Schwebezustände

Kurzgeschichten über das Flirten mit Realitäten von Lydia Davis

Von Monique GrüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monique Grüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem Kurzgeschichtenband Es ist, wieʼs ist macht uns Lydia Davis eindringlich das Schweben zwischen Tatsächlichkeiten zugänglich. Zu erkennen, was wirklich ist, oder im Erkennen von objektiver Wirklichkeit zu scheitern, davon erzählen ihre Geschichten. Geschichten, die sehr konkrete, irgendwie eigene Figuren entwerfen und daher nicht immer greifbar sind. Und wenn man beim Lesen das Gefühl hat, die Figur und womöglich auch die Geschichte nicht fassen zu können, dann wirft sie uns selbst in eine Schwebe, lässt uns in Ist-Zuständen zurück. Gleichzeitig kann man sich mancher ihrer Figuren so intensiv nähern, dass man ihre Gedanken als eigene empfindet, als würde man der Figur gleichen, als hätte man das Gleiche auf die gleiche Weise schon einmal durchlebt. 

Uns erwarten 34 aus dem Englischen übersetzte Kurzgeschichten, manche ein paar Seiten und manche nur drei Sätze lang. Da gewinnt man den Eindruck, dass es Davis vielleicht gar nicht darum geht, uns in die Geschichte eintauchen zu lassen, sondern vielmehr etwas mitzugeben, ein Reflektieren anzustoßen. So lässt sie uns häufig am Reflektieren ihrer Figuren teilhaben: „[…] ist er fähig, mich zu betrügen, auf frischer Tat, und nach der Tat im Drüber Reden.“ Im Durchleben des inneren Monologs der Figuren schwappt Ruhelosigkeit, Handlungsunfähigkeit, ja irgendwie das Gefühl, Warten und Zustände ertragen zu müssen, statt diese aktiv beeinflussen zu können, auf uns über. Wir werden damit konfrontiert, dass menschliche Beziehungen und damit auch menschliche Kommunikation aus Wahrheiten und Nicht-Wahrheiten bestehen, Leerstellen hinterlassen, die man mit Schlüssen zu füllen versucht. Plötzlich verstehen wir, dass Eindeutigkeit eine Illusion ist. 

Illusion, Einbildung und deren unerfüllte Bestätigung, das Ausbleiben von Tatsächlichkeit, macht handlungsunfähig. Die Figur der Mrs. Orlando beispielsweise bereitet sich stets vor, ist ständig dabei, etwas zu erwarten. Doch sie verharrt lieber in ihrer Neugier und damit auch in einer Unwissenheit, die sich in Angst äußert. Gleich in der nächsten Geschichte schildert uns Davis aber, dass Illusion nicht nur angsterfüllend, sondern auch behaglich sein kann: „[…] beginnt dem zu vertrauen, was nicht real ist, weil es ihm hilft, und er braucht es, weil ihm Reales nicht weiterhelfen kann.“

Wunderschön beschreibt sie, wie Gefühlszustände sich verändern, wie Verliebtsein, das sowieso schon nie ganz greifbar ist, sich auch wieder auflösen kann und im Auflösen noch weniger greifbar wird. War das Verliebtsein überhaupt da? 

Aber es ist nicht vorüber, wenn’s zu Ende ist, […] dann fängst du an, es zu verlieren, und ich fange an, es zu verlieren, du hast Angst vor deiner eigenen Schwäche, dass du sie nicht wieder ganz in dich hineinholen kannst, und nun verlässt das Ganze deinen Körper, und es ist mehr in deinem Kopf als in deinem Körper […]. 

Wenn man sich dann von der Person gelöst hat, wird man von Erinnerungen verfolgt und man weiß, dass diese Art von Schmerz schon kommen wird, wenn man sich der Lust hingibt und ob es das wert ist, ist eigentlich keine Frage. Konkret beschreibt Davis, wie Gefühle sich in Abhängigkeit zu Gefühlsrealitäten der anderen Person entwickeln, und schreibt dem unkontrollierbarsten aller Dinge somit doch eine gewisse Kontrollierbarkeit zu, die außerhalb der eigenen Person liegt.

Außerhalb der eigenen Person liegen ganz schön viele Dinge, andere Menschen, Situationen, Ereignisse, die dazu führen, dass wir selbst aus einer bestimmten Position heraus handeln und kommunizieren und im Umkehrschluss anderen Positionen dort begegnen. 

Anderen Positionen zu begegnen, das heißt manchmal aber auch, auf andere Positionen zu stoßen, mit ihnen konfrontiert zu sein. Wenn man die Position nicht annehmen kann, wenn man vor ihr steht wie vor einer großen Mauer, rückt sie einen dann ins Schweigen, fängt sie den Schall ab? Genau dieser Frage geht Davis in der Kurzgeschichte Der Brief nach. Sie schildert, wie sich Wut entwickelt, wenn man in ein Schweigen gedrängt wird, obwohl man noch etwas zu sagen hat. Auf bestimmte Äußerungen ist keine Antwort möglich, ein Bedürfnis bleibt unerfüllt und das transportiert die Geschichte auch auf Leser_innen. Dieses Suchen im Nichts lässt Schwermut zurück. Indem nicht gesagt wird, was gesagt werden muss, verliert man sich. Unkommunizierbarkeit bedeutet eben auch Unbehagen. 

Während die meisten der in den Geschichten entworfenen Figuren hadern und lediglich zum Reflektieren anregen, gibt uns die Figur in Auszüge aus einem Leben konkret Handlungsimpulse: „Wenn du etwas vorhast, dann führ es aus.“ Die Figur ist kein Gegenentwurf zu denen in den anderen Geschichten des Bandes und doch hat man das Gefühl, beschwingt von Handlungsfähigkeit aus ihr herauszugehen – „Ich tat, was ich tun wollte.“

Treten Realitäten nicht ein, dann kann man in ihnen auch nicht scheitern und so gewinnen Schwebezustände, als Zustände der Planung, ja letztlich der Möglichkeitsoffenheit in Das Haus und seine Pläne an Bedeutung. Was sich alles in diese Schwebe hineinprojizieren lässt, das ist auch in Ein paar Dinge, die bei mir nicht in Ordnung sind Thema: „Vermutlich kam es mir wohl wegen meiner Hoffnungen überraschend vor […].“ Und diese Hoffnung nimmt kein Ende, wenn die Figur Zeit als Zwischenräume wahrnimmt, Veränderung herbeisehnt, um bestimmte Zustände wieder zu erreichen, die sich ihrer Lebensrealität schon längst entzogen haben.

Wenn wir beobachten, wahrnehmen, dann bleiben uns die Dinge und Menschen dennoch manchmal fremd, wie Dunsthauch bewegen sie sich in Zuständen, die wir noch nicht erlebt haben und die uns deshalb verschlossen sind. Eindrücklich illustriert Davis dies am Beispiel der Mütter

Er bewunderte sich selbst und fühlte sich von Zeit zu Zeit anderen gegenüber […] überlegen, nicht wegen dem, was er tatsächlich war und was er tatsächlich aus sich gemacht hatte, sondern eher in Hinblick darauf, was er tun könnte, […] was er eines Tages sein und bleiben würde.

Und in der Zwischenzeit? Ja, da warten die Figuren. Plötzlich stellen wir erschrocken fest, dass wir gar nicht so anders sind als diese stockenden Figuren und wir fragen uns, warten wir selbst vielleicht jetzt gerade? Schwelgen wir in Erinnerungen und fiebern Zukünftigem entgegen? Vielleicht lassen sich manche Realitäten nur so aushalten, aber wäre es nicht schön, könnten wir Gegenwärtigkeit, Tatsächlichkeit einfach mal begrüßen und sagen: „Es ist, wieʼs ist.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Lydia Davis: Es ist, wie’s ist. Stories.
Aus dem Englischen von Klaus Hoffer.
Literaturverlag Droschl, Graz 2020.
176 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590577

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