Wenn man die Wörter verliert

„Untertags“ von Urs Faes ist ein Roman über Demenz und zugleich ein Hohelied auf die unerschütterliche Liebe einer Frau

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Roman des Schweizer Schriftstellers Urs Faes wird eine jüdische Gemeinde erwähnt, in der das Erzählen als heilige Handlung gilt. Man darf annehmen, dass dem Autor diese Wertung nicht fremd ist. Faes ist ein wunderbar einfühlsamer Erzähler, bei dem es in vielen Romanen um Erinnerungen geht und um die Frage, wie genau sie die gewesene Wirklichkeit abbilden. Das ist immer ein Problem – erst recht für jemanden, der nach und nach die Wörter verliert, mit denen sich Erinnerungen ausdrücken lassen. So ergeht es Jakov. Er ist Hertas späte Liebe. Sie war 42, als sie ihn kennenlernte, geschieden und nicht auf der Suche nach einem Mann. Die Zufallsbegegnung auf einem Flughafen wurde für beide zum Schicksal. Sie leben viele Jahre zusammen und reisen auch mehrmals nach Amerika, wo Jakovs Kinder aus erster Ehe leben. Über seine Vergangenheit redet er nicht gern.

Dann schlägt die Krankheit zu. Herta, aus deren Sicht größtenteils erzählt wird, redet nie von Alzheimer oder Demenz. Das ist keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern ihre Art, damit umzugehen. Jakov wird immer zerstreuter, verliert die Herrschaft über die Wörter, den Schlüssel zur Welt, und auch über seinen Körper. Das Voranschreiten der Krankheit ist nicht aufzuhalten, Therapieversuche mit allerlei Übungen zeigen keine Wirkung. Er wird zum wortlosen Kind. Anfangs gelingt es beiden noch, über Pannen zu scherzen. Spätestens als Jakov am Lenkrad seines Autos wegen seiner Wortfindungsstörungen verzweifelt und Herta an einer Kreuzung stehen lässt, kann der bittere Ernst nicht mehr geleugnet werden. Herta bleibt geduldig und liebevoll und freut sich mit Jakov an Kleinigkeiten. Zwischen beiden herrscht innige Verbundenheit jenseits der Worte. Hin und wieder blitzt Jakovs Lebenslust auf, doch insgesamt geht es abwärts.

Dies alles wird in der Rückschau erzählt. Jakov ist tot. Seine Kinder aus erster Ehe in Amerika fordern alles zurück, was er ihnen laut einem von ihnen eingefädelten geheimen Testament vermacht hat. Sogar den Cowboyhut. Eines aber gibt Herta nicht ganz her: die Asche des Toten. Nur die Hälfte davon geht in einer Urne auf die teure Reise nach Amerika. Eine zweite Urne vergräbt sie am Waldrand, wo Jakov sich gern aufhielt.

Der letzte Teil wird aus der Sicht von Elaine erzählt, einer der beiden Töchter aus Hertas gescheiterter Ehe. Sie und ihre Schwester Dorit haben den Amerikaner, der sich in das Leben ihrer Mutter drängte, mit Skepsis betrachtet. Die beiden Mädchen litten als Kinder „im Dickicht von elterlichen Zimmerschlachten und Wortgefechten“. Dorit als wehrhaftere von beiden studierte Jura, um für Recht und Gerechtigkeit zu kämpfen. Elaine ist zum Theater gegangen, um Lebensgeschichten von Menschen zu erzählen, die im Scheitern aufstehen. Sie entwickelt Empathie für Jakov, als er den Verlust erleidet, den sie für den schmerzlichsten hält: den der Sprache.

Jakovs Krankheit und Hinfälligkeit ist nicht der einzige Schicksalsschlag, der Herta trifft. Immer wieder spricht er von einer anderen Frau, Virginie. Von diesem Namen bleibt schließlich nur ein gestammeltes „Ini“ übrig. Herta spürt, dass Jakovs Liebe zu dieser Frau nie erloschen ist. Wer ist Virginie? Lebt sie noch?

Aus Andeutungen schält sich die Wahrheit heraus: Nach dem frühen Tod von Jakovs Mutter hat der Vater eine weit Jüngere geheiratet, eben Virginie. Sie wird Jakovs große Liebe, er die ihre. Als der Vater beide ertappt, wird Jakov erst mit der Reitpeitsche und dann mit Enterbung bestraft. Virginie ist schon lange tot, lebt aber in Jakovs Liebe weiter. Herta muss sich fragen, ob sie nur eine Fußnote in Jakovs Leben war. Als er schwerkrank aus Amerika zurückkommt, findet sie die Antwort. „Herta tat, was zu tun ist …“, nicht als distanzierte Pflegerin, sondern als liebende Frau in einem „Alltag zwischen Nähe und Verstummen“. Und selbst wenn Jakov beim Küssen „Ini“ flüstert, erwidert sie seinen Kuss.

Urs Faes schildert voller Mitgefühl, wie ein liebendes Paar damit umgeht, wenn einer die Sprache verliert. Ist die Sprache das Haus, in dem der Mensch wohnt, so gerät einer, der die Worte verliert, ins Nichts. Damit hat Elaine recht. Der Autor aber, als Lyriker mit Gedichtbänden hervorgetreten, schmückt dieses Haus aus, wenn Wasser „allmählich in ein helleres Blau“ wächst und wenn Herta und Jakov sich „im geballten Rot des Mohns“ verlieren.

Ein Roman über Demenz? Auch. Vor allem aber ein bewegendes Hohelied auf die entsagende, verzeihende, unerschütterliche Liebe einer Frau.

Zum Titel Untertags: Man fragt sich, ob das Wort in der Schweiz für „unter Tage“ steht. Nein, sagt der Duden, für „tagsüber“. Dennoch ist die Assoziation mit dem Unterirdischen gewollt, denn das, was unterhalb des Bewusstseins und des Ausgesprochenen liegt, spielt im Roman eine wichtige Rolle.

Titelbild

Urs Faes: Untertags.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429488

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