Sie lösen den Wunsch aus, in nicht zu enträtselnde Geheimnisse einzudringen

„Dekadenz und dunkle Träume“, herausgegeben von Ralph Gleis, ermöglicht die Wiederentdeckung und Neubefragung des in Belgien beheimateten Symbolismus

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Symbolismus ist zunächst einmal eine Haltung gegenüber der naturwissenschaftlich gestützten Realität, die man seit der Aufklärung in allen Epochen der europäischen Kunst findet. Demgegenüber suchte man eine Vorstellung von einer Wirklichkeit jenseits der sinnlichen Wahrnehmungen ins Bewusstsein zu rufen. Doch als Symbolisten im engeren Sinne bezeichnet man eine Gruppe von Malern gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die den Jugendstil und den Expressionismus mit vorbereiten halfen. Aber magische Zeichen und Symbole, die wie aus traumhaften Abgründen auftauchen, finden sich auch bei Paul Klee, Joan Miró, Hans Arp, Willi Baumeister oder – nach dem Zweiten Weltkrieg – in der „Wiener Schule“ und bei vielen anderen Künstlern des 20. Jahrhunderts. Bis heute greifen Künstler immer wieder auf Formen zurück, die sich zu traumhaften Symbolen assoziieren und beim Betrachter den Wunsch auslösen, in nicht zu enträtselnde Geheimnisse einzudringen. In den Zeichen bleibt aber meist das Abbildhafte erkennbar, verdichtet zum psychisch-assoziativen Element.

Abgesehen von einzelnen Künstlern wie James Ensor, Fernand Khnopff, Félicien Rops oder George Minne ist der belgische Symbolismus hierzulande kaum bekannt. Als eine Wiederentdeckung und museale Neubefragung dieser Kunstströmung kann die große Zusammenschau mit etwa 200 Exponaten belgischer Künstler gelten, die jetzt in der Alten Nationalgalerie in Berlin thematisch geordnet in 13 Sälen gezeigt wird (bis 17. Januar 2021, im November wegen Corona geschlossen und nur digital zu sehen). Ergänzt werden sie durch ihre deutschen und europäischen Zeitgenossen, die teilweise im reichen Maße im Bestand der Nationalgalerie vertreten sind, durch Arnold Böcklin, Max Klinger, Franz von Stuck, Gustave Moreau, Jan Theodor Toorop, James McNeill Whistler bis hin zu Gustav Klimt, Ferdinand Hodler und Edvard Munch.

Sie regen den Betrachter zu aufschlussreichen Vergleichen in der europäischen Kunst um die Jahrhundertwende an. Traum, Mythos, Melancholie, Dekadenz, Schönheit und Vergänglichkeit, Verführung, Ekstase und Obsession, das psychisch zerrissene Ich, die Abgründe der menschlichen Seele, ausschweifende Phantasie: Die Bilder der Symbolisten sind Sinnbilder für Entfremdung, Verlorenheit und Sehnsucht, die Maler verstehen sich als Schöpfer von Symbolgestalten, Gestalten in einem schrankenlos ich-bezogenen Trancezustand, ihre Botschaften, oft von kostbaren Rahmen gefasst, sind verweltlichte Andachtsbilder einer Zeit, die ihre Wahrheiten in der ästhetischen Stilisierung zu finden suchten.

Eingangs begrüßt den Besucher der Jünglingsbrunnen (1905, Gips) von George Minne mit seinen fünf identischen Knaben, die den eigenen Oberkörper umarmt und den Blick zu Boden gerichtet haben. Ein Symbol von Melancholie, Einsamkeit und Trauer. Über jegliche Funktion von Plastik hinweg hat sich Minne hier für eine neue inhaltliche Offenheit jenseits von Zeit und Raum entschieden.

Die Symbolisten hatten eine neurotische Beziehung zu Frauen. Sie waren nicht fähig, sich die Frau als soziales Wesen vorzustellen. Sie sahen sie als Elementargewalt, als Vampir, Medusa, Sphinx oder als Urmutter und als unerbittliches Fruchtbarkeitssymbol, Quelle des Lebens. Zum Bild der Femme fatale, dem das der Femme fragile, der zerbrechlichen Kind-Frau, gegenübergestellt wird, gehört auch das Mischwesen aus Frau und Tigerkatze, die als Sphinx den Männern Rätsel aufgibt und sie zerfleischt, wenn sie es nicht lösen können. Khnopffs Liebkosung (1896) zwischen einem schönen Jüngling und einem Mischwesen von Frau und Tigerkatze, täuscht. Wie schnell kann das Raubtier mit seiner Pranke zuschlagen. Dagegen symbolisiert Khnopffs I lock my door upon myself (1891) die Unergründlichkeit der Frau.

Eine andere Entrückung aus der Realität erfährt der Mensch im Schlaf und Traum. Der Traum kann die Psyche erst recht an die finsteren Gewalten des Unterbewusstseins ausliefern. Rops wiederum, ein Meister der Inszenierungskunst, karikierte mit den Themen Erotik und Sexualität schonungslos bürgerliche Lebenslügen.

Die Maske ist eine Allegorie der menschlichen Leidenschaften, sie trägt das Innere des Menschen nach außen, und gerade Ensor beschäftigte sich sehr mit dem Seelenleben von Menschen. Seine Stärke ist, dass er hinter seine eigene Maske schauen konnte, dass er seine Ängste und Neurosen sah und sie mit Phantasie und Geschicklichkeit umsetzte. Ensor, der Maler des Grotesken, verwendete das Mittel des Anachronismus und malte 1888 das karnevalistische Festival vom Einzug Christi in Brüssel als Zeugnis totaler Pervertierung in gräulichen, bewusst die Harmonie des Kolorits verachtenden Farben. Jesus ist der politische Revolutionär und wird von einer freudigen Menschenmenge am Faschingsdienstag willkommen geheißen. Es kann hier nur eine handkolorierte Radierung von 1895 gezeigt werden. Eine Masse von auf und ab hüpfenden, grimassenhaften, abgestumpften Gesichtern, die die Vorstellung vermitteln, dass die Gesellschaft nicht nur unwirklich, sondern eine Art dämonischer Karneval ist, ein Kollektiv bedrohlicher Masken. Ist Ensor selbst der verspottete Christus? Auf jeden Fall ist er der verspottete Maler.

Die Radierung zum gleichen Thema Der Einzug Christi (1899) ist eine seitenverkehrte Kopie des Gemäldes vor gut zehn Jahren mit erkennbaren Zusätzen und Veränderungen. Nun zieht die chaotische Menschenmenge Fahnen und Transparente schwenkend am Betrachter vorbei. Ist es jetzt eine Massenprozession, ein Triumphmarsch, ein Karnevalszug oder eine Arbeiterdemonstration? Triumphierend erhebt sich Ensor als Christus über die Menge und verkündet allen seine radikale künstlerische Botschaft.

Auf ein Foto von 1896, das Ensor vor der Staffelei sitzend in seinem Dachatelier zeigt, geht das Bild Skelett mit Staffelei (1896/97) zurück. Alle auf dem Foto abgebildeten Masken, Schädel und sonderbaren Objekte, alle für Ensors Werk zentralen Arbeiten sind Stück für Stück auf die Leinwand übertragen. Inmitten dieser Kuriositätenkammer steht der Maler als Skelett vor der leeren Staffelei, auf der ein Totenkopf ihn höhnisch angrinst. Figuren in einer Welt, in der Wirklichkeit und Traum, Körper und Seele, Vernunft und Irrsinn miteinander streiten, bevölkern immer wieder seine Bilder. Alle haben Angst vor dem Tod und erinnern zugleich daran, dass jedes Lebewesen zum Sterben verdammt ist.

Die Grenzen zwischen Realem und Surrealem sind aufgehoben. In dem Blatt Der Tod verfolgt die Menschenherde (1896) schwebt ein die Sense schwingendes Skelett über der in Panik flüchtenden Menschenmenge, in die sich auch die Boten des Todes gemischt haben. Über den Dächern der Häuser tagt das Jüngste Gericht. Dieser Künstler, der wohl an dem litt, was Freud eine „Zwangsneurose mit Obsessionen“ genannt hätte, hat in seiner Malerei dem tiefen Unbehagen des modernen Menschen Ausdruck gegeben.

Dann wieder verharrt man vor den raffiniert gemalten Stillleben Ensors, so dem Rochen (1892): Die gedämpften Weiß- und Rot-Töne vermitteln eine kalte, glitschige Oberfläche. Neben dem Rochen eine Handvoll silbriger Sardinen und mittendrin die verkrustete Muschel mit dem Glanz eines Feueropals.

Die Verunsicherungen der eigenen Phantasie, das Unbewusste als Ort erotischer Wünsche, Triebe und Sehnsüchte, Neurosen und Ängste als Abgründe der Seele – das sind Bilder von angsterregender Unberechenbarkeit. Einer neuen Spiritualität steht eine sarkastische Profanisierung religiöser Inhalte gegenüber. Dem Interieur als Metapher für den seelischen Innenraum, von Tragik umwitterten Seelenlandschaften mit raffiniert perspektivischer Technik, der Verrätselung des Alltäglichen, aber auch der sinnlichen Ergriffenheit und heilsamen Wirkung durch Musik, dem Zusammenspiel von Wort und Bild, das weit über die Illustration hinausgeht, sind weitere Kapitel gewidmet.

Der zugehörige Katalog untermauert die Schau mit speziellen Textbeiträgen und einem umfangreichen Bildteil. Ralph Gleis, seit 2017 Leiter der Alten Nationalgalerie in Berlin und Kurator der Symbolismus-Ausstellung, führt in die internationale Kunstströmung des Symbolismus ein, zeigt, wie dessen Motive aus den großen existenziellen Fragen im Kreislauf des Lebens hervorgegangen sind und wie gerade der belgische Symbolismus „einen Beitrag zum Verständnis der Moderne als vielfältigem, heterogenem Prozess mit unterschiedlichen Spielarten“ bietet. Zum Symbolismus als europäisches Phänomen äußert sich Hans Körner, emeritierter Professor der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, und stellt abschließend aufschlussreiche Vergleiche zwischen den Brügge-Ansichten Khnopffs und Böcklins Toteninsel-Versionen an. Jane Block, emeritierte Professorin der University of Illinois, beschäftigt sich mit den beiden Künstlervereinigungen Les XX (Les Vingt, 1884–1893) und La Libre Esthétique (1894–1914), die eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der symbolistischen Kunst und der Formulierung ihrer Anliegen spielten.

Wie hängt der „symbolistische Moment“ (Jean-Paul Bouillon) mit der Generationsfolge zusammen, fragt Michel Draguet, Professor für Geschichte der modernen Kunst an der Université libre de Bruxelles. Das Verhältnis der Generationen stand im Zentrum des symbolistischen Konzepts. Es entwickelte sich eine Krise des Subjekts, das über das Individuum hinauswies, ohne schon die Totalität eines Objekts zu umfassen. Die Rezeption des Mittelalters im belgischen Symbolismus erläutert Johan De Smet, Ausstellungsleiter am Museum voor Schone Kunsten in Gent, während Inga Rossi-Schrimpf, Kuratorin und Koordinatorin des Fin-de-Siècle-Museums an den Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique in Brüssel, die deutsch-belgischen Wechselbeziehungen im Fin de Siècle behandelt. Yvette Deseyve, Kuratorin für Skulptur und Plastik an der Alten Nationalgalerie in Berlin, schreibt zur symbolistischen Bildhauerei in Belgien und Maja Brodrecht, Ko-Kuratorin der Berliner Symbolismus-Ausstellung, zur Buch- und Illustrationskunst zwischen Belgien und dem deutschsprachigen Raum. Biografien belgischer KünstlerInnen des Symbolismus schließen den so materialreichen Band ab.

Konfrontieren die Bilder der Symbolisten den Betrachter mit seinen eigenen Ängsten und können sie ihm helfen, sie loszuwerden, indem er sie mit dem Künstler teilt? Im antiken griechischen Drama wurde diese Erfahrung als Katharsis, als Reinigung bezeichnet, und Sigmund Freud hat diese Erfahrung zu Ensors Lebzeiten neu interpretiert. Es ist sicher eine sehr Freudsche Art, sich so selbst zu sehen, umgeben von seinen eigenen Neurosen. Der Symbolismus erweist sich heute wieder als historisches Modell und offenes Bezugsfeld.

Titelbild

Ralph Gleis (Hg.): Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus.
Hirmer Verlag, München 2020.
336 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783777435077

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