Der Regisseur als Teilnehmer am Spiel

Das graphische Werk von Max Beckmann in einem opulenten Text-Bild-Band, der zum genauen Hinschauen auffordert

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus dem Ersten Weltkrieg kehrte Max Beckmann mit einem traumatischen Schock zurück. Als Sanitäter in den Schützengräben von Flandern war er fast wahnsinnig geworden – wie Kirchner und Grosz erlitt er einen psychischen und physischen Zusammenbruch. Den dramatischen Abschluss einer langen Reihe von Gewaltdarstellungen, die er vor und während des Ersten Weltkrieges geschaffen hatte, bildet Die Nacht (1918/19). In einer engen Dachkammer wird vor den Augen eines entsetzten Kindes ein Mann – der Vater? – stranguliert und eine Frau – die Mutter? – vergewaltigt. Wer sind die Täter? Einer von ihnen, die Pfeife im Mund, mit einem Kopfverband – ist er vielleicht auch Opfer? – renkt dem Strangulierten noch zusätzlich den Arm aus, ein Anderer mit Schiebermütze – sucht er das Kind zu entführen oder zu retten? Das Bild ist höchst vieldeutig, und ohne das kompakte Gefühl für Raum und Volumen könnte es kaum mit einer solchen Intensität zu uns sprechen.

Beckmann berief sich auf die „Kunst des Raumes und der Tiefe“ – als die Einzige, die die Last sozialer Bedeutungen tragen könnte. So ließ er die Gewalttätigkeit in seinen Bildern zu sich langsam bewegenden oder vollkommen statischen Formen gerinnen – wie hier die Balken, Tischplatten, Körper und Beine – oder er drückte sie durch steife, verlängerte Formen aus, die aus der Bildebene herausspringen, oder durch die übertriebenen Kreuz- und Querverbindungen zwischen Vorder- und Hintergrund, die seinen Szenen ein klaustrophobisch zusammengepresstes Aussehen geben. Aus der räumlichen Verdichtung gotischer Altarbilder entsteht so der Schauplatz moderner Kreuzigungen und Kalvarien.

Die Malerei Beckmanns ist in aller Munde, doch seine ebenso bedeutsame Druckgraphik, die sich in vier Kupferstich-Mappen und einer Lithographie-Mappe konzentriert, ist weniger bekannt. Ihr widmet jetzt das Max-Ernst-Museum in Brühl seine Aufmerksamkeit (bis 28. Februar 2021, doch wegen Corona bis 10. Januar 2021 geschlossen, Video). Erstmals werden die Handprobedrucke gezeigt, die Beckmann seiner ersten Frau Minna geb. Tube zwischen 1913 und 1923 mit persönlichen Worten widmete. Graphische Umsetzungen von Gemälden, so auch Die Nacht (1918/19), frühe farbige Arbeiten auf Papier und auch einige Gemälde ergänzen die Graphik-Präsentation. Motivische, stilistische und formale Bezüge in seinem Werk sichtbar zu machen, die ästhetischen Strategien dieses Avantgardisten auszuloten, der identische Motive mit verschiedenen Bedeutungen auflädt oder für identische Bedeutungen unterschiedliche Formen und Sujets findet, das ist das Anliegen der Beckmann-Ausstellung “Day and Dream“ im Max-Ernst-Museum Brühl.

Schon in den Kriegsjahren fand Beckmann einen Stil von äußerster Gespanntheit, fast unerträglicher Dissonanz und rücksichtsloser Heftigkeit – die menschliche Existenz wurde als chaotische Ausweglosigkeit, als blindes Getriebensein und als grauenhafte, sinnlose Qual empfunden. Seine Absicht war es, den Expressionismus durch eine direkte, „objektive“ Sicht der Ereignisse hinter sich zu lassen, expressives Selbstmitleid durch ein umfassenderes Mitleid für die Opfer der Geschichte zu ersetzen. Der Wechsel der Themen zwischen Familienszene, Zirkus, Straße, Kneipe, Bar und Tanzlokal, Wartesaal, Bordell, Leichenhalle, Überfall, Karneval, Bühne, Traum und Maske – alles eben Spiegelbilder der Gesellschaft – führt zu bühnenartigen Raumkonstruktionen, die die Szene gleichnishaft in den Zusammenhang des Welttheaters rücken.

Jede der vier Graphikfolgen, die Beckmann zwischen 1919 und 1922 veröffentlichte, beginnt mit einem Selbstbildnis, es tritt auch in verfremdeter Physiognomie in manchen anderen Blättern auf. Er macht sich damit gleichzeitig zum Regisseur und Mitspieler menschlicher Tragödien. Marktschreierisch führt er dem Betrachter Revuen vor mit Material, das ihm der Schauplatz Leben bot. So in der Litho-Folge Die Hölle (1918/19), das ist das Berlin der Nachkriegszeit, des mörderischen Bürgerkriegs, des Schiebertums und des kleinbürgerlichen Miefs.

Das Blatt 6 Die Nacht ist dem Thema des gleichnamigen Gemäldes gewidmet. Die Welt als Theater, Zirkus, Jahrmarkt – Beckmann selbst in der Rolle des Beobachters –, die Welt ist nur noch in Szenen einzelner Wirklichkeitsfragmente überblickbar. In blitzartiger Verdichtung geschaffene Gleichnisse werden aneinandergereiht, wie auf zerbrochenen Spiegeln ist der Zusammenbruch einer Welt aufgezeichnet. In dem Mappenwerk Berliner Reise (1922) setzt dann eine Beruhigung der Form ein. Beckmann führt uns zu den Nervenzentren des öffentlichen und halböffentlichen Lebens der Großstadt Berlin. Graphik als massenwirksames Flugblatt – diese Wunschvorstellung teilte Beckmann mit Dix, Grosz und anderen.

Die Hölle des Krieges findet für Beckmann in der Großstadt, dem „großen Menschenorchester“, ihre Fortsetzung. Es sind Bilder der verstörten Menschenmasse in Kneipen, Bars, Tanzlokalen – den kleinen Spiegelbildern der Gesellschaft. Im Rückgriff auf mittelalterliche Darstellungsweisen staffelt er Figuren in die Höhe, wechselt Perspektiven und Größenverhältnisse und erzeugt beengende Räume ohne Nischen für die individuelle Entfaltung. Beziehungslosigkeit herrscht trotz größter Nähe von Dingen und Menschen. Der hohe Blickpunkt lässt den Betrachter wie vom Rang eines Theaters auf die Bühne menschlichen Lebens blicken, wo die Masken der Menschen – oder die zur Grimasse verzerrten Gesichter – zur Chiffre für die verlorene Individualität werden. Der Blick auf die Kulissen wird zu einem Blick hinter die Kulissen.

Kritisch prüfend (Selbstbildnis von vorn, im Hintergrund Giebel, 1918), im Nachdenken versunken (Selbstporträt mit Lampe, 1920), warnend und mahnend (Der Ausrufer/Selbstbildnis, 1921), als ehrbarer Bürger (Selbstportrait, mit steifem Hut, 1921), in abwehrend zweifelnder Haltung (Selbstbildnis, 1922), als Genießender (Selbst im Hotel, 1922), als mitspielender Clown (Selbstbildnis vor rotem Vorhang, 1923) oder wissender Schauspieler (Selbstbildnis, mit schwarzer Kappe, 1946) mischt sich der Künstler unter die Leute. Wie viele Selbstbildnisse – versteckt und offen – hat er geschaffen! Als Individuum ist er Teil der Masse und bleibt gleichzeitig von ihr geschieden. Das Motiv einer kopfüber stürzenden Figur wird zur Metapher der eigenen Situation als Künstler. Der strangulierte Mann vereinigt Elemente aus der christlichen Passion.

Wie Beckmann seine eigene Person unterschiedlichen Metamorphosen unterworfen hat, wurden auch Freunde zu Modellen. Der Bürger mit Pfeife trägt Kopfverband, ist Opfer, aber zugleich grausamer Folterer, der anderen Leid zufügt. Die Frau in Rot erscheint als Komplizin der Täter, Freundin der Familie oder Personifikation des Schicksals. Beckmann ordnet allein die Gesichter als Typen in seine Kompositionen ein und löst sie von der tatsächlichen Person. Auch der Regisseur Beckmann ist Teilnehmer an einem Spiel, dessen Verlauf er nicht vorausahnen kann. Regisseur und Akteur erscheinen oft in einer Person. 1937 – seine Bilder waren bei der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt worden – konnte er das nationalsozialistische Deutschland nicht länger ertragen und emigrierte nach Amsterdam. 

Der großzügig ausgestattete Katalog – er enthält mehr als 230 Abbildungen – bereichert die Beckmann-Forschung um wesentliche Beiträge. Ralph Jentsch, der als Gast-Kurator mit dem Team des Max-Ernst-Museums die Ausstellung vorbereitet hat, verfasst auch den einleitenden Text zum malerischen und graphischen Werk des Künstlers, wobei er besonders auf dessen letztes Mappenwerk Day und Dream eingeht. Er wertet den Briefwechsel zwischen Beckmann und seiner ersten Frau Minna Beckmann-Tube, aber auch die Tagebücher des Künstlers aus, die wichtigsten Tagebucheintragungen zwischen 1940 und 1945 hat er ausführlich dokumentiert.

Achim Sommer, Direktor des Max-Ernst-Museums Brühl, beschäftigt sich mit Beckmanns rätselhaftem Pastell Begegnung in der Nacht (1928). Ein junger Mann begegnet im dunklen Raum einer kopfüber aufgehängten nackten Frauenfigur. Ein grimassierendes Gesicht fordert mit ausgestreckter Hand die Bezahlung ein. Man hat es wohl hier mit einem Bordell zu tun. In dem dargestellten Geschlechterverhältnis wird nach Sommer „die sexuelle Ausbeutung der Frau, die aufoktroyierte absolute Verfügbarkeit ihres Körpers künstlerisch imaginiert und gleichsam sachlich beobachtend als gegeben dargestellt“.

Der Struktur und den Quellen der Imagination des Mappenwerkes Day und Dream widmet sich Jürgen Pech, wissenschaftlicher Leiter des Max-Ernst-Museums. Noch im Amsterdamer Exil war Beckmann im März 1946 dem Angebot des 1937 nach New York emigrierten Kunsthändlers Curt Valentin gefolgt, eine Graphikmappe zu schaffen, die Beckmann in den folgenden vier Monaten in 10, dann in 15 Lithographien ausführte. Beckmann setzte auch bei dieser fünften und letzten Serie sein Konterfei an den Anfang. Blatt für Blatt beschreibt Pech, wie Beckmann seine Vorstellung einer metaphysischen Räumlichkeit umsetzte. Es geht um die Darstellung von Zeit und Bewegung, um Prozesse und Abläufe. Die Blätter können als „Motiv-Akkumulationen“ bezeichnet werden, als graphisches Triptychon, dem eine klare symmetrische Anordnung zugrunde liegt. Curt Valentin schlug Beckmann anstelle des abstrakten Begriffspaars „Time-motion“ (Zeit und Bewegung, es könnten auch Zeitabläufe oder Zeitereignisse gemeint sein) den alternativen, für den amerikanischen Markt attraktiveren Titel Day und Dream vor. Schließlich weist Vera Bornkessel, wissenschaftliche Volontärin am Max-Ernst-Museum, ausgehend von Beckmanns letztem Werk, dem Triptychon Argonauten (1949/50), auf dessen eigene Lebensreise von Berlin über Amsterdam nach New York hin, die nicht zuletzt durch das Exil existentielle und neue künstlerische Dimensionen angenommen hatte.

Es ist schon eigenartig: Betrachtet man die Arbeiten Beckmanns, wird man gleichsam zum Zeugen wider Willen. Auf beängstigende Weise scheint der Künstler alle Personen, vor und in dem Bild, in das Geschehen einbezogen zu haben.

Titelbild

Achim Sommer: Max Beckmann – day and dream. eine Reise von Berlin nach New York.
Wienand Verlag, Köln 2020.
240 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783868326017

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