Die schönen Dinge des Lebens

Jenny Fagerlund berichtet in „24 gute Taten“ von einem Weg ins Glück

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Charles Dickens‘ berühmte Weihnachtsgeschichte über die festliche Läuterung des griesgrämigen, herzlosen Ebenezer Scrooge zu einem gütigen Menschen erinnern sich viele Leserinnen und Leser bis heute. Die hierzulande wenig bekannte schwedische Schriftstellerin Jenny Fagerlund nimmt uns mit in Emmas Welt. Sie zeigt keinen mürrischen Ebenezer, sondern sehr einfühlsam eine junge, traurige Frau, die einsam in tristen Tagen ein kleines Geschäft führt. Ihr Lebenspartner Niklas ist vor wenigen Jahren an Heiligabend verstorben, und sein Tod begleitet Emma auf Schritt und Tritt. So liegt eine unsichtbare Schwere über ihrem ereignislosen Leben. Wir ahnen sogleich, dass ein nicht ganz unsentimentaler Roman uns erwarten könnte. 

Emma also geht es gar nicht gut. Sie hat Kummer: „Emma spürte, wie sich alles in ihr verkrampfte. Der Dezember war unleugbar im Anmarsch. Der Monat, den sie am liebsten überspringen würde.“ Während ihre Familie sich schon im November auf Weihnachten vorbereitet, möchte sie sich am liebsten allem entziehen. Emma hat sich in ihrer leisen Traurigkeit eingerichtet. Ihre Schwester Magda kümmert sich um sie, behelligt sie mit Vorschlägen, wie sie ihr tristes Leben ein wenig verschönern könnte. Niemand, der wirklich tieftraurig ist, möchte eigentlich davon hören. Magda übt sich redlich und gutwillig darin, einen positiven Einfluss auf Emma zu nehmen, auch wenn sie ahnt, dass die Idee eines gemeinsamen Töpferkurses nicht unbedingt auf Begeisterung stoßen wird. Würde ihrer Schwester nicht ein Hund guttun? Emma sträubt sich, weil Niklas, ihr verstorbener Lebensgefährte, und sie einen Hund bei sich hatten aufnehmen wollten, ehe der Tod alle gemeinsamen Pläne zunichtemachte. Niklas ist förmlich überall:

Manchmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass er vielleicht nur bei der Arbeit war und jeden Augenblick nach Hause kommen könnte. Dass er plötzlich im Flur stand, nach ihr rief und dann trotz ihrer ständigen Proteste mit Schuhen durch die Wohnung lief, sie anstrahlte und ihr einen Kuss gab.

Zugegeben, etwas rührselig muten Emmas Gedanken schon an, aber nicht unvorstellbar – und vielleicht ist manches, was sentimental erscheint, weniger rührselig als vielmehr wirklich rührend. Magda empfiehlt ihr, sich um einen Hund zu kümmern, wenigstens gelegentlich. Der Gedanke ist für Emma eine Zumutung. Dann lernt sie eine ältere Dame namens Lilian näher kennen, ihre Nachbarin, die auch wenig Kontakte hat. Sie beginnen sich anzufreunden. Emma geht sogar mit ihr in die Kirche zum Adventsgottesdienst. Auch Lilian ist einsam.

Wie also kann Emma aus ihrem Gefängnis der Traurigkeit ausbrechen? Die Antwort gibt der Titel des Romans – durch gute Taten. Dass sie sich selbst Herzenswärme wünscht, ist offensichtlich, aber sie kann auch etwas dafür tun, nämlich indem sie für andere da ist und ihnen hilft. Gedanken darüber schaden nicht, es muss ja kein Töpferkurs sein. Emma sehnt sich nach dem „Gefühl der Wärme“ und bemerkt, wie sie andere Menschen auf manchmal unscheinbare Weise glücklich macht. Auf die Frage, was sie denn für sich machen wolle, antwortet sie ganz einfach: „24 gute Taten. Ich werde jeden Tag bis Heiligabend eine gute Tat vollbringen.“ Das klingt programmatisch, auch menschenfreundlich, vielleicht sogar einfach liebevoll und nett. Das Vorhaben ist aber voller Fragezeichen. Sie überlegt sich, was sie tun könnte. Nur für den 24. Dezember weiß sie genau, was sie möchte: „Meiner Familie etwas Gutes tun und ihr sagen, wie sehr ich sie liebe und wie viel sie mir bedeutet.“ Auf dem Weg durch den Advent nimmt Emma zunächst etwas widerstrebend, sodann herzlich einen Hund in Pflege, der auf den Namen Lukas hört und eher müde und schläfrig, aber noch nicht lebenssatt ist. Sie mag ihn gern. Die beiden gewöhnen sich schnell aneinander.

Emma wird von ihrer Schwester bedrängt, ein Mädchen bei sich im Laden arbeiten zu lassen – für ein Schulpraktikum. Eigentlich möchte sie das nicht. Aber sie lässt das Mädchen, das Julia heißt, nicht nur bei sich arbeiten, sie kann ihr auch helfen. Die ehemalige Lehrerin Emma unterstützt sie dabei, die Schule gut abzuschließen, damit sie aufs Gymnasium wechseln kann.

Emma bemerkt an einem anderen Tag, wie ein kleiner Junge von Jugendlichen bedroht wird. Sie stellt sich der Gang in den Weg. Manche von ihren Leserinnen und Lesern werden sich an die eigene Kindheit erinnern und sich in manchen Augenblicken auch eine mutige Emma gewünscht haben, die auf einmal da ist und furchtlos die streitlustigen Jungs zurechtweist. Für den bedrohten Jungen ist sie damit eine Heldin, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und alles richtig macht:

Wie war es möglich, dass eine Bande von Jugendlichen am hellichten Tag beinahe Leute ausraubte, während gestresste Angestellte in ihrer knapp bemessenen Mittagspause in unmittelbarer Nähe an ihnen vorbeihetzten und nichts unternahmen. Sie war froh, dass sie auf ihre Intuition gehört hatte. Was wäre wohl passiert, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre?

Wer dächte nicht an Erich Kästners Sinnspruch: „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es“? Aber ist das wirklich so einfach? Vielleicht muss nicht jeder Roman sozialkritische Reflexionen enthalten oder die Verrohung der Gesellschaft überhaupt entweder als neueste Neuheit oder als ewig wiederkehrendes Phänomen bewerten. Jenny Fagerlund beschreibt anschaulich Begebenheiten, sie typisiert und symbolisiert. Zugleich aber wird deutlich: Es gibt viele Situationen im Alltag, in denen ein Einzelner den Unterschied ausmachen kann – ob durch eine nette, freundliche Geste, ein paar Worte des aufrichtigen Mitgefühls und der Güte oder durch ein beherztes Eintreten für Schwächere, für Menschen, die fast jeder zu übersehen scheint.

Auch eine Liebesgeschichte deutet sich an – mit Adam. Natürlich wird Emma Niklas nie vergessen, das muss sie auch nicht. Aber mehr und mehr findet sie Gefallen an dem neuen Weggefährten bei Spaziergängen, dessen Hund auf den nicht besonders außergewöhnlichen Namen Fiffi hört. Emma ertappt sich sogar dabei, „dass sie Adam und Fiffi vermisste“. Sie macht eine erstaunliche Erfahrung:

Adam sah gut aus, das musste sie schon zugeben. Die dunklen Haare, die blauen Augen und sein breites Lächeln gefielen ihr. Er war ein ganz anderer Typ als Niklas. Die beiden waren wie Tag und Nacht. Was war da zwischen ihnen? War es nur Freundschaft, oder war es mehr als das? Sie konnte es nicht sagen, und das machte sie nervös. Sie hatte nicht vor, jemandem näherzukommen. Und doch war es so, als würde Adam, ohne dass sie es hatte verhindern können, längst einen Platz in ihrem Leben einnehmen. Still und leise, mit einem Tannenbaum im Arm, hatte er ihn sich erobert.

Noch ein paar dunkle Momente aus Emmas Leben müssen ausgesprochen werden. Sie löst sich aus dem Schmerz ihrer Traurigkeit, öffnet sich und öffnet damit sozusagen eine Tür mehr im Adventskalender ihres eigenen Lebens – nämlich die Tür zu einem neuen Anfang. Emma erfährt, dass sie anderen Menschen Freude schenken kann. Zugleich stellt sie fest, dass sie selbst wieder Gelegenheiten entdeckt, die sie froh stimmen.

Eigentlich hat Jenny Fagerlund nur einen sehr einfach gestalteten, traditionell erzählten Roman vorgelegt, der trotzdem etwas Seltenes in sich birgt. Die Autorin hat keine Scheu, vom Guten zu erzählen. Sie fürchtet sich nicht davor, Hoffnung zu schenken. Ebenso wenig hat sie Angst, den Gefühlen breiten Raum zu lassen. Jenny Fagerlund zeigt, dass das Glück keine Illusion ist und dass ein zuinnerst trauriger Mensch wie Emma neue Freunde finden, Wege und Augenblicke der Freude für sich entdecken und erleben kann. Wer sich nicht fürchtet, einen Roman über die schönen Dinge des alltäglichen Lebens zu lesen, dem sei dieses Buch empfohlen – nicht nur zur Weihnachtszeit.

Titelbild

Jenny Fagerlund: 24 gute Taten.
Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
288 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783832165444

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