Von Märchen und Menschen

Was man schon immer über Märchen wissen wollte, aber viel zu selten zu fragen wagte

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Im Titel dieses kleinen Beitrags sind zwei Anspielungen enthalten; der Haupttitel bezieht sich auf einen berühmten Roman, der kongenial verfilmt wurde, und der Untertitel auf den frühen Film eines bekannten Autorenfilmers.[1] So ist es auch mit Märchen, und das wird gern vergessen: Märchen sind außerordentlich anspielungs- und voraussetzungsreich.[2] Weil sie so scheinbar einfach daher kommen und weil man sie wie mit der Muttermilch einsaugt, glauben die meisten Leser*innen schon alles über Märchen zu wissen. Aber wie das oft so ist mit dem, was wir über unsere Kultur zu wissen glauben: Hinter dem scheinbar einfachen Gegenstand der Betrachtung verbirgt sich eine komplexe Entstehungs- und Wirkungsgeschichte.[3]

Wenn wir Märchen sagen, meinen wir im deutschsprachigen Raum in der Regel die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (erstmals 1812/15 in zwei Bänden erschienen) und sehen sie als Maßstab für die Gattung an. Allerdings beziehen wir uns dabei gar nicht auf die vergleichsweise erfolglose Erstausgabe, sondern auf die sogenannte Kleine Ausgabe von 50 ausgewählten und vor allem durch Wilhelm Grimm weiter bearbeiteten Märchen, die 1825 herauskam. Sie erst legte den Grundstock zum Erfolg und das in einer Zeit, in der es den Gattungsnamen Märchen schon lange gab. Johann Wolfgang von Goethe hatte den letzten Teil seiner Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) ambitioniert Das Märchen genannt, aber anders als bei der wesentlich später veröffentlichten und artikellosen Novelle (1828) konnte er damit nicht gattungsprägend wirken. Bereits 1782-86 waren in deutscher Sprache schon, unter dem Einfluss des Konzepts der Volkspoesie Johann Gottfried Herders, die Volksmärchen der Deutschen erschienen. Ihr Autor Johann Karl August Musäus hatte sich bei früheren Stoffen ebenso bedient wie dies später die Grimms tun würden, nur dass sein Begriff vom Märchen noch viel offener war und zum Beispiel das, was wir als Sage bezeichnen, mit einschloss.[4]

Die den Grimms zugeschriebenen Märchen haben zahlreiche Vorläufer, dies kann man beispielsweise nachvollziehen, wenn man die von dem renommierten Grimm-Forscher Heinz Rölleke herausgegebene dreibändige Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen genauer studiert.[5] Die Grimms haben viel übernommen, heute würde man sogar sagen: plagiiert (in Zeiten, in denen es kein Copyright gab, war das Plagiat allerdings keine relevante Kategorie und erst recht keine Straftat). Ihre Behauptung, alten Bäuerinnen noch viel ältere Erzählungen abgelauscht und diese aufgeschrieben zu haben, war selbst eine Fiktion. Sie hatte die Funktion, einer deutschsprachigen bürgerlichen Literatur und Kultur zum Erfolg zu verhelfen, auch indem man dieser Kultur eine (Literatur-)Geschichte gab. Zu den wichtigten Quellen dieser angeblich so urdeutschen Märchen gehörten Sammlungen italienischer und französischer Erzählungen (etwa von Straparola, Basile und Perrault). Die eingängige, einfache Sprache und die auf Grundmuster reduzierte Handlung machte die Grimmschen Märchen weit über den deutschsprachigen Raum hinaus populär.

Zur komplizierten Wirkungsgeschichte von Märchenstoffen gehört, dass die bekannte Disney-Zeichentrickversion Cinderella nicht auf das Aschenputtel-Märchen der Grimms, sondern auf die frühere Version von Charles Perrault zurückgeht. Dabei hätte die bürgerliche Ideologie der Grimms gut zur bürgerlichen Ideologie Walt Disneys gepasst. Schon die Grimms ‚reinigten‘ den Stoff von jeder Anspielung auf Erotik oder gar Sexualität. Beiden gemeinsam ist auch, dass der Mann das Sagen hat und Frauen überhaupt nur aktiv werden können, weil sie aktiv werden müssen – der Ehemann, Vater und Stiefvater ist tot, die Verheiratung mit einem möglichst wohlhabenden Mann als das erstrebenswerteste Ziel einer Frau muss selbst ins Werk gesetzt werden. Millionen von sogenannten ‚Frauenromanen‘ werden auf diesem Grundmuster aufbauen, bis hin zu heute noch populären Heft- und Fernsehserien von Ärzten, denen angeblich die Frauen vertrauen. In der Fiktion zahlt sich das Vertrauen aus, die Frauen bekommen einen wenn auch älteren, so doch gut situierten und moralisch integren Mann, der ihnen künftig sagen kann und wird, wo es langgeht. In der Realität sind solche ‚Vorbilder‘ allerdings höchst fragwürdig, möchte man nicht dazu beitragen, die „männliche Herrschaft“ (Pierre Bourdieu) immer noch und immer weiter zu zementieren.

Den sogenannten Volksmärchen der Brüder Grimm, die so volkstümlich also gar nicht sind (weshalb Lothar Bluhm den Begriff des Buchmärchens vorgeschlagen hat),[6] ist allerdings historisch auch unrecht getan worden. Die durchaus verständliche und notwendige Kritik hat sich in den 1960-er Jahren, analog zu Teilen der Gesellschaft, immer weiter radikalisiert, so dass sich plötzlich viele für das angeblich schädliche Märchen einsetzten und seine Vorzüge priesen. Sprichwörtlich geworden ist der deutsche Titel einer Studie von Bruno Bettelheim, eines US-amerikanischen Psychoanalytikers und Kinderpsychologen österreichischer Abstammung. Die Publikation im renommierten New Yorker Knopf-Verlag hieß The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales, griffig übersetzt mit Kinder brauchen Märchen. Bettelheim und andere haben gezeigt, dass Kinder durchaus in der Lage sind, zwischen fiktionaler und realer Gewalt zu unterscheiden. Märchen sind wie andere literarische Texte Simulationsräume, sie sind wegen ihrer Einfachheit auch für jüngste Leser*innen geeignet und sie trainieren Kinder in ihrer lernenden Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Auch wenn die Moral der Märchen bürgerlich und manchmal fragwürdig ist, so gibt es doch viel Positives, was sich mit Hilfe der Stellvertreterfiguren über das soziale Leben lernen lässt, etwa die Vorzüge mitmenschlichen Verhaltens auch für einen selbst. Dazu kommt das, was wir üblicherweise mit Fantasie bezeichnen – Märchen fordern dazu auf, die Welt mit anderen Augen zu sehen und somit als veränderbar wahrzunehmen.

Hier sind wir nun spätestens bei einem anderen Autor, der für eine weitere Tradition des Märchens steht, die üblicherweise mit dem Begriff Kunstmärchen oder auch mit dem des Wirklichkeitsmärchens bezeichnet wird: E.T.A. Hoffmann. Der Dualismus einer die Naturgesetze überschreitenden Wunderwelt und einer der Realität nachgebildeten Erzählebene findet sich in seinen Märchen, beginnend mit Der goldne Topf (1814), erstmals in prägnanter Form und auf eine paradigmatisch zu nennende Weise. Sein Nußknacker und Mausekönig (1816) ist eines der schönsten Märchen, die zur Weihnachtszeit spielen, und hat zahlreiche andere Produktionen nicht nur der Literatur und Kunst angeregt. Das bekannteste Beispiel dürfte Tschaikowskis Ballett Der Nußknacker (1892) sein, das allerdings auf die Bearbeitung von Hoffmanns Märchen durch Alexandre Dumas zurückgeht. Auch dieses Beispiel zeigt, dass Märchen ein internationales Phänomen sind.

Der Dualismus der zwei Welten, aus dem satirisches Kapital für den Blick auf die ‚eigene‘, die ‚reale‘ Welt geschlagen wird, findet sich erstmals bei Hoffmann und dann in vielen berühmten Texten der Weltliteratur, von Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1865) über C.S. Lewis‘ Die Chroniken von Narnia (1950-56) und Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) bis zu J.K. Rowlings Harry-Potter-Serie (1997 erschien der erste Band) und darüber hinaus.

Den Medienwechsel hat das Märchen schon lange vollzogen. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Die DEFA-Verfilmung von Wilhelm Hauffs Das kalte Herz von 1950 war der erste Farbfilm der DDR und die Verfilmung von Hauffs Die Geschichte vom kleinen Muck aus dem Jahr 1953 gilt als die erfolgreichste DEFA-Produktion aller Zeiten. Generationen von Kindern im ‚Westen‘ sind nicht nur mit der kleinen Hexe von Otfried Preußler (1957 erstmals erschienen), sondern auch mit der kleinen Hexe Bibi Blocksberg (seit 1980) groß geworden. Die populären DreamWorks-Filme um den Oger Shrek (der erste kam 2001 in die Kinos) sind postmodern in ihrem freien, humorvollen und teils ironischen Umgang mit internationalen Märchenstoffen und populären Märchenfiguren. Der erste Film bürstet das Märchen gegen den Strich, wenn am Ende nicht (analog zum bekannten Grimmschen Märchen vom Froschprinz) der hässliche Oger zum Prinz, sondern die schöne Prinzessin zum Oger wird. Dem Happy-End tut dies keinen Abbruch.

Auch wenn das Weltbild des Mittelalters und noch früherer Zeiten keine Unterscheidung zwischen ‚wunderbar‘ und ‚real‘ zulässt, wie sie dem modernen Konzept des Märchens unterlegt ist, so lässt sich doch allein angesichts der Rezeption der populären Märchenstoffe feststellen, dass das Märchen zu den ältesten und wandlungsfähigsten Gattungen der Weltliteratur gehört. Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten aus dem 8.-10. Jahrhundert wären beispielsweise zu nennen, deren prägende Kraft selbst noch darin aufscheint, dass die bundesdeutsche Erstaufführung der in der DDR verfilmten Geschichte vom kleinen Muck am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1955 in Köln unter dem Titel Ein Abenteuer aus 1001 Nacht lief. Das ist einerseits vollkommen ahistorisch und passt andererseits wunderbar zu der Selbstverständlichkeit, mit der das Märchen alles vereint, was sonst getrennt erscheint – Ideologien, Religionen und Kulturen inklusive.

Anmerkungen

[1] Gemeint sind natürlich John Steinbecks Roman Of Mice and Men (dt. Von Mäusen und Menschen) von 1937 (dt. 1940) mit den Verfilmungen von 1939 und 1992 sowie Woody Allens Film Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten von 1972.

[2] Der Autor dieser Zeilen hat versucht, die neuere Literaturgeschichte des Märchens an Beispielen nachzuvollziehen, vgl. Stefan Neuhaus: Märchen. 2. Aufl. Tübingen u. Basel: Francke 2017 (UTB 2693). Ein noch exemplarischerer Versuch, die internationale Geschichte des Märchens zu umreißen, findet sich in ebd. (Hg.): Märchen. Stuttgart: Metzler 2017 (Kindler Kompakt).

[3] Für den umfangreichsten Versuch, dies nachzuvollziehen, vgl. Kurt Ranke u. Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Unter Mitarb. zahlr. Fachwiss. Berlin u.a.: de Gruyter 1977ff.

[4] Deshalb ist jene ältere, aber immer noch populäre Forschungstradition nicht unproblematisch, die versucht, Märchen ontologisch abzusichern und definitorisch zu fixieren, vgl. z.B. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Hg. von Karl Eimermacher. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975 (stw 131); Max Lüthi: Märchen. 8., durchges. u. erg. Aufl. Bearbeitet von Heinz Rölleke. Stuttgart: Metzler 1990 (Sammlung Metzler 16).

[5] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen. Mit einem Anhang sämtl., nicht in allen Aufl. veröff. Märchen u. Herkunftsnachw. hg. v. Heinz Rölleke. 3 Bde. Stuttgart: Reclam 1994 (RUB 3291-3193). Vgl. außerdem (neben zahlreichen anderen Arbeiten) ders.: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam 2004 (RUB 17650).

[6] Vgl. Lothar Bluhm: Märchen. Versuch einer literatursystematischen Beschreibung. In: Märchenspiegel 11, H. 1 (2000), S. 12f. Eine Kontextualisierung findet sich in ebd.: Grimm-Philologie. Beiträge zur Märchenforschung und Wissenschaftsgeschichte. Hildesheim u.a.: Olms-Weidmann 1995 (Schriftenreihe Werke der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm 2).