrich Engels – Im Widerspruch denken. Ansichten eines smarten Revolutionärs, in der ein „außergewöhnlicher Intellektueller des 19. Jahrhunderts“ mit einer „schier unglaublichen Wirkungsgeschichte“ sichtbar wird. Allerdings sei Engels auch für eine „höchst problematische Rezeption des Marx’schen Denkens verantwortlich“: Er habe aus einer kritischen Gesellschaftstheorie ein dogmatisches Lehrgebäude erstellt.
Die Revolution von 1848/49 und die Pariser Kommune von 1871 gehörten zur politisch aktivsten Zeit der beiden Freunde. Das Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels entstand 1847/48 im Auftrag des Bundes der Kommunisten; es erschien am 21. Februar 1848 in London. 2013 wurde es in das UNESCO-Dokumentenerbe übernommen.
In Köln gaben sie von Juni 1848 bis Mai 1849 die Tageszeitung Neue Rheinische Zeitung als „Organ der Demokratie“ heraus. Das Kapital, dessen erster Band 1867 publiziert wurde, von Marx einst als das „furchtbarste Missile“ bezeichnet, das „den Bürgern an den Kopf geschleudert worden ist“, konnte erst posthum mit den beiden Folgebänden erscheinen, die Engels aus Manuskripten seines verstorbenen Freundes zusammenstellte. Das präzise und detailliert geschriebene Buch von Jürgen Herres zeigt den großen Anteil Engels’ am entstehenden Marxismus auf.
Nach umfangreichen Recherchearbeiten in Manchester schrieb er von 1844–1845 in Barmen sein Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England, das als die erste große empirische Sozialforschungsarbeit in deutscher Sprache gilt. Das Buch wurde ein großer Erfolg. In seinem Aufsatz Umrisse zur Kritik einer Nationalökonomie weise er auf die fundamentale Bedeutung der „Arbeit für die gesellschaftlichen Verhältnisse hin und wendet“, so Krätke, „die hegelsche Kategorie der ‚Entfremdung‘ zum ersten Mal auf das Lohnarbeitsverhältnis als ‚entfremdete Arbeit‘ an.“ Mit diesem Werk begann Engels die Kritik der politischen Ökonomie, ein gigantisches Projekt, das Marx dann zu seinem Lebenswerk machen sollte und nie abschließen konnte.
Anfang 1843 begegnet er in Manchester der Liebe seines Lebens. Die Arbeiterin Mary Burns, Tochter irischer Einwanderer, wird ihn bis zu ihrem Tod 1863 begleiten. 1850 zog Engels nach Manchester und wurde 1864 Teilhaber der vom Vater mitgegründeten Textilfabrik „Ermen & Engels“. Er bewegte sich in der urbanen Gesellschaft der englischen Stadt ebenso leicht und sicher wie in Arbeiterkneipen. Er war Vorsitzender einer literarischen Vereinigung wie der Schiller-Anstalt in Manchester, heißt es bei Krätke, ein Privatgelehrter von großer Reputation, auch in den Netzwerken, in denen ein Großteil der wissenschaftlichen Kommunikation im 19. Jahrhundert stattgefunden habe.
1869 veräußerte Engels seine Anteile am Unternehmen in Manchester und zog nach London um. Bis zu seinem Tod mit 75 Jahren lebte er von den Zinsen seines Vermögens und unterstützte die Familie Marx großzügig. Endlich konnte er sich ganz seiner Arbeit als Autor und Herausgeber widmen, als „Spindoktor der europäischen Sozialdemokratie“, formuliert Jürgen Herres.
Engels war sich bewusst, dass er mit der Herausgabe weiterer Bände des Kapitals eine wahre „Heidenarbeit“ vor sich hatte. „Neben vollständig ausgearbeiteten Stücken andres rein skizziert, alles Brouillon […]. Die Belegzitate ungeordnet, haufenweise zusammengeworfen, bloß für spätere Ausarbeitung gesammelt.“ Wie war es möglich, „dass gerade mir geheim gehalten wurde, wie weit das Ding fertig war? Sehr einfach: Hätte ich das gewusst, ich hätte ihm bei Tag und Nacht keine Ruhe gelassen, bis es ganz fertig und gedruckt war. Und das wusste Marx besser als jeder andre“, schrieb er nach der ersten Sichtung an August Bebel.
Unter dem Abschnitt „Kein Marx ohne Engels“ seines einführenden Essays fasst Michael Krätke die Bedeutung und Stellung von Engels’ Werk und Wirken zusammen:
Ohne Engels hätte Marx im britischen Exil nicht überlebt, sondern wäre mit Frau und Kindern untergegangen. Ohne seinen Freund Engels wäre Marx’ Hauptwerk Das Kapital nie geschrieben worden. Außer Bergen von Exzerpten, Notizen und fragmentarischen, unvollendeten Manuskripten hätten wir Nachgeborenen nichts Brauchbares, um die Welt des modernen Kapitalismus besser zu verstehen.
Ohne Engels wäre der erste Band des Kapitals nicht 1867 erschienen, vielleicht auch nie zu Marx’ Lebenszeit. Ohne ihn wären der zweite und dritte Band erst Jahrzehnte später oder nie erschienen. Auch die sozialistische Arbeiterbewegung hätte es in Europa nicht gegeben, die zumindest in Deutschland, in Österreich und der Schweiz auf Karl Marx schwor. Und „ohne Engels hätte es keinen Marxismus gegeben“.
Friedrich Engels starb am 5. August 1895 in seiner Londoner Wohnung. Auf eigenen Wunsch wurde seine Asche einige Meilen vor der englischen Küste nahe der Stadt Eastbourne im offenen Meer verstreut.
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