Auf der Suche nach dem Früher dem Heute abhandengekommen

Thilo Krause erzählt in „Elbwärts“ von politischen und privaten Verwirrungen

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das ist mein Fels.“ So beginnt Thilo Krause seinen Debütroman Elbwärts. Der namenlose Ich-Erzähler ist mit seiner Freundin Christina und dem gemeinsamen Kind zurückgekommen in die Gegend, in der sie beide aufgewachsen sind. Was früher so etwas wie ein selbstverständliches, nicht hinterfragtes Zuhause war, das Dorf im ehemaligen Grenzgebiet zwischen DDR und Tschechoslowakei, östlich von Dresden, nahe des Elbsandsteingebirges, ist anders geworden. Niemand scheint hier auf den Rückkehrer gewartet zu haben, denn was damals war, hat man nicht vergessen, das Misstrauen im Dorf sitzt tief, Gräben bleiben aufgerissen. Er jedoch ist auf der Suche nach seinem Felsen, seinem Riff, seinem Freund Vito auch, mit dem ihn zu Schulzeiten eine enge Freundschaft verband, die jäh zerbrach. Die beiden Jungen hatten eines Tages beschlossen, der Schule und dem Elternhaus den Rücken zu kehren und auf den Felsen hoch über dem Dorf und dem Fluss zu steigen. Bei einem besonders gewagten Klettermanöver stürzte Vito so unglücklich, dass ihm ein Bein amputiert werden musste. War der Ich-Erzähler schuld am Unfall? Diese Frage treibt ihn bis heute um, er sucht nach Antworten, verirrt und verwirrt sich dabei zunehmend. Auch als Erwachsener streift er tagelang durch die Gegend, manchmal mit dem Kind, „die Kleine“ genannt, an der Hand, bis er sie in der Kita abgegeben hat. Immer wieder kehrt er zurück zu seinem Felsen, vielleicht um zu verstehen, was damals war, um sich von dieser Schuld zu befreien, sich dabei jedoch immer mehr in sie zu verstricken. Oder um im Fels, diesem unveränderlichen Koloss, etwas zu finden, was so geblieben ist, wie es damals war.

Auf seinen Streifzügen bewegt sich der junge Mann und Vater, der sich einmal fragt, warum er Christina noch nicht geheiratet habe, und auch diese Frage wie viele andere nicht beantworten kann, auf einem gefährlichen Weg. Während seine Partnerin als Physiotherapeutin in der „Stadt-die-keine-ist“ schnell ihren Platz gefunden hat und akzeptiert wird, begegnet man ihm zunehmend abweisend. Immer wieder bemerkt er Schatten hinter sich bewegenden Vorhängen, Menschen auf der Straße, die sich abwenden, fragende Blicke. Wenn er mit dem Bus in die Stadt fährt, erkennt er vieles wieder und entdeckt manches, was ihm nicht gefällt.

Es gibt einen Bahnhof, wo die Leute aus der richtigen Stadt ankommen und die Kletterer. Es gibt eine Kirche. Drei Bäcker. Zwei Fleischer. Zwei Eisdielen. Das Eisenbahnviadukt. Dann das Deutsche Eck. Den Reichsadler. Gita’s Bierbude und noch einige mehr von diesen Orten, wo die Glatzen an Plastiktischen ihre Biere trinken, aber Glatzen haben die meisten schon lange nicht mehr. Von den Glatzen oder denen ohne gibt es viele.

Es sind diese Veränderungen, die ihn aufs Tiefste verunsichern und ihn zum einen seine Suche vorantreiben lassen, zum anderen boden-, heimat- und ratlos zurücklassen.

Thilo Krause lässt seinen Erzähler dieses gefährliches Spiel spielen, verliert er doch zunehmend alles. Nicht nur das Dorf distanziert sich vom Eindringling, auch Christina wird es eines Tages schlicht zu viel, mit einem Mann zusammenzuleben, dessen Verhalten sie nicht mehr verstehen kann. Sie bekommt es mit der Angst zu tun, nachdem er auch noch vergisst, die Tochter in der Kita abzuholen. Sie packt die Kleine ins Auto und fährt zu ihren Eltern. Er bleibt allein im Haus zurück, das für eine Person viel zu groß ist, ist unfähig, sich gegen eine Abwärtsspirale zur Wehr zu setzen, die ihn ergreift. Sein lebensrettender Anker wird Jan, der tschechische Chauffeur, mit dem er sich anfreundet und eine gemeinsame Sprache findet. Beide erzählen sie Geschichten, beide leben sie in Grenzregionen. Jan erinnert ihn an Jiři, den Schulhausmeister von damals, auch er ein Tscheche. Er hat den beiden Jungen damals immer wieder geholfen, auch nach dem Unfall von Vito. Jiři wurde zur Vertrauensperson, für die Jugendlichen von lebensnotwendiger Bedeutung. Endlich findet der Ich-Erzähler den Mut, Vito in seiner Werkstatt in der Stadt zu besuchen. Der Empfang ist kalt, Vito konfrontiert ihn schonungslos mit dem Geschehen von damals:

Hättest aber auch etwas mitbringen können, sagte er. Kommt wieder mit leeren Händen. Früher hast du mir wenigstens noch Blumensträuße gebracht.
Die deine Eltern allesamt auf den Kompost geworfen haben.
Da haben sie auch hingehört.

Dass Vito sehr viel mehr über seinen Freund von damals weiß, als dieser vermutet, lässt er ihn spüren:

Geschickte Hände hat sie, deine Christina.
Ich merkte, wie ich meine Hände zu Fäusten ballte, wie ich die Oberschenkel unter der Tischplatte spannte, als wäre ich kurz vor dem Sprung. Es hatte einen Moment gedauert, aber jetzt dämmerte mir eine Idee.
So ist das, sagte Vito. So habe ich deine Frau eher kennengelernt als dich.

Dieser Hieb sitzt tief. Vielleicht folgt der Ich-Erzähler gerade deshalb Vito nach draußen und zum Eisenbahnviadukt, wo dieser sich ohne seine Krücken in einem halsbrecherischen Manöver zu seinem „Lieblingsplatz“ hievt, einem „betongefassten Metalldeckel ungefähr zwanzig Meter entfernt von uns“. Nebeneinander sitzen sie da, drei und ein halbes Bein hängen herunter, sie trinken Bier aus der Flasche, ohne miteinander anzustoßen. Gerne hätte er geredet, hätte Vito erzählt, wie er sich gefreut hatte, ihn im Internet wiedergefunden zu haben. Kein Wort kommt ihm über die Lippen. Stumm verlassen sie den gefährlichen Ort. „Vito stand auf, griff das Geländer und arbeitete sich auf dieselbe Art und Weise zurück, wie er gekommen war.“

Nichts hat sich geklärt zwischen den beiden, die früher mal Freunde waren. Und der Ich-Erzähler geht weiter mit dem, was er gesehen hat in Vitos Küche, die Zeitschriften nämlich, “die hier überall zu bekommen sind. Mit Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg darauf und den Titeln der Geschichten in Frakturschrift.“ Dass seine Schlüsse falsch sind, erfährt der Ich-Erzähler erst sehr viel später, wenn sich einige Lichtblicke am Horizont zeigen.

Thilo Krause, 1977 in Dresden geboren und seit vielen Jahren in Zürich lebend, hat seit 2012 vier herausragende Gedichtbände veröffentlicht, für die er mehrere Auszeichnungen bekam, u.a. den Schweizer Literaturpreis, den Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg oder den Peter-Huchel-Preis. Auch in seinem Roman überzeugt er mit einer genauen knappen Sprache voller Intensität. Elbwärts ist im Präsens geschrieben und erzeugt so eine Unmittelbarkeit, die sich auf die Leser*innen überträgt und durchaus auch schmerzen kann. Rückblenden stehen im Präteritum, wobei sich die Erinnerungen und das Heute vermischen können, so auch die Zeiten. Ebenso gehen das private Leben sowie das subjektive Erleben des Protagonisten und die politischen Entwicklungen im Osten Deutschlands ineinander über.

Gegen Ende des Romans kommt es zur großen Überschwemmung, die Elbe steigt und steigt, alle Ortschaften von der Grenze an elbabwärts müssen evakuiert werden. Auch die Stadt steht unter Wasser. Schuld daran, so wird gemunkelt, sind „die Tschechen, weil sie die Staustufen geöffnet haben“. Hier, in der konkreten Not, gelingt es dem Ich-Erzähler endlich, Altes abzustreifen und sich der Gegenwart zuzuwenden. Alle zusammen, der Ich-Erzähler, Christina, die Kleine, Vito – in zwei vollgeladenen Autos fahren sie ins Gebirge Richtung Grenze, aus einem zerstörten Gebiet, das einst vertraut war. Doch ob es wirklich so ist oder aber ein Traum, bleibt letztlich offen.

Völlig zu Recht wurde Thilo Krause für sein Romandebüt Elbwärts mit dem renommierten Robert-Walser-Preis 2020 ausgezeichnet. In ihrer Laudatio schreibt die Jury: „In Bildern von großer dichterischer Intensität gelingt es Krause, das Eintauchen-Wollen in eine unwiederbringlich verlorene, nicht mehr zu berichtigende Vergangenheit sinnlich fassbar zu machen.“

Titelbild

Thilo Krause: Elbwärts.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446267558

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