Unsere Lektüre des Jahres
Die Redaktion von Literaturkritik.de stellt ihre bewegendsten Leseerlebnisse 2020 vor
Von Redaktion literaturkritik.de
Besprochene Bücher / Literaturhinweise2020 war ein Jahr des Umbruchs, auch für Literaturkritik.de. Die Redaktion der Zeitschrift ist von Marburg nach Mainz umgezogen und wird dort fortan von der Komparatistik der Johannes Gutenberg-Universität übernommen. Aber natürlich stellte uns alle das Jahr vor allem vor enorme gesellschaftliche Herausforderungen – vielleicht jedoch verbunden mit der Möglichkeit, mehr Zeit für Lektüre zu finden. Als Rückblick und Anregung gleichermaßen erzählen die Mitglieder der Mainzer Redaktion daher zum Jahresabschluss von ihrem bewegendsten Leseerlebnis des Jahres 2020.
VERONIKA DYKS: meine schönste lengevitch von Uljana Wolf
Das Buch, das mich im Jahr 2020 am meisten bewegt hat, ist keine Neuerscheinung. Es handelt sich um einen Gedichtband aus dem Jahr 2013, der mir bis vor ein paar Monaten noch völlig unbekannt war, doch im Januar dieses Jahres mein Herz erobert hat. Ich war auf der Suche nach Texten für meine Masterarbeit zum Thema ‚Mehrsprachigkeit in der Literatur‘. An Lyrik hätte ich nie gedacht. Als meine Betreuerin mir die Lyrikerin Uljana Wolf vorschlug, war ich jedoch direkt verliebt: in die Sprache(n), die Kreativität, die Kunstfertigkeit, mit der die Laute über die Zunge rollen, wenn man die Texte laut vorträgt. Mehr noch als ihr Debüt kochanie ich habe brot gekauft verzauberte mich schließlich der Gedichtband meine schönste lengevitch.
Meine Masterarbeit habe ich in den fast sechs Monaten, die sie mich beschäftigte, gehasst, verflucht und geliebt. Wolfs meine schönste lengevitch hat für mich jedoch auch nach hundert Mal lesen, wirren Randnotizen und Kaffeeflecken nie seinen Reiz verloren. Liebste Uljana, wärst du nicht schon verheiratet, wäre das hier mein Heiratsantrag. Deine Lyrik, dein translinguales Denken im Gedicht, die „beerenpause“ – all das hat mich durch eine schwierige Zeit in einem noch schwierigeren Jahr getragen.
VANESSA FRANKE: Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen von Mona Chollet
Laut Mona Chollet ist eine selbstbestimmte, unabhängige Frau eine moderne Hexe. Als ich diesen Frühling während des ersten Lockdowns Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen verschlungen hatte, wurde mir noch einmal bewusst, welcher feministische Symbolgehalt den Heldinnen meiner Kindheit innewohnt und wie sehr mich die Idee immer noch reizt, auf einem Besen einfach davonzufliegen.
Die französische Autorin und Redakteurin bei Le Monde diplomatique knüpft mit ihrem Buch an einen feministischen Trend an, der vor allem in Frankreich in den letzten Jahren wieder aufgelebt ist, und der die Figur der Hexe zur Metapher für weibliche Stärke, Intelligenz, Unabhängigkeit, ja eben Unbesiegbarkeit erhebt. Auf den ersten Blick wirkt dieser Trend eher rückschrittlich – die Feministin als geheimnisvolles, archaisches Zauberwesen, das seine Kräfte aus der Natur schöpft? Chollet erzählt jedoch eine andere, wenig magische Geschichte der Hexe, im Grunde die Geschichte von struktureller Unterdrückung und Frauenhass, der sich in den Scheiterhaufen der frühen Neuzeit (nicht Mittelalter) ebenso manifestiert wie in heutigen Abtreibungsgesetzen oder Grey Hair Shaming. Es geht der Autorin nämlich weniger um den aktuellen Hexenkult, sondern vielmehr um das geistige Erbe jahrhundertelanger Hexenverfolgung in Europa und den USA. Denn immer noch versuchen Männer aus aller Welt mit verschiedensten Mitteln, nonkonformistische Frauen im Zaum zu halten. Für Kinderlosigkeit und berufliche Fertigkeiten wird man zwar nicht mehr öffentlich verbrannt, aber: „Heute stößt die Unabhängigkeit von Frauen, selbst wenn sie rechtlich und materiell möglich ist, weiterhin allgemein auf Skepsis.“ Und: „Die Hexe ist die ‚Anti-Mutter‘.“
Die Zusammenhänge macht Chollet mittels zahlreicher historischer Fakten, Zitaten und Beispielen aus Kultur und Medien deutlich. Trotz unglaublich dichtem und differenziertem Inhalt liest man das Buch durch den flinken Schreibstil schnell runter und will von Seite zu Seite unbedingt noch mehr erfahren (Was, der phallische Hexenbesen kann als Aneignung des männlichen Geschlechts und damit als Form des weiblichen Empowerments gelesen werden?). Mein Fazit: Ich will lieber eine Hexe sein als ein Cyborg oder eine Göttin.
LAURA HARFF: Saving Missy von Beth Morrey
Bücher, die mir etwas bedeuten, sind in meiner Erinnerung untrennbar mit Erfahrungen verknüpft. Sie erinnern mich an Orte und Personen, vielleicht an einen Buchladen oder einen Bücherschrank, wo ich zum ersten Mal einen Blick auf den Einband erhascht habe, vielleicht an einen Freund, der mir ein Buch geschenkt oder empfohlen hat.
Und so ist Beth Morreys Erstlingswerk Saving Missy in meiner Erinnerung untrennbar mit dem Moment verbunden, in dem ich es zum ersten Mal sah – in einer Kiste ausgelesener Rezensionsexemplare in einer Redaktion in Dublin. Ich nahm es mit – wahrscheinlich aufgrund des schönen dunkelblauen Einbandes und der vielversprechenden Silberschrift – und las die ersten Seiten im Flugzeug. Auf dem Weg nach Hause, nach Deutschland, direkt hinein in den ersten Lockdown.
Saving Missy begleitete mich eine Woche, in einer Zeit, die unaufregender nicht hätte sein können. In gewisser Weise traf diese Einschätzung auch auf das Buch zu: Eine 79-jährige, die jeden Tag in dem Bewusstsein beginnt, ganz allein in ihrer kleinen Welt zu sein. Ohne ihren Mann Leo, ohne ihre Tochter Melanie, von der sie sich entfremdet hat und ohne den geliebten Sohn Alistair, der mit Ehefrau und Enkelkind nach Australien ausgewandert ist. In einem Leben, in dem Bedauern und Scham zwei ständige Begleiter sind und dessen Höhepunkte Alistairs Anrufe und der weihnachtliche Besuch mit dem kleinen Arthur sowie die gelegentlichen Spaziergänge im Park bilden. Dort begegnet sie eines Tages der alleinerziehenden Mutter Angela, deren Sohn Otis und Sylvie, und plötzlich ist Missys Alltag überhaupt nicht mehr monoton. Plötzlich hat sie Freunde, einen Job… und Bob – eine Hündin, die eigentlich nur vorübergehend bei ihr einziehen sollte.
Trotz dieser auf den ersten Blick wenig komplexen Handlung habe ich das Buch geliebt, spätestens nach einer der eindrucksvollsten Szenen, in der Einbrecher nachts Missys Haus ausrauben, im vollen Wissen, dass sie zu Hause ist, alles mitbekommt, alleine aber zu viel Angst hat, um sich zu wehren. Neben Morreys liebevoll charakterisierten Figuren wohnt dem Roman eine Emotionalität inne, die mich wiederholt zu Tränen gerührt hat. Spannung entsteht dabei durch die Rückblenden in Missys Vergangenheit, die sie wegen der eigenen Schuldgefühle nur stückweise offenbart, und so stellt sich beim Lesen nie Langeweile ein.
Saving Missy ist ein stiller Roman, der sich, wenn man ihn lässt, leise einen Weg ins Herz bahnt. Ein Buch, das in Etappen gelesen werden sollte und damit ideal ist für einen weiteren Lockdown.
JONAS HEß: Allegro Pastell von Leif Randt
Als „Lovestory aus den späten Zehnerjahren“ bezeichnet der Verlag Leif Randts Roman Allegro Pastell auf dem Einband. Und auch wenn das inhaltlich zutrifft, so trifft es doch nicht das, was den Text im Wesentlichen aus- und so lesenswert macht. Denn das ist weniger die Handlung als die Art und Weise der Darstellung dieser Handlung. Es ist Randts Timbre, das eine ganz bestimmte Stimmung entstehen lässt, die versöhnlich stimmt mit der Gegenwart.
Randt ist seinen Figuren so nah, aber auch so fern, dass sich ihnen sowohl mit solidarisierender Empathie als auch mit objektiver Distanz begegnen lässt. Dieses Changieren zwischen Nähe und Abstand ist auch den Figuren selbst zu eigen. Sie haben alles stets schon reflektiert, die Möglichkeit der anderen Meinung, des anderen Lebensentwurfs wird immer schon mitgedacht und nie verurteilt. Es gibt keine Extreme. Und auch den Lesenden werden diese Gedankengänge nie aufgedrängt, sondern stets bloß dargelegt. Es ist genau dieser Ton des Erzählers, diese einfühlsame Gleichgültigkeit, die Trost spendet, indem sie uns Gegenwärtiges und insbesondere die Zeit vor Corona in Erinnerung ruft und verstehen lässt: Ein Leben in Pastelltönen.
MARTINA KOPF: And We Came Outside and Saw the Stars Again (Anthologie) Hg. von Ilan Stavans
Ein Corona-Jahr verdient ein Corona-Buch als Lieblingsbuch: Es sind frühe Eindrücke der Pandemie, die in der Anthologie And We Came Outside and Saw the Stars Again von Autor*innen, Dichter*innen, Künstler*innen und Übersetzer*innen festgehalten wurden. Die meisten Texte der „Writers from Around the World“ wie Juan Villoro, Louis-Philippe Dalembert, Wu Ming-Yi oder Yishai Sarid sind zwischen März und Mai entstanden, viele Gedanken und Überlegungen zur Pandemie sind klug, andere sind mittlerweile überholt und erscheinen geradezu lächerlich, zum Beispiel, wenn Mario Vargas Llosa Spaniens Gesundheitssystem als eines der besten der Welt preist. Aber was an dieser Anthologie vor allem beeindruckt, ist der globale Blick auf die Reflexionen über die Pandemie und das geteilte Leid – egal, ob auf Mauritius, in Russland, Mexiko oder auf Haiti: Corona lähmt und regt dennoch zum Denken und Schreiben an. Literatur – so Herausgeber Ilan Stavans – widerstehe den einfachen Tricks der Verallgemeinerung und setze sich für Nuancen ein. Tatsächlich sind es diese Nuancen, die dieses Jahr erträglich gemacht haben. Claire Messuds poetischer Essay zum Lockdown schimmert da so hoffnungsvoll wie der Titel der Anthologie:
Life has a different tenor, in lockdown. We watch the moon rise, the sun set; we monitor the bud’s unfolding on the trees, their sudden pastel flowering; we marvel when a rare plane breaks the sky’s vast silence. The beautiful minutiae of life are returned to us, lost for a decade or more in the pointless race toward self-destruction. The reminder of Death brings reminders of Life.
Nach der Hölle kommt das Licht und damit lässt sich dann ganz im Sinne Dantes hoffentlich für 2021 festhalten: And we came outside and saw the stars again.
SASCHA SEILER: Der Defekt von Leona Stahlmann
Ich nenne den Lektüregenuss von Leona Stahlmanns Der Defekt mal sexuellen Eskapismus, obwohl das diesem sprachmächtigen Roman natürlich nicht gerecht wird. Doch in einer Zeit, die zunächst nicht wenige relevante Texte – Literatur wie Sachbuch – produziert hat, die unseren ganz speziellen Zeitgeist zwischen Demokratiegefährdung und Pandemie-Angst eingefangen haben, liest sich ein Roman wie Der Defekt schon fast als Anachronismus.
Das Besondere an diesem Roman ist vielleicht in erster Linie etwas Außerliterarisches, was ich ganz persönlich in meinem ersten Jahr als Herausgeber von Literaturkritik.de schmerzhaft herausfinden musste: Viele zeitgenössische deutschsprachige Romane sind einfach nicht besonders gut. Man gewinnt verstärkt das Gefühl, als seien auch Texte, die durchaus als ‚Literatur‘ vermarktet werden, besessen vom Gedanken an einen Leser ohne Zeit und ohne nennenswerten intellektuellen Horizont. Alles wird erklärt, auserzählt, manchmal ironisiert, diskutiert und die Plotentwicklung entspricht nicht selten der einer unterdurchschnittlichen Netflix-Serie. Aber warum sollte es der Literatur auch anders gehen als der Popmusik und vor allem dem Film? So ist es zunehmend schwierig, die wahren Schätze zu finden, gerade weil die Wege zu den zahlreichen Independent-Verlagen steinig sind und auch nicht selten für Enttäuschungen sorgen.
So wirkt Leona Stahlmanns Roman vor allem deswegen wie ein Anachronismus, weil es der Autorin gelingt, in einer höchst poetischen, zärtlichen, detailgenauen Sprache die Geschichte einer sexuellen Erweckung der etwas anderen Art zu erzählen. Ein Roman über BDSM, der nicht voyeuristisch funktioniert, quasi ohne Sexszenen oder Erotik im konformistischen Sinne auskommt, der also auch Augen öffnet und, hätte man ihn mehr gelesen, Debatten hätte entfachen können und müssen. Also kein intellektuelles 50 Shades Of Grey, eher das Gegenteil. Sadismus und Masochismus spielen sich hier nicht in schummrigen Bondage-Clubs ab oder in stylischen Porno-Umgebungen, sondern unter sich ihres Körpers unsicheren Teenagern in einem spießigen Dorf in Süddeutschland. Alles an diesem Buch ist irgendwie anders, ungewohnt, originell, und aus diesem Grund ist es eine so erfüllende Lektüre.
MARIO WIESMANN: Im Glasberg von Nadja Küchenmeister
Mich hat schon immer die Vorstellung fasziniert, dass Literatur sagen kann, was wir anders nicht ausdrücken können. Das muss man natürlich nicht so sehen und dieses Jahr ist wieder eine Unzahl Bücher erschienen, die stattdessen gesagt haben, was schon allzu oft gesagt wurde. Zum Glück gab es aber auch viele interessante und ambitionierte Neuerscheinungen. Ein Buch, das für mich besonders herausgestochen hat, ist Nadja Küchenmeisters Gedichtband Im Glasberg. Und das nicht nur, weil sie meine Leseerwartungen erfüllt und noch übertroffen hat, sondern auch weil sie durch ihr Schreiben eindrucksvoll beweist, dass anspruchsvolle Literatur nicht unzugänglich sein muss.
Nadja Küchenmeisters Sprache ist schlicht, die Motive und Szenen in ihren Gedichten sind so alltäglich, dass man glauben könnte, man hätte es mit dem genauen Gegenteil klassischer Lyrik zu tun. Und doch berühren auch sie die großen Fragen der menschlichen Existenz. Das liegt natürlich an den Kontexten, in die Küchenmeister ihre Motive stellt. Sie halten symbolisch Erinnerungen und Gefühle fest, die sonst für uns dunkel oder überwältigend bleiben. Dass es Nadja Küchenmeister gelingt, das Unsagbare zu sagen, verdankt sich aber auch ihrem Umgang mit Sprache. Gezielt setzt sie rhetorische Figuren ein und macht sich die Regeln der gebundenen Rede zunutze, um Wörter besonders hervorzuheben oder in neue Beziehungen zueinander zu setzen – und nicht selten das Ausgedrückte selbst wieder in Zweifel zu ziehen. Denn Sinn ist Im Glasberg genauso flüchtig wie in unserer Erfahrung. Man muss ihm nachspüren, innehalten und empfänglich werden für das, was unter der Oberfläche des längst Bekannten aufblitzt. Was Nadja Küchenmeisters Gedichtband zu meinem Buch des Jahres 2020 macht, ist, dass es diese Mühe wert ist. Für die intensive Lektüre wird man an jeder Stelle belohnt.
|
||||||||||||||