Zwischen Schein und Sein, Traum und kunstseidener Wirklichkeit
Michael Bienert folgt den Spuren von Irmgard Keuns Zeitroman „Das kunstseidene Mädchen“ (1932) im damaligen und heutigen Berlin
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls kulturhistorischer Stadtführer in Berlin, als Verfasser der Berlin-Bücher Kästners Berlin (2014, 5. Auflage 2019), E.T.A. Hoffmanns Berlin (2015), Döblins Berlin (2017), Brechts Berlin (2018) und Das Kammergericht in Berlin (2018) hat er sich einen Namen gemacht. Jetzt legt der rastlos tätige Michael Bienert ein neues Berlin-Buch vor, Das kunstseidene Berlin. Irmgard Keuns literarische Schauplätze, in dem er den Berlin-Kapiteln der Biographie der Schriftstellerin Irmgard Keun wie auch denen ihrer beiden Zeitromane Gilgi, eine von uns (1931) und Das kunstseidene Mädchen (1932) nachspürt und sie im damaligen wie heutigen Berlin aufsucht. So führt uns der Weg von der Meinekestraße in Berlin-Charlottenburg, in der sich das Geburtshaus Irmgard Keuns befindet, über die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – hier ist Irmgard getauft worden –, den Ludwigkirchplatz in Berlin Wilmersdorf, wohin die dreijährige Irmgard mit ihren Eltern zog, und die Cecilienschule am Nikolsburger Platz – hier wurde sie eingeschult – zum „Kölner Intermezzo“, der Übersiedlung der Familie Keun 1913 in den Kölner Stadtteil Braunsfeld. Irmgard Keun sah aber ihre Zukunft in Berlin, nicht als „gelangweilte“ Stenotypistin, nicht als „mittelmäßige“ Schauspielerin, sondern als „ambitionierte“ Schriftstellerin, wie Bienert schreibt. Nachdem sie ihr Gilgi-Manuskript fertiggestellt hatte, ging sie nach Berlin zurück, fand im Universitas-Verlag eine Publikationsmöglichkeit für ihren ersten Zeitroman, der dann nach Erscheinen noch im Vorwärts in Fortsetzungen abgedruckt und in einer abgemilderten Form 1932 verfilmt wurde. Im gleichen Jahr erschien auch Das kunstseidene Mädchen, beide Romane wurden aber durch die Nationalsozialisten behindert und schließlich ganz verboten. 1936 emigrierte Irmgard Keun aus Hitler-Deutschland, kehrte aber 1940 zurück und lebte illegal im Haus ihrer Eltern in Köln-Braunsfeld. Ihre Bücher aus der Emigrations- und Nachkriegszeit fanden dann keine große Beachtung mehr, Irmgard Keun verarmte, geriet in Krisensituationen, wurde zu einem psychiatrischen Fall und erst wenige Jahre vor ihrem Tod (1982) wiederentdeckt.
Spannend wird es dann, wenn Bienert den Berliner literarischen Schauplätzen im Kunstseidenen Mädchen und in D-Zug dritter Klasse (1938) nachgeht. Für Gilgi wie für das „kunstseidene Mädchen“ Doris war gemeinsamer Ausgangspunkt die „mittlere Stadt“ Köln. Aus der Provinzstadt zieht es sie in das kontrastreiche Berlin, das einen unwiderstehlichen Sog auf die beiden Mädchen ausübt. Berlin wird zur Stadt der „Verheißung“. So trifft Doris 1931 auf dem Bahnhof Friedrichstraße ein, steht in der Menge vor dem Hotel Adlon, in dem der französische Außenminister Briand abgestiegen ist, und wohnt zunächst bei einer Freundin in der Münzstraße, was ihr „die Gefahr des sozialen Abstiegs in die Prostitution drastisch vor Augen“ (Bienert) führt. Sie verkehrt im Nacht-Etablissement „Resi“ in der Brunnenstraße; aber auch die Cafés an der Gedächtniskirche, Treffpunkt der Bohemiens, Künstler und Intellektuellen des Westens, bleiben ihr nicht unbekannt. Dann geht es weiter zum Café Josty und Haus Vaterland am Potsdamer Platz, in den südwestlichen Stadtteil Friedenau, in die Wartesäle der Bahnhöfe Zoo und Friedrichstraße, wo die obdachlose Doris Zuflucht sucht. Bienert beschäftigt sich mit dem unberechtigten Plagiatsvorwurf, den ein Rezensent der Verfasserin des Kunstseidenen Mädchens gegenüber erhoben hatte, und findet in den Briefen Irmgard Keuns an den Geliebten Arnold Strauß, der 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft als Arzt die Berliner Charité verlassen musste und dann in die USA emigrierte, Hinweise auf den Roman Der hungrige Ernährer, den Keun in Lindow in der Mark geschrieben hat. Er geht ihren Beziehungen zu Strauß und dem Theaterregisseur und Schriftsteller Johannes Tralow nach, mit dem sie kurze Zeit verheiratet war, und klärt über die vergeblichen Bemühungen der Keun 1936 um Eintritt in die Reichsschrifttumskammer auf, die die Autorin nach 1945 verschleiern wollte. Da sie aber außer „Belanglosigkeiten“ in Hitler-Deutschland nichts mehr veröffentlichen kann, bleibt ihr nichts anderes als das Exil, zumal ihr der Amsterdamer Verlag Allert de Lange 1936 die Veröffentlichung ihres Buches Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften und zwei weitere Werke zusicherten. Bienert geht auf den 1938 erschienenen Exilroman D-Zug dritter Klasse ein und skizziert dann das tragische Exil- und Nachkriegsschicksal der Keun – „unbehaust in West und Ost“ –, wobei er auch auf die Bemühungen des Verlages der Nation in der DDR verweist, der Emigrantin Keun zur Wiederanerkennung zu verhelfen.
Doch zurück zum Kunstseidenen Mädchen: Ein „Glanz“ will es werden, dieses Mädchen Doris, und das mit Hilfe von Männerbekanntschaften, die ihr dazu verhelfen sollen. Vom Großbürgertum zum Zuhältermilieu, vom mittleren Beamten und Angestellten zum Kriegsinvaliden, vom Intellektuellen zu den Arbeitslosen reicht die gesellschaftliche Repräsentanz der Männer, mit denen sich Doris der Reihe nach einlässt. Mit ihren Augen sieht der Leser die wirtschaftliche Brüchigkeit, die sozialen Spannungen und die politische Divergenz der Zeit, die sich in Doris‘ Männerbekanntschaften zu einem kaleidoskopartigen Bild zusammenfügt. Doris will Männer kennenlernen, die ihr den Weg nach oben ebnen sollen. Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Sie hat einen Pelzmantel gestohlen, und der wird fortan ihr zweites Ich. Mit ihm übernimmt sie den sozialen Status der Reichen, zu denen sie nicht gehört. Er verleiht ihr die emotionale Sicherheit, die ihr selbst fehlt. Von ihm soll der Glanz ausgehen, in dem sie erstrahlen will. Aber es ist nur ein geliehener, ein gestohlener Glanz, so wie die Stationen, an denen sie sich ihrem Ziel nahe glaubt, auf Zufall gebaut und nur von kurzer Dauer sind. Doris‘ Weg von Station zu Station, von Bett zu Bett ist in Wirklichkeit ein Weg nach unten, doch sie findet noch rechtzeitig zur inneren Umkehr – zur Selbstbescheidung und Bereitschaft, sich so anzunehmen, wie sie ist.
Ja, Das kunstseidene Mädchen ist ein Stationenroman, und Bienert folgt in seiner Reportage den Stationen Irmgard Keuns und ihrer Figur Doris durch Berlin. Die Zeit wird in Längs- und Querschnitten erkundet, wie in einer „Zeitrevue“ erscheint das Bild Berlins Anfang der 1930er Jahre. Der Berichterstatter Bienert greift in die Vergangenheit zurück oder er eilt in die Zukunft – in das Berlin von heute – voraus. Solche Zeitsprünge erscheinen aus dem Rechenschafts- und Reflexionscharakter seines tagebuchartigen Berichts durchaus logisch konsequent.
„Ich will schreiben wie ein Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein… Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern“, stellt Doris fest, und diese Äußerung deutet nicht nur auf Doris‘ Erlebnisweise, sondern erhellt auch Eigenart und Sprache, in der der Roman geschrieben ist. In dieser filmischen Schreibweise hat auch Bienert seinen Kommentar gehalten, die durchgehende Berichtsebene wird immer wieder verlassen, der Erzählfluss wird in Schnitten, Unterbrechungen, Frakturen, Momentsituationen, gedanklichen Reminiszenzen immer wieder durchbrochen. Durch die Hektik der Schritte, das Überraschende der Rückblenden und Vorausdeutungen entsteht der Eindruck einer gegliederten Bilderflut. Die Außenwelt wird in das Figurenspiel des Romans eingefügt, um das Zusammenwirken nur scheinbar unverbundener Kräfte zu verdeutlichen. Denn eine Handlung hat viele Ursachen, Motive und Folgen – sie ist auf keinen Fall nur von der Entscheidung eines Einzelnen abhängig, die ja selbst nur in einem bestimmten Spielraum Platz hat.
Was Bienert allerdings stärker hätte herausarbeiten können, wäre, dass Irmgard Keun in ihrem Roman ein Kaleidoskop von Ideologien und Heilslehren ihrer Zeit zusammenfügt hat. Doris trifft auf Kapitalisten, Kommunisten und Sozialisten, Verfechter pazifistischer Ideen und Anhänger der Annäherungspolitik, auf Deutschnationale, Liberale und politisch Indifferente. Von diesem Schmelztiegel politischer Auffassungen am Vorabend der Hitlerdiktatur hätte man gern mehr erfahren.
Michael Bienert ist ein begnadeter Causeur. Ihm auf den Wegen von Irmgard Keun durch das damalige wie heutige Berlin zu folgen, bringt gleichermaßen Unterhaltung, Entdeckerfreude und Wissenszuwachs. Und welches Bildmaterial er zusammengetragen hat, zum Thema passendes wie auch entsprechendes, ist einfach unglaublich.
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