Rätselhaftes Ende eines Kriegsverbrechers

Der Völkerrechtsanwalt Phillipe Sands geht der Frage nach, warum ein SS-Mörder „Die Rattenlinie“ nicht zur Flucht nutzen konnte

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 60-jährige Philippe Sands ist britischer Juraprofessor und Völkerrechtsexperte. Er leitet das Centre on International Courts and Tribunals am University College London und tritt als Anwalt vor internationalen Gerichten auf, ist Schriftsteller und Literaturkenner; zu einer englischen Ausgabe des Romans Der Prozess von Franz Kafka verfasste er das Vorwort. Seit 2018 steht er dem English PEN vor, Gründungszentrum des weltweiten Schriftstellerverbands PEN International und seit 1921 bestehende Menschenrechtsorganisation.

Neben zahlreichen Abhandlungen über das Völkerrecht schrieb Sands 2016 East West Street (dt. Rückkehr nach Lemberg, 2018). Hier schilderte er anhand einer Reise nach Lwiw/Lemberg/Lwow/Lwów (vier Namen für eine Stadt) das Schicksal seiner dort umgebrachten Angehörigen. Zugleich fand er Spuren der beiden dort ansässigen Juristen, die die völkerrechtlich bedeutsame Einführung der Straftatbestände Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewirkt haben. Das in zwanzig Sprachen übersetzte Buch bildete die Grundlage für den preisgekrönten Dokumentarfilm My Nazi Legacy: What Our Fathers Did. Sands verfasste das Drehbuch und trat mit den Söhnen der hochrangigen Naziverbrecher Hans Frank und Otto Wächter auf. Frank war Generalgouverneur der deutsch besetzten polnischen Gebiete, Wächter unter ihm Gouverneur von Krakau und später des Distrikts Galizien mit Lemberg als Hauptstadt. Um diesen Otto Wächter geht es im zu besprechenden Buch mit dem Originaltitel The Ratline: Love, Lies and Justice on the Trail of a Nazi Fugitive.

Auf YouTube findet man The Ratline with Philippe Sands, ein von der Juristischen Fakultät des University College London bereitgestelltes Interview auf Englisch.

Der deutsche Begriff „Rattenlinie“ hat sich als ungelenke Übersetzung von The Ratline aus dem amerikanischen Englisch eingebürgert. Er bezeichnet die Fluchtroute für Naziverbrecher, vorrangig in Italien oder Spanien startend und nach Lateinamerika führend. Dort bedienten sich mehrere Diktatoren der erfahrenen Bürokraten und Vollstrecker des Völkermords. Adolf Eichmann verbarg sich in Argentinien, von wo ihn israelische Agenten entführten. Der als „Schlächter von Lyon“ berüchtigte Klaus Barbie agierte jahrelang unter falschem Namen im bolivianischen Geheimdienst. Die Fluchtroute war von klerikal-faschistischen Würdenträgern der katholischen Kirche unter der Bezeichnung „Klosterroute“ geschaffen worden. Die Amerikaner – vor allem der damalige Geheimdienst CIC – nutzten sie und gaben ihr ihr den neuen Namen.

Die Betreiber der Route haben sich schuldig gemacht. Der „braune Bischof“ Alois Hudal in Rom und die Amerikaner wussten vom Holocaust. Das hielt sie nicht ab, Nazimörder ihrer Strafe zu entziehen und sie mit neuer Identität auszustatten. Die USA trugen maßgeblich zu den Nürnberger Prozessen bei, warben aber hochrangige Mitarbeiter der verurteilten Kriegsverbrecher als Agenten und Spione an. Je höher jemand in der Hakenkreuzhierarchie gestanden hatte, desto wertvoller waren seine Erfahrungen und Verbindungen für den Kampf gegen den Kommunismus. Die Einwände aufrechter Politiker und Militärs gegen die Zusammenarbeit mit Nazis wurden abgeschmettert.

Zurück zu Otto Wächter: Der österreichische Kleinadlige und Nazi stand, wie gesagt, in Krakau und später in Lemberg an der Spitze der deutschen Besatzer. Das Buch setzt nach dem Höhepunkt seiner Karriere ein, im Juli 1949, als er schwerkrank in Rom unter falschem Namen in ein Hospital kommt und dort verstirbt. Nach Fluchtjahren in den österreichischen Alpen war er nach Italien gelangt, wo Bischof Hudal ihn anonym in einem Kloster unterbringen ließ.

Die Erzählperspektive richtet sich auf Wächters vierten Sohn Horst, den der Autor im Frühjahr 2012 zum ersten Mal besucht hat. Bei der Spurensuche in Lwiw war Sands mit Niklas Frank in Kontakt gekommen, dem Sohn von Hans Frank. Der hielt die Todesstrafe gegen seinen Vater für gerecht, und kannte Horst Wächter, von dem er wusste, dass er alles anders sah.

Sands nahm Verbindung zu Horst Wächter auf, erhielt Einblicke in den Familiennachlass und in Details des Aufstiegs jenes Mannes mit der Mitgliedsnummer 301 093 der NSDAP, der im April 1932 in die SS eintrat. Seine Frau Charlotte gehörte ebenfalls der Nazipartei an.

Die Biografie des Kriegsverbrechers wird ausführlich dargestellt. Gleich nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 übernahm er in Wien ein großes Anwesen, das bei der „Arisierung“ jüdischen Besitzes enteignet worden war. Später verloren unter seiner Herrschaft im Distrikt Galizien mehr als 525.000 Menschen ihr Leben.

Als Leser ist man fasziniert und befremdet, wie lange der Autor den Kontakt mit Horst Wächter durchhielt. Der bezeichnete sich von Anfang an als „Nazi-Kind“ und wand sich, wenn es um die Schuld seines Vaters ging. Den treffe keine strafrechtliche Schuld – er habe einen anständigen Charakter gehabt. Die Beziehung endet, als Sands unverblümt ausspricht, dass Otto Wächter wie Hans Frank zum Tode verurteilt worden wäre, wenn man ihn gefasst hätte.

Nach Ausführungen über Wächters Aufenthalt in Italien widmet sich der Autor voller Akribie der Frage, ob der flüchtige Nazi vergiftet wurde. In einem Krimi wäre dies spannend. Vielen Lesern wird es genügen, dass der Massenmörder nicht nach Lateinamerika fliehen konnte.

Philippe Sands bemüht sich mehr um Gründlichkeit als um Straffung. So enthält das Buch erstaunliche Geschichten, die das Leben schrieb und die man einem Autor von Fiktion als „übertrieben konstruiert“ ankreiden würde. Zum Beispiel erweist sich ein amerikanischer Vater, der den neugeborenen Sohn und dessen deutsche Mutter im besiegten Land zurückließ, später als Agentenführer des Schwiegervaters seines Sohnes. Wer das schöne Krakau und seine Kunstschätze kennt und liebt, wird mit Betroffenheit lesen, wie Wächters Ehefrau dem polnischen Museumsdirektor versichert, ihre Leute seien keine Räuber, und diese im selben Atemzug anweist, Gemälde in den Gouverneurspalast zu verschleppen.

Das von Thomas Bertram aus dem Englischen übersetzte Buch ist eine wertvolle Faktensammlung zur jüngeren Geschichte und eine bewegende Auseinandersetzung über Schuld und Verantwortung. Den Untertitel in der deutschen Wortfolge aufgreifend, kann man dreierlei konstatieren: Lügen bleiben Lügen, auch wenn jemand an sie glauben will. Wächters Liebe zu seiner Frau nimmt ihm nichts von seiner mörderischen Gefährlichkeit. Die Suche nach der Wahrheit hat Philippe Sands in einem Buch festgehalten, das einen lange nicht loslässt.

Titelbild

Philippe Sands: Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit.
Aus dem Englischen von Thomas Bertram.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
544 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974430

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