Blick durch die Brille

In seinem Buch „Brief an meinen Vater“ erzählt Daniel de Roulet vom Abschied

Von Erkan OsmanovićRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erkan Osmanović

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In wenigen Tagen wird Daniel de Roulets Mutter sterben. Sie ist 97 Jahre alt. Eine Zukunft für sich sieht sie nicht mehr. Sie liegt in ihrem Bett. Selbstbestimmung – das war und ist ihre Losung. Deswegen will sie nicht warten bis der Tod kommt, sie möchte ihn selbst hereinholen. Der Verein EXIT kümmert sich um alles. Und de Roulet? Er steht seiner Mutter bei, badet im Genfersee und schreibt an seinen verstorbenen Vater. Ein Abschiedsbrief soll es werden, am Ende ist es ein Gespräch. Ein stummer Dialog zwischen dem calvinistischen Pfarrer, der im Ersten Weltkrieg geboren wurde, und seinem Sohn, dem Atheisten, der während des Zweiten Weltkriegs das Licht der Welt erblickt.

Der Brief dreht sich um den Tod, das Leben, den Vater, die Mutter und immer auch um den Autor selbst. De Roulet stellt sein Leben zur Diskussion: Was bedeutet es, Sohn eines Pfarrers zu sein? Woher kommt die mütterliche Maxime von Eigenständigkeit? Was bedeutet der Glauben für ihn? Und warum ist er ihm verloren gegangen?  

Die Orwellsche Grundannahme, welche ich auch für mich beanspruche, ist fragil. Der gewöhnliche Anstand ändert sich und bietet keine letztgültige Antwort auf meine moralischen Fragen. Sagen wir, ich versuche, Verantwortung für meine Taten zu übernehmen und dabei nichts von meiner Freiheit zu verlieren. Ich fordere für mein Verhalten eine gewisse Undurchsichtigkeit. Ich will kein gläserner Mensch sein, weder für den schnüffelnden Staat noch in der Freundschaft oder in der Liebe. Absolute Transparenz tötet die Freiheit. Darin liegt mein persönlicher Calvinismus.

Er wolle keine sentimentalen Zeilen schreiben, erklärt de Roulet auf den ersten Seiten des Buches. Ob ihm das gelungen ist? Einerseits ist seine Sprache nüchtern und klar: Kurze Sätze dominieren den Brief. Auch die Wörter sind selten länger als sechs Silben. Andererseits sind da die Schilderungen vom Sterbebett des Vaters, die Bitte der Mutter nach einer weißen Rose oder dem Kennenlernen der Eltern im Sommer 1942 in Ischwill – all das berührt beim Lesen. 

Der Brief richtet sich an den Vater, erzählt aber auch von der Mutter. Schließlich dokumentiert er auch eine Suche. Denn in den Eheringen der Eltern sind die Worte À la garde eingraviert. In de Roulets Kindheitstagen hieß es, die Worte seien die Losung gewesen, mit der sich die verfolgten Hugenotten untereinander zu erkennen gaben. Der erwachsene de Roulet zweifelt jedoch an der Erklärung:

Habt ihr beide, Mutter und du, diese Erklärung womöglich erfunden? Die Losung würde demnach nicht «im Schutz Gottes» bedeuten, sondern «in gegenseitigem Schutz». Eine beiderseitige Liebeserklärung.

Daniel de Roulet blickt auf die feine Unterwäsche seines Bewusstseins und lässt Stellen für uns aufblitzen. Die Idee vom Tod als Unglück unseres Lebens sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen. Brief an meinen Vater lädt dazu ein, genau das zu tun.

Titelbild

Daniel de Roulet: Brief an meinen Vater.
Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle.
Limmat Verlag, Zürich 2020.
80 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783039260041

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