Die unentrinnbare Vergangenheit

Durs Grünbein erkundet in seinen Oxford Lectures das Terrain „Jenseits der Literatur“

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Motto für das Buch, das aus Durs Grünbeins vier Oxford Lectures zusammengestellt wurde, kann man sich den berühmten ersten Satz der Essais von Montaigne vorstellen: „C’est icy un livre de bonne foy, lecteur.“ 1975 übernahm Max Frisch Montaignes Anrede an den Leser für seine Erzählung Montauk, die man heute als ‚autofiktional‘ klassifizieren würde, wobei der Satz, ins Deutsche übersetzt, lautete: „Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser.“ Man könnte auch sagen: Ein wahrhaftiges Buch. Denn auch wenn nicht alles wahr sein sollte, so ist doch „im guten Glauben“ gesagt, dass es so war, wie der Autor es darstellt. Frisch schrieb über „sein Leben als Mann“, noch ein übernommenes Motto, diesmal von Philipp Roth, vor allem über seine Beziehungen zu Frauen, vorläufige, halbwegs gelungene, gescheiterte. Er schrieb also über Allerprivatestes. Grünbein schreibt über sein Leben – und Schreiben – als Deutscher. Und als Deutscher muss er, so scheint es, über den Nationalsozialismus oder – allgemeiner und in der tendenziellen Gleichsetzung nicht unproblematisch – über die „Extremform Faschismus“ schreiben.

Dieser Extremform nähert er sich über verschiedene Erfahrungen, Beobachtungen und Begegnungen mit Menschen an und kommt dabei unversehens immer wieder bei sich selbst, seiner Kindheit in Dresden Hellerau, seinen frühen Schreibversuchen und seiner aktuellen Selbstbefragung als Schriftsteller an. Wie frei kann er sich im ‚Reich der Poesie‘ bewegen, wenn ihn die Vergangenheit nicht loslässt, wenn er sich „der Formung durch Geschichte“ nicht entziehen kann? Die erste Erfahrung ist die des Briefmarken sammelnden Kindes, das eine violette 6-Pfennig-Marke mit Hitlers Konterfei betrachtet. Sie ist in dem Buch abgebildet, die erste Abbildung von vielen, durch die dasjenige anschaulich gemacht wird, was Grünbein in den Vorträgen entwickelt. Jeder visuelle Eindruck wird sogleich mit Assoziationen des sich erinnernden Erwachsenen angereichert und gedanklich vertieft. Zu den unmittelbaren Erlebnissen und Beobachtungen kommen zahlreiche Lektüre-Erfahrungen. Legt man einen weitgefassten Literaturbegriff zugrunde, so bewegt sich Grünbein keineswegs „jenseits der Literatur“, sondern ist stets mittendrin.

Im ersten Vortrag sind es die Hitler-Porträts auf der Briefmarke und in der Hochzeitsausgabe von Mein Kampf, gefunden in einer Kiste auf dem Dachboden der Großeltern, die den Autor zu Reflexionen anregen. Wie konnte dieser Blick, der den Betrachter des Bildes aus dem damaligen Volksbuch der Deutschen anstarrt, eine derart magische Wirkung entfalten, dass Millionen Deutsche dadurch zur Volksgemeinschaft zusammengeschweißt wurden? Erst der Erwachsene erkennt die „Schauspielermasche, sich mit gezielten Standphotos den Autogrammjägern in die Herzen zu bohren“. Er hat die Einsicht gewonnen, dass im Dritten Reich alles eine Frage der Inszenierung war. Und er hofft, dass doch nicht alle zur Volksgemeinschaft gehören wollten.

Auf der Suche nach Quellen stieß Grünbein auf Ausnahmen, z.B. den Künstler Edmund Kalb, dem immer wieder subversive Aktionen einfielen, um den „Führer“ und seine Vasallen lächerlich zu machen. Weil er den Militärdienst nicht ertrug, wurde er von einem Militärgefängnis ins andere verschoben. Grünbein denkt dabei an Herman Melvilles Bartleby, der sich allen an ihn gestellten Forderungen mit dem Satz verweigert: „I prefer not to.“ Ein weiteres Fundstück sind die geheimen Tagebücher der Stuttgarter Feministin und Demokratin Anna Haag, 2019 erstmals ediert von dem britischen Forscher Edward Timms. Die darin enthaltenen Aufzeichnungen und Collagen sind Zeugnisse einer scharfsinnigen und hellsichtigen Wahrnehmung des Alltags im totalitären Staat und der dort verübten Verbrechen.

Solche Zeugnisse sind aber Ausnahmen. Erst waren die meisten Deutschen geblendet von der Propaganda und den anscheinend unbezweifelbaren Leistungen, die im Führerstaat vollbracht wurden. Dann machte der Luftkrieg sie stumm. Die zweite Vorlesung ist den Autobahnen gewidmet, die zum Mythos geworden sind, weil sie für bisher nicht dagewesene technische Leistungen und den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands nach der Krise standen. Zugleich waren sie als Kunstwerke entworfen, verbanden den Futurismus Marinettischer Prägung mit Vorstellungen von Natur- und Landschaftspflege, die heute eher befremdlich anmuten. „Am Ende aber war die RAB die einzige Hinterlassenschaft des Dritten Reiches, die für die Nachlebenden wirklich von Nutzen war“, sagt Grünbein. Mit ihr gab es etwas, woran sich beim Wiederaufbau in Wirtschaftswunderzeiten nahtlos anknüpfen ließ. Gedankenlos wurden auch Sprachschablonen aus der nationalsozialistischen Arbeitsschlacht übernommen, Verben wie „ankurbeln“ und „spuren“ und Prädikative wie „voll ausgelastet sein“.

Im Übrigen gab das Verhalten der Deutschen nach der Katastrophe einer aufmerksamen Beobachterin wie Hannah Arendt Rätsel auf. Auf ihrer Fahrt durch Deutschland im Jahr 1950 bemerkte sie „bei den Geschlagenen einen seltsamen Mangel an Empathie mit dem eigenen Schicksal“. Einige Jahrzehnte später widmete der Schriftsteller W.G. Sebald dem Thema Luftkrieg und Literatur eine Vorlesungsreihe und ein Buch, mit dem sich Grünbein ausführlich und überwiegend zustimmend beschäftigt. Seit einer zufälligen Begegnung im Flugzeug mit Sebald, kurz vor dessen frühem Unfalltod, ist Grünbein von diesem Autor auch persönlich beeindruckt. Nur seine Kritik an Viktor Klemperers vorgeblich zu distanzierter Schilderung des Dresdeners Infernos weist Grünbein zurück.

Was diese Veröffentlichung einer – wohlgemerkt in England gehaltenen – Vorlesungsreihe so ungewöhnlich macht, sind die zahlreichen persönlichen Bemerkungen, die eine Verwunderung des Autors über die eigene Betroffenheit oder vielmehr Besessenheit von diesem Abschnitt der deutschen Vergangenheit ausdrücken: „Kann sein, es ist der Deutsche in mir, den hin und wieder eine Unruhe erfaßt. Nur darum starre ich wie gebannt auf die irren zwölf Jahre der Naziherrschaft, studiere immerfort die wachsende Fachliteratur zu dem Thema.“ 1962 geboren, trennen ihn „nur siebzehn Jahre von der großen Zäsur“. Wer in der Nachkriegszeit geboren wurde und sich mit Kultur und Geschichte befasst, der kennt diese Erfahrung.

Dennoch bleiben Fragen und Einwände. Ist es berechtigt „die Deutschen“ zu sagen, zum Beispiel „die reinlichen Deutschen“, die aus Furcht vor „asiatischen Zuständen“, vor Unordnung und Schmutz, Hitler unterstützten? Bei der Reichstagswahl im November 1932, kurz vor Hitlers Machtübernahme, erhielt die NSDAP 33,1%, und selbst im März 1933, als bereits SA-Leute vor den Wahllokalen patrouillierten, kam sie nur auf 43,9%. Was war mit all jenen, die anders gewählt hatten? Weshalb machten sie bis zum Ende mit, obwohl die allermeisten von den Untaten des Regimes gewusst haben dürften? „Was mich nicht losläßt, ist das Problem der totalen Verfügbarkeit ganzer Völker“, schreibt Grünbein. Damit ist die Frage nach der Möglichkeit der Gewaltherrschaft in allgemeiner Form gestellt. Wer durch Auflehnung jedweder Art seine Existenz riskieren würde, macht vielleicht lieber schweigend mit. Und auch das Kohl-Wort von der „Gnade der späten Geburt“ ist des Nachdenkens wert. Welche Chance hatte ein bei Kriegsende Fünfzehn- oder Siebzehnjähriger, sich den an ihn gestellten Anforderungen zu entziehen oder gar aktiv Widerstand zu leisten? Der wenigen, die es taten, wird besonders gedacht.

Es ist wohl der Konzentration auf das selbst gesetzte Thema geschuldet, dass der in der DDR aufgewachsene Grünbein den Stalinismus immer nur am Rande streift. Nicht zu verstehen ist allerdings, weshalb er in der „Revolution von rechts“ die einzige sieht, „die in Deutschland je funktioniert hat und die Volksmassen wirklich erfaßte“. Zum 100. Jubiläum der Novemberrevolution 1918 sind Bücher erschienen, die die Erfolge dieser Revolution nicht mehr kleinreden. Dass 1989 in der DDR keine Revolution stattgefunden haben soll, müsste Grünbein begründen. Und heute: Droht wirklich eine neue Gefahr für Demokratie und Freiheit nur von rechts? Ist es so sicher, dass die sozialistischen Utopien „allesamt diskreditiert“ und mit dem Untergang der Sowjetunion verschwunden sind? An dieser Einschätzung seien Zweifel erlaubt. Auch wenn der Begriff ‚Sozialismus‘ an Kontur verloren hat, so bezeichnet er, in Verbindung mit ökologischen Visionen und identitätspolitischen Imperativen, für viele Menschen immer noch eine Verheißung. Negativer Gegenbegriff ist der ebenfalls ziemlich konturlos gewordene ‚Faschismus‘, den Grünbein zwar definiert, dann aber auf problematische Weise in der Anwendung auf Zeiterscheinungen überdehnt.

Alles in allem ein zugleich aufwühlendes und instruktives Buch. Die am Schluss formulierten Gedanken über das Verhältnis des Schreibenden zur Geschichte und die Überlegungen zu dem Satz „Man schreibt für die sterbenden Kälber“ wollen mehrmals gelesen werden. Der bei dem Philosophen Gilles Deleuze gefundene Satz spielt auf eine Stelle in Karl Philipp Moritz‘ Roman Anton Reiser an. Er führt Grünbein zurück zu seinem ersten Erzähltext, dem Monolog einer Kuh auf dem Weg zum Schlachthof. Im „Blackout der geschundenen Kreatur“ entdeckt der Autor den Ursprung seines Schreibens und den Kern seiner Poetik. Der Schreibende kann sich der wirklichen Geschichte „als Gewaltgeschichte“ nicht entziehen, aber er kann sie „in Fiktionen“ durchkreuzen. Und der Lesende soll nicht nur lesen, sondern an einer bestimmten Stelle – wie bei den „sterbenden Kälbern“ – innehalten. Das Buch ist an dieser Stelle nicht zu Ende. Der Anhang, eine Bibliographie zu den Vorlesungen mit teils seitenlangen Erläuterungen, bietet viele Anregungen zu weiterführender Lektüre.

Titelbild

Durs Grünbein: Jenseits der Literatur. Oxford Lectures.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
176 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429518

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