Städte und Menschen verschlingende Löcher

Der australische Autor Shaun Prescott wirft in seinem Debütroman „Ortschaft“ grundlegende Fragen der menschlichen Existenz auf

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein namenloser Autor kommt in einen namenlosen Ort, wo er ein Buch über verschwindende Städte in der Region Zentralwesten von New South Wales, westlich von Sydney, schreiben will. Diese Städte haben nur noch eine schattenhafte Existenz im Internet, als wären es Facebookeinträge von Verstorbenen. In einem Gedicht sagt der amerikanische Lyriker Robert Frost, die Erde könne im Feuer oder im Eis vergehen. Der australische Autor Shaun Prescott bringt in seinem Debütroman Ortschaft eine dritte Variante ins Spiel: Löcher verschlingen die Städte und die Menschen (Übersetzung: Benjamin Mildner).

Der Erzähler ist so gesichtslos wie der Ort. Deshalb braucht das Buch markante Nebenfiguren, deren Äußeres allerdings sparsam beschrieben wird. Sie sind vom Schicksal geschlagen, aber Prescott hebt in satirischer Überspitzung ihre skurrilen Züge hervor. Sein Ton bleibt lakonisch und distanziert.

Da ist der Busfahrer Tom. In seinen Bus, den einzigen der Stadt, steigt nur gelegentlich jemand ein. Tagsüber verlassen sich die Bewohner auf ihre Autos, und wenn sie abends betrunken sind und den Bus brauchen könnten, fährt der nicht mehr. Toms Versuch, seine Rockband wiederzubeleben, ist schmählich gescheitert. Seitdem wohnt er im Bus, den er nur zum Essen und Duschen verlässt.

Rick, ein Mann in mittleren Jahren, lungert Tag für Tag stundenlang im Supermarkt herum, wo der namenlose Held die Regale auffüllt. Rick hat Frau und Kind bei einem Autounfall verloren und wohnt wieder bei seinen Eltern. Schon vorher hatte er sich in die Kindheit und Teenagerzeit zurückgewünscht. Der Supermarkt wird zum Zufluchtsort, an dem er sich vorstellen kann, er sei mit seiner Mama da.

Echtes Interesse am geplanten Buch hat Ciara, die Geliebte des Mannes, bei dem sich der Erzähler eingemietet hat. Er macht sie ihm abspenstig, ohne dass sie ein Paar werden. Gemeinsam ist ihnen die Liebe zur Musik, die bei Ciara eigenartige Blüten treibt. Als einzige Moderatorin des lokalen Radiosenders, den niemand hört, erfindet sie anonyme Bands und spielt deren angebliche Titel auf einer Heimorgel, durch ein Hallgerät geisterhaft verzerrt. Es gibt weitere musikalische Abenteuer, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Wichtig ist Ciara für den Helden auch, weil sie jede Straße und jedes Gesicht kennt – und den Ort langweilig und bescheuert findet.

Das ist er tatsächlich. Durch die Aufzählung der Allerweltsläden betont Prescott die Gesichtslosigkeit der Stadt. Und die Umgebung? Jenny nennt die trockene Einöde „ein hässliches Wunderschön“. Zur Gesichtslosigkeit kommt die Geschichtslosigkeit. Stutzig wird man, wenn ausgerechnet der Bibliothekar meint, über die Vergangenheit der Stadt gebe es nichts zu erzählen. Wie kommt jemand, der zum Ortschronisten wie geschaffen scheint, zu dieser Behauptung? Sind peinliche Vorkommnisse unter den aus England deportierten Sträflingen zu vertuschen?

Die Danksagung des Autors endet so: „Dieses Buch spielt vorwiegend auf dem Gebiet der Wiradjuri, denen meine größte Hochachtung gilt.“ Die Wiradjuri sind ein Stamm der Aborigines. Wenn man weiß, welches Unrecht diesen Ureinwohnern Australiens von weißen Siedlern angetan wurde, erscheint das Verschweigen der Vergangenheit in einem neuen Licht.

Die Stadt hat weder Gegenwart noch Zukunft. Aus dem Bahnhof wurde ein Museum mit Laden. Einmal täglich rast ein Güterzug am Bahnsteig vorbei. Das gesellschaftliche Leben besteht aus Besäufnissen und Schlägereien. Alljährlicher Höhepunkt ist ein Feiertag im Herbst, mit bunten Lichterketten und gewaltigem Bierumsatz, bei dem die Festrede des Bürgermeisters nur stört.

Abends in seinem Zimmer diktiert der Erzähler sein Buch, tagsüber beim Regalfüllen hörte er sich die Texte über Kopfhörer an. Richtig voran kommt er nicht. Er wirkt unentschlossen und weich. Der deutlich jüngeren Ciara nähert er sich halbherzig. Als er erfährt, jemand wolle ihn verprügeln, möchte er das bald hinter sich bringen. Kühn erfindet Prescott vier Männer mit gleichem Namen und gleicher brutaler Absicht. In einer alptraumhaften Szene machen sie sich wie ein vierköpfiges Ungeheuer über den Erzähler her.

Der Ort steuert auf sein Verderben zu. Im Raucherbereich einer Disco tut sich ein Loch auf. Menschen fallen hinein, Bänke und Straßen und Plätze. Doch man stellt sich der neuen Lebenswirklichkeit nicht. Die Löcher seien keine ernsthafte Bedrohung, heißt es, anderswo passierten schlimmere Dinge.

Als der Ort größtenteils verschwunden ist, gelingt dem Erzähler die Flucht mit Ciara, nachdem er sinnigerweise erst seine Daten gespeichert und dann den Computer zerstört hat. Im toxisch heißen Sydney, dessen Einwohner die ganze Woche trinkend und knutschend am Strand zu liegen scheinen, will er Wohnraum mieten. Von einem städtischen Beamten wird er belehrt, bei seiner Finanzlage müsse er zu diesem Zweck betrügen. Aber er könne ja in die Berge fahren, wo er allerdings ausgeraubt würde. Oder aufs Land, um Gemüse für die Städter anzubauen.

Ciara entgleitet dem Erzähler und verfällt dem Alkohol. Am Schluss haust sie in einem Tunnel. Der Erzähler verlässt die Stadt und gewinnt am Morgen seiner Abreise bei einer Parade den Eindruck, die Vergangenheit scheine den Menschen wertvoller als das Jetzt. Für sich selbst hat er keine Hoffnung: Falls es einen Ort gibt, wo er hingehört, und falls er dorthin gelangen sollte, würde er wohl nicht verhindern können, dass der Ort verschwindet.

Shaun Prescott legt ein beeindruckendes Debüt vor. Erstaunlich kunstfertig gelingt es dem Autor, im unbeteiligten Tonfall eines schattenhaften Icherzählers grundlegende Fragen der menschlichen Existenz und ihrer Gefährdung aufzuwerfen und ihnen literarische Wucht zu verleihen.

Titelbild

Shaun Prescott: Ortschaft.
Aus dem Englischen von Benjamin Mildner.
Blumenbar Verlag, Berlin 2020.
288 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783351050627

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