Das Who’s who des Mittelalters

Jacques Le Goff unternimmt den Versuch, die mittelalterliche Epoche durch die Betrachtung bedeutender „Menschen des Mittelalters“ zu rekonstruieren

Von Simone HackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jacques Le Goff (1924–2014), der Herausgeber des vorliegenden Bandes Menschen des Mittelalters, gehörte zu den bedeutendsten französischen Mittelalterhistorikern, dessen Veröffentlichungen zur mittelalterlichen Geschichte auch in Deutschland sehr bekannt und viel gelesen sind. Auch im Bereich der Historischen Biographienforschung war Le Goff keineswegs ein Neuling. Zu denken wäre hier etwa an seine für damalige historische Methoden revolutionäre Biographie zu Ludwig dem Heiligen aus dem Jahr 2000.

Zusammen mit 43 weiteren Autoren – allesamt Experten für verschiedene Bereiche des europäischen Mittelalters – versucht Le Goff durch die Betrachtung der Lebensgeschichten herausragender Persönlichkeiten das Mittelalter als zusammenhängenden, aber sehr vielfältigen Zeitraum zu rekonstruieren. Da es sich bei den meisten Autoren des Bandes um Kollegen, Freunde oder Weggefährten von Le Goff handelt, ist es nicht verwunderlich, dass sie überwiegend französischer Herkunft sind. Allerdings finden sich unter den Autoren auch der norwegische Historiker Sverre Bagge, der US-amerikanische Historiker und Mediävist John Baldwin sowie die dänische Historikerin Jenny Jochens, deren Forschungsschwerpunkt auf der mittelalterlichen Frauengeschichte liegt. Darüber hinaus haben sich einige bedeutende Schüler Le Goffs und Vertreter der Annales-Schule wie der tschechische Historiker Martin Nejedlý oder der französische Mediävist Jean-Claude Schmitt mit Artikeln zu ihren Arbeitsschwerpunkten eingebracht.

Im vorliegenden Band klingen auch die Gedanken Le Goffs zum Thema Periodisierung an, mit der sich der französische Historiker lange Zeit beschäftigte und deren Ergebnisse in dem 2016 veröffentlichten Essay Geschichte ohne Epochen abgedruckt wurden. Darin spricht sich Le Goff für ein „langes Mittelalter“ aus, das sich von der Spätantike bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts erstrecke und erst mit der Industrialisierung, der französischen Revolution und den Theorien von Adam Smith durch eine neue Zeit abgelöst werde.

Für Le Goff gab es nicht die eine Epoche der Renaissance, vielmehr habe das „lange Mittelalter“ mehrere Renaissancen erlebt: die Karolingische Renaissance im 8. Jahrhundert, die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert sowie eine weitere im 15. Jahrhundert. Dass sich Le Goff im vorliegenden Werk allerdings letztendlich doch mit der gewohnten Periodisierung und einer zeitlichen Eingrenzung des Mittelalters vom 4. bis zum 15. Jahrhundert zufriedengab, begründet er zum einen mit dem Vorhandensein des Bandes Menschen der Renaissance von Robert C. Davis und Beth Lindsmith aus dem Jahr 2011. Auf diese Weise sollten Überschneidungen der beiden Werke vermieden werden. Zum anderen argumentiert Le Goff, er habe nur deshalb im vorliegenden Band engere zeitliche Eingrenzungen gewählt, weil er niemanden habe schockieren wollen, der noch der alten Schule anhänge. Es ist bedauerlich, dass Le Goff seiner Prämisse, die er in dem bereits erwähnten Essay 2016 ausführlich vorgestellt hat, in diesem Band keine Taten folgen ließ, denn in diesem Format hätte er die Gelegenheit gehabt, seine These vom „langen Mittelalter“ anhand von Repräsentanten der Zeit zu belegen.

Das Buch umfasst mehr als hundert Biographien bedeutender Persönlichkeiten des Mittelalters. Das Feld der vorgestellten Personen ist divers: Neben Königen, Heiligen, Theologen, Gelehrten und Schriftstellern finden sich auch Reisende, Händler, Künstler sowie einige fiktive Figuren. Diese Herangehensweise, eine Epoche anhand herausragender Persönlichkeiten zu rekonstruieren, lässt zunächst einmal innehalten und an die in den 1920er-Jahren unter anderem auch von der französischen Annales-Schule selbst vorgebrachte Kritik denken, dass sich die Geschichtswissenschaft zu sehr mit den Eliten und großen Männern befasse und die alltägliche Volkskultur vernachlässige. Le Goff rechtfertigt die Auswahl der vorliegenden Persönlichkeiten allerdings damit, dass bekannte Männer und Frauen auch als „Vertreter und aufschlussreiche Beispiele für die Gesellschaft und die Zeit, der sie angehörten“, zu betrachten sind und auf diese Weise wichtige Ansatzpunkte für die Erschließung einer Epoche liefern können. In den Lebensläufen dieser mittelalterlichen Zeitzeugen könne auf diese Weise sowohl das Einende als auch die Vielfalt der mittelalterlichen Gesellschaft dargestellt und Entwicklungen in den wichtigsten Gesellschaftsbereichen wie Religion, Königtum, Städteentwicklung, Wirtschaft, Bildung und Kultur aufgezeigt werden.

Positiv ist hervorzuheben, dass es auch einige Frauen in das Who’s who des Mittelalters geschafft haben. Zwar sind es bei weitem nicht so viele Frauen wie Männer, die im vorliegenden Band porträtiert werden, aber Le Goff betont an dieser Stelle: „Dieses Ungleichgewicht spiegelt nicht dasjenige wider, das sich in der Neuzeit in den meisten Gesellschaften einschließlich der unseren entwickelte und bis heute gehalten hat, sondern entspricht dem dokumentierten realen Stellenwert der Frau im Mittelalter.“ Es wird jedoch deutlich, dass die Frau auch im Mittelalter durchaus Möglichkeiten besaß, ihr Umfeld und die Gesellschaft zu beeinflussen, sei es als Herrscherin, Nonne oder Heilige. Zudem erhielt die Frau durch den Aufschwung des Marienkults im 12. Jahrhundert eine deutliche Aufwertung.

Nicht im Buch enthalten sind historische Personen der Antike, die im Mittelalter präsent waren wie Alexander der Große, Aristoteles oder König Salomon. Auch werden kein Jude und nur wenige Muslime vorgestellt. Le Goff hebt in seiner Einleitung jedoch hervor: „Muslimisches und jüdisches Gedankengut hatte erheblichen Einfluss auf die mittelalterliche Christenheit. Auch wenn sich dieses Phänomen nicht an herausragenden Persönlichkeiten festmachen lässt, darf es nicht unterschlagen werden.“

Die mittelalterlichen Zeitzeugen sind chronologisch sortiert und das Buch ist in vier Zeitabschnitte unterteilt. Zu Beginn jedes Kapitels befindet sich ein kurzer einführender Text, in dem Le Goff die Besonderheiten der jeweiligen Periode herausstellt. Vor allem im Frühmittelalter stellt sich die Problematik, dass häufig nur wenige aussagekräftige Quellen vorliegen, weshalb die Länge der Artikel stark variiert. Die Spanne reicht von zehn Zeilen bis zu drei Seiten.

Das erste Kapitel behandelt den Zeitraum von der Christianisierung bis zu Karl dem Großen (325–814). Dabei liegt der Schwerpunkt in dieser Periode auf der Darstellung von Königen, Heiligen und gelehrten Geistlichen. Neben großen und bekannten Persönlichkeiten wie Augustin, Theoderich dem Großen oder Benedikt von Nursia werden aber auch eher unbekannte Menschen wie die Isländerin Gudridur Thorbjarnardottir oder der Prediger Arnold von Brescia vorgestellt. Besonders häufig sind die ausgewählten Personen dieses Abschnitts zudem Wegbereiter für kommende Zeiten: so beispielsweise Isidor von Sevilla als Wegbereiter der Enzyklopädien, Beda Venerabilis als Wegbereiter der Angelsächsischen Literatur oder Alkuin als Wegbereiter der Karolingischen Renaissance. Beim Artikel zu Karl dem Großen wird vor allem auf die Mythenbildung und Rezeption des Frankenherrschers Bezug genommen.

Das zweite Kapitel setzt mit dem Tod Karls des Großen ein und geht bis zur Jahrtausendwende (814–1000). In dieser Zeit stießen insbesondere die Einfälle der Wikinger und die damit einsetzenden neuen Handelsbeziehungen bedeutende Entwicklungen an. Die Macht der Klöster, die im Frühmittelalter entstanden waren, stieg weiter und das lateinische Christentum begann sich im zentralen und östlichen Europa auszubreiten. Neben den Heiligen Adalbert und Stefan dürfen in diesem Kapitel selbstverständlich die zum Teil bereits von ihren Zeitgenossen als die „Großen“ betitelten Herrscher nicht fehlen. Neben Karl dem Großen, Alfred dem Großen und Otto dem Großen wird auch Knut der Große vorgestellt, der im 11. Jahrhundert über ein nordisches Großreich bestehend aus England, Dänemark, Norwegen und Südschweden herrschte.

Auf diese vergleichsweise kurze Periode folgt das dritte und mit 48 vorgestellten Persönlichkeiten das längste Kapitel zum Hochmittelalter (1000–1300). Diese Zeit war von einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Blütephase geprägt. Es kam zu einem Wachstum der Städte, die als Zentren der Bildung und Kultur hervortraten und in denen sich das Bürgertum herausbildete. Darüber hinaus kam es in den Städten zur Entstehung des Handwerks mit der Errichtung imposanter Baudenkmäler wie den Kathedralen sowie zu den Gründungen der Bettelorden, zu deren wichtigsten Vertretern die von Dominikus und Franziskus gegründeten Orden gehörten. Im Zuge der Gründungen von Hochschulen entwickelte sich die neue Denkrichtung der Scholastik, die einige der bedeutendsten Intellektuellen des Mittelalters wie Peter Abaelard, Albertus Magnus oder Thomas von Aquin hervorbrachte.

Im Hochmittelalter lassen sich auch gebildete und mächtige Frauen finden, die wie Eleonore von Aquitanien die Politik ihres Landes mitbestimmten oder wie Mathilde von Canossa aufgrund ihres Einflusses, ihrer Offenheit und ihres unermüdlichen Kampfgeistes von der Gender History als Vorläuferin der Frauenbewegung stilisiert wurden.

Das vierte Kapitel widmet sich der Zeit der Unruhen und des Wandels (1300–1500). Diese Zeit, die von Historikern meist als Spätmittelalter bezeichnet wird, konnte laut Le Goff nicht an die Stabilität und Blüte der vorangegangenen Jahrhunderte anknüpfen. Der französische Historiker plädiert jedoch dafür, diesen Abschnitt als Zeit des Wandels und nicht der Krise zu bezeichnen.

Diese Periode war von verschiedenen Schwierigkeiten in wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereichen geprägt. Neben sozialen Bewegungen im Zusammenhang mit dem Erstarken des Bürgertums, repräsentiert durch Persönlichkeiten wie Cola di Rienzo oder Étienne Marcel, kam es in den unteren Schichten zu vermehrten Aufständen und Revolten. Innerhalb der Kirche bahnten sich nach der Verlegung des Heiligen Stuhls durch Papst Clemens V. nach Avignon tiefgreifende Konflikte an. Darüber hinaus nahmen die kriegerischen Auseinandersetzungen in dieser Zeit deutlich zu und auch andere Katastrophen wie Hungersnöte und Pestepidemien prägten diesen Abschnitt.

Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts kam es zu einer Phase des Wiederaufbaus, die zu einer Renaissance in den Künsten und der Herausbildung der neuen geistigen Strömung des Humanismus führte. Le Goff lässt das Mittelalter in diesem Band mit Christoph Kolumbus enden, der seiner Ansicht nach noch eindeutig ein Anhänger des durch die Bibel und antiken Geographen geprägten mittelalterlichen Weltbildes war. Dies und auch das Hauptanliegen seiner Reise, die Ungläubigen in den weit entfernten Ländern zu missionieren, lässt Kolumbus somit laut Le Goff eindeutig noch als eine Persönlichkeit des Mittelalters erscheinen.

Von spätmittelalterlichen Persönlichkeiten wie Jeanne d’Arc oder Vlad dem Pfähler, die in gewisser Weise zwischen der Realität und dem um sie errichteten Mythos standen, kommt der Band im letzten Kapitel auf eine Reihe rein imaginärer Figuren zu sprechen, die die Vorstellungswelt des Mittelalters prägten. Die Betrachtung der aus moderner Sicht rein fiktionalen Charaktere ist für ein Verständnis des Mittelalters von großer Bedeutung, da in dieser Zeit Fiktion und Realität nicht immer scharf abzugrenzen waren. Außerdem – so Le Goff – übe das Imaginäre auf jede Gesellschaft einen ebenso großen Einfluss aus wie die realen Lebensumstände und Denkweisen.

Dabei betrachten die Autoren neben Mythen über vermeintlich reale Personen wie König Artus oder Päpstin Johanna, die ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind, auch volkstümliche Helden wie Jacques Bonhomme oder Robin Hood. Darüber hinaus tauchten in den mittelalterlichen Erzählungen häufig auch fantastische Figuren wie Zauberer, Monster oder Wesen aus dem Feenreich auf. Der bekannteste von ihnen ist der Zauberer Merlin, dessen Artikel leider etwas kurz geraten ist. Abschließend werden die zwei zentralen Figuren, die im Mittelalter den beständigen Kampf zwischen Gut und Böse repräsentierten, gegenübergestellt: die Jungfrau Maria und der Teufel.

Im Anhang des Bandes sind einige Karten unter anderem zur Völkerwanderungszeit sowie der Ausdehnung des Abendlandes im 12. und 13. Jahrhundert abgedruckt, auf die allerdings in den Texten kein Bezug genommen wird und die auch keine weitere Erläuterung erfahren. Des Weiteren findet sich im Anhang eine Zeittafel mit den wichtigsten Ereignissen von 276 bis 1495. Hier wäre eine Markierung der im Band vorgestellten Persönlichkeiten wünschenswert gewesen, um von der Zeittafel direkt auf die Artikel verwiesen zu werden. Ohnehin steht der Band in gewisser Weise zwischen einem Status als Überblickswerk über das Mittelalter und einem Personenlexikon.

Laut der Einleitung von Le Goff soll anhand der bedeutenden Personen, die als Stellvertreter ihrer Zeit auftreten, die gesamte Epoche des Mittelalters nachgezeichnet werden. Zum kontinuierlichen Lesen ist das Buch auf Dauer allerdings zu schwer und unhandlich. Will man aber den versprochenen Überblick über die Epoche erhalten, muss man mehrere der Kurzbiographien hintereinander lesen. Um das Buch als Personenlexikon zu verwenden, wäre eine alphabetische Auflistung der behandelten Personen in einem Register sinnvoll gewesen, damit man diese, auch ohne sie zeitlich einem der Kapitel zuordnen zu können, schnell finden kann. Auch existieren innerhalb der Artikel keine Verweise auf die anderen Beiträge des Bandes, wie man sie aus anderen Lexika kennt. Dies wäre hilfreich gewesen, um bei Interesse gleich im nächsten Beitrag weiterlesen zu können und auf diese Weise innere Zusammenhänge zwischen den Artikeln herzustellen.

Ein weiteres großes Manko sind die Literaturhinweise zu den Artikeln im Anhang, bei denen überwiegend französische Texte genannt werden. Hier hätte man für die deutsche Ausgabe nacharbeiten und deutsche Literaturhinweise ergänzen müssen.

Wirklich schön anzusehen und sehr hochwertig sind indes die teilweise doppelseitigen Abbildungen zu den einzelnen Persönlichkeiten. Neben den häufig abgebildeten Buchmalereien finden sich auch andere zeitgenössische Darstellungen wie Altarbilder, Gemälde, Stickereien, Medaillen, Münzen, Skulpturen oder Grabmäler. Diese Abbildungen heben das Werk wiederum von einem einfachen Personenlexikon ab. Somit geht das Konzept des Buches nicht ganz auf und es bleibt in einem gewissen „Weder-noch“-Schwebezustand hängen.

Ausgesprochen interessant ist die sich in mehreren Artikeln abzeichnende Entwicklung von der vorherrschenden Schriftsprache Latein zum Aufblühen der verschiedenen Volkssprachen, die unter anderem anhand bekannter Schriftsteller und Dichter wie Chrétien de Troyes, Snorri Sturluson, Dante Alighieri oder Geoffrey Chaucer für die jeweilige Volkssprache präsentiert werden. Leider wird kein Vertreter der mittelhochdeutschen Dichtung vorgestellt und auch im Artikel zu Chrétien de Troyes bleiben die mittelhochdeutschen Adaptionen der Artuslegenden unerwähnt. Es fällt auf, dass der Fokus des Bandes – vermutlich auch bedingt durch den Herausgeber und die Auswahl der übrigen Autoren – sehr Frankreich-lastig ist.

Was dem Buch gelingt, ist die Widerlegung des hartnäckigen Mythos vom „finsteren Mittelalter“, das die Humanisten und Historiker der Aufklärung zeichneten. Durch die Zusammenstellung der wichtigsten Stellvertreter dieser Zeit offenbart Le Goff das Mittelalter als schöpferische und vielschichtige Epoche, in der es zahlreiche Fortschritte in der Kunst, Musik, Literatur, Architektur sowie der Technik und den Wissenschaften gab.

Manche Artikel schlagen auch interessante Brücken zu unserer heutigen Zeit: So erscheint beispielsweise der bedeutende Enzyklopädist Isidor von Sevilla als Patron der IT-Branche, und auch in vielen anderen Artikeln wird auf moderne Adaptionen wie Verfilmungen oder Romane verwiesen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Jacques Le Goff (Hg.): Menschen des Mittelalters. Von Augustin bis Jeanne d‘Arc.
wbg Theiss, Darmstadt 2020.
448 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783806240696

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