Die Dampfwalze des Alltags

Marie-Renée Lavoie zeichnet in „Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau“ Szenen nach einer Scheiterehe

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst ist Diane ungläubig, dann zerschlägt sie Mobiliar, bevor ihr mulmig wird: Jacques will sie verlassen. Das ist doch unmöglich, „fünfundzwanzig Jahre Ehe wie weggeblasen“? Drei tolle Kinder, Erinnerungen an guten Sex und harmonisches Miteinander im Eigenheim, zählt das nicht? Doch. Ohne ein paar „fade, farblose Worte“ sucht Jacques auch nicht das Weite, er will erklären, ist nervös und strengt sich an, dann aber steht er auf und ist weg.

Taugt so ein Ehescheitern für ein anregendes Buch? Die Geschichte vom gemeinsamen Schiff, das in den Ehehafen lief, die Masten kappte und keine Ausfahrt mehr plante, und das trotzdem sank, ist hundertmal erzählt. Marie-Renée Lavoie kümmert das wenig, sie legt beherzt los, greift auch in den Klischeetopf von Paarung und Entpaarung: wenn Überlebende geschiedener Ehen auf fremden Hochzeiten Gloria Gaynors I will survive mitkreischen, die Schwiegermutter der Frau blöd ist oder sich die Heldin in höchster Not ‚The show must go on‘ zuflüstert. Aber die Plattitüden sind verzeihlich, denn was sich entwickelt, ist empfehlenswert: Nicht die Auszehrung einer Liebe steht im Mittelpunkt, sondern die ‚abgelegte’ Ehefrau. Über wen der Platzregen plötzlichen Unglücks hereinbricht, die oder der bot immer schon unerhörten Erzählstoff.

Diane, eine Frau ohne Rhythmusgefühl, hat im Zusammenleben mit dem ebenfalls unrhythmischen Jacques nicht gemerkt, wie ihre Ehe aus dem Takt geriet. Er hat sich ent- und neu verliebt, sie sich „völlig aufgegeben, es war ja schließlich durch feierliche Versprechen und geweihte Ringe besiegelt.“ Lakonischer lässt sich die Banalität des Beziehungsscheiterns nicht fassen. Diane bezichtigt sich mehrmals, une femme plate zu sein – so die Formulierung des kanadofranzösischen Titels, der auch treffender von femme statt von Ehefrau spricht und kein Tagebuch, sondern eine Autopsie ankündigt. Ja, Diane muss sich selbst anschauen. Was sie sieht, mag anfangs eine langweilige Person sein, eine Durchschnittsfrau, die arbeiten geht, sich um die Kinder kümmerte (so lange sie klein waren) und das gemeinsame Haus aufbaute. Das plötzliche Verlassenwerden ist der Knacks in ihrer Existenz (Roger Willemsen), er reißt ihr die Füße weg. Ganz schwer nur gelingt es ihr, sich zu halten. Und im Prozess der Aufrichtung ihre wiederholte, am Anfang so unkritische Selbstbezichtigung der Langweiligkeit in eine zynische, später auch ironische Selbstvergewisserung umzumünzen. Gleichwohl ist und bleibt Langweiligkeit zentral, meint aber eben statt charakterlicher Biederkeit das Ausgelaugtsein einer Frau (femme plate), die sich und ihre Ehe nicht verzaubert halten konnte. Warum der deutsche Titel die Langweiligkeit so ‚furchtbar’ verstärkt und sie Diane wie einen Klotz ans Bein hängt, wissen die Übersetzerin und der Verlag.

Lavoies Roman wird in dem Maße aufschlussreich, wie Dianes Porträt Kontur annimmt. Als Ich-Erzählerin präsentiert sie ein Journal intime, in dem sie den Schock der Trennung analysiert. Nichts von dem, was ihr widerfährt, ist vertrackt oder ungewöhnlich. Sie ist existentiell abgesichert, die mittlerweile erwachsenen Kinder lieben und stützen sie und das schöne Haus, in dem leitmotivisch Eheglück und Familienleben wie Verlassensschmerz und Einsamkeit beinander sind, schützt und ver-rückt sie. Die Normalität von Dianes Lebenssituation und Trennung machen die Geschichte glaubhaft. Ihre Selbstberichte sind als subjektiv Erlebtes markiert, zugleich beansprucht die Gewöhnlichkeit ihres Knacks‘ auch Allgemeingültigkeit. Dianes subjektive Krise wird trotz der Individualität ihrer Figur und ihres Erlebens in eine Distanz gestellt, wodurch das derart als objektiviert Dargestellte einen Wiedererkennungseffekt erlangt.

Der reißerische Titel und die schrille Aufmachung suggerieren ein brüllkomisches Buch, aber das ist die Autopsie ebenso wenig wie ein pathetisches Ehe-Melo-Sexodrama. Die Autorin schreibt einen Entwicklungsroman einer erwachsenen Frau, Tonlage tragikomisch. Eindringlich werden die Fassungslosigkeit, Ohnmacht und Trauer, die Ängste, Selbstzweifel und Wut der Protagonistin beschrieben. Dass es ihr vergönnt ist, zu ihrem Ego vorzustoßen, ohne dass alles ins Lot käme, ist nicht platt.

Anspielungsreich, und das zu guter Letzt, ist die Umschlaggestaltung: ein lasziv anmutender Mund, vor dessen sattrosa eingefärbter Rachentiefe der Titel steht. Der Mund ist nicht flächig gezeichnet, eine Phalanx spitzer Stäbchen bringt ihn in Form. Zweierlei kommt bei der Betrachtung in den Sinn: einerseits der verführerische Vamp, der Diane gern ein bisschen wäre, wobei sie ihr erotisches Verlangen romantisch zügelt; anderseits der ‚deep throat‘, der das Drama einer fast untergegangenen Ich-Berichterstatterin offenbart. Wenn Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe einem bürgerlichen Publikum das Beziehungsdrama der unerfüllten Ehe modellhaft vorführt, dann zeigt Lavoies Autopsie die wohl von jedem Verpaarten fast immer mit Schmerzen verbundene und selbst zu erlangende Erkenntnis, dass „niemand ein Boot besteigt mit dem Gedanken, das es untergehen wird. Aber Boote gehen nun mal unter. Und doch gibt es auf dem Meer immer mehr prächtige Segelboote. Die Liebe ist genau wie das Meer.“

Titelbild

Marie-Renée Lavoie: Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau.
Aus dem Französischen von Christiane Landgrebe.
Eichborn Verlag, Köln 2020.
256 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900641

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