Ein Sprung ins verminte Gelände

Marion E. Preuß ergründet „Urbane Utopien“ bei Ernst Jünger

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Romane, Essays und Tagebücher Ernst Jüngers (1895–1998) gehören zu den am meisten erforschten Werken des 20. Jahrhunderts. Dazu haben die Vermarktungsstrategien des Klett-Cotta Verlags nicht unerheblich beigetragen, denn die zunehmende Kenntnis von Umfang und Proportionen des Gesamtwerks stellte immer wieder neue Herausforderungen an Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler. Das kennzeichnet in etwa die Lage nach Erscheinen der Ausgabe letzter Hand (Stuttgart 1960–1965) bis zur Edition der Sämtlichen Werke in 18 Bänden mit vier Supplementbänden (ab 1978) bei Klett-Cotta.

Stand für die frühe Forschung noch der „Fall Jünger“ im Vordergrund des Interesses, also die Beschäftigung mit den politischen Verstrickungen der Person und der Autorschaft Jüngers – der sich selbst als „exemplarische Existenz“ verstand –, so hat man sich neuerdings der Beschäftigung mit seinem Frühwerk und zunehmend auch mit seinen nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Romanen zugewendet, und so ist auch eine wachsende Zahl an Dissertationen entstanden.

Seine beiden utopischen Romane Heliopolis (1949) und Eumeswil (1977) sind bereits in die literarische Entwicklung des 20. Jahrhunderts unter verschiedensten Aspekten eingeordnet worden (zu nennen sind hier vor allem Jürgen Kron: Seismographie der Moderne, Peter Lang 1998; Gabriela Ociepa: Nach dem Untergang. Narrative Stadtentwürfe, Neisse 2006 sowie Nils Lundberg: „Hier aber treten die Ordnungen hervor“. Gestaltästhetische Paradigmen in Ernst Jüngers Zukunftsromanen, Winter 2016). Ein neuer 2018 bei Aisthesis erschienener Band von Manfred Windfuhr: Zukunftsvisionen – keine Dissertation, vielmehr eine profunde Bilanz eines Literaturwissenschaftlers – ordnet Jüngers Werke den „grünen Utopien“ zu und unterstützt damit die neuerliche Vorstellung Jüngers als „ökologischem“ Autor (so in dem von Alexander Pschera herausgegeben aktuellen Sammelband aus dem Werk: Geheime Feste. Naturbetrachtungen, Klett-Cotta 2020).

Einer anderen Facette des Gesamtwerks, Jüngers „mythischer Produktionsästhetik“ und ihren „raumphänomenologischen Aspekten“, widmet sich eine neue Studie von Marion E. Preuß, die auf ihrer Dissertationsschrift von 2019 beruht und diese erweitert. Ihr Ausgangspunkt ist die anhaltende Jünger-Renaissance vor allem in politisch rechtsstehenden Kreisen, die das Werk epigonal zu ihren Zwecken ausschlachten und einer neuerlichen „konservativen Revolution“ zuordnen wollen, dabei aber den utopischen Gehalt meist ignorieren und bewusst verkennen. Dieser Veröffentlichungsimpetus ist natürlich allemal lobeswert, verliert aber etwas an Stoßkraft, wenn die Autorin selbst in diese Falle tappt und ausgerechnet einige Kronzeugen der aktuellen Jünger-Literatur als Forschungsquellen unkritisch heranzieht, ohne deren vornehmlich politisch-publizistische Absicht zumindest ansatzweise in Rechnung zu stellen.

Der Anspruch von Preuß, das Thema Stadt bei Jünger zu verorten, kann – so sei vorausgeschickt – auch inhaltlich nicht überzeugen. Je mehr man sich in den Text hineinliest, umso deutlicher wird, dass dies nicht der bestimmende Topos im Jüngerschen Werk ist. Zwar gibt es natürlich die Stadt als Schauplatz, schon gar im hierfür prominentesten Beispiel, dem utopischen Roman Heliopolis, aber dieser ist doch eher „Weltroman“ oder eine „Weltstaatsutopie“, wie es sehr überzeugend schon der Jünger-Biograph Helmuth Kiesel dargelegt hat. Das Postulat, am Beispiel dieses Romans den Werkzusammenhang durch eine urbane Kontextualisierung einlösen zu können, läuft ins Leere. Auch das Spätwerk Eumeswil schildert zwar vordergründig eine mediterrane Residenzstadt – verbunden mit der im Jüngerschen Werk immer wieder auftauchenden topographischen Kontrastierung von Stadt und Land –, aber Preuß verkennt, dass es Jünger nicht um eine Stadtlandschaft im Sinne einer „urbanen“ Utopie geht, sondern – will man der Jünger-Forschung folgen – um Modernekritik als Beschreibung des Endes der Geschichte überhaupt. Damit ist der Hauptmangel der Studie markiert. Hinzu kommt, dass beide Großromane vorher von anderen bereits in überzeugendere Kontexte gestellt und analysiert worden sind, und der Rezensent fragt sich, warum die Verfasserin viele umständliche Herleitungen anstellt, die dem Hauptanliegen, eine Analyse der urbanen Utopie bei Jünger liefern zu wollen, letztlich nicht gerecht werden können.

Und warum als abschließender Gegenstand der Untersuchung ausgerechnet auch noch Jüngers gattungsmäßig ohnehin schwer einzuordnender Text Aladins Problem (1983) gewählt worden ist, vermag nicht einzuleuchten, Gegenstand der Erzählung ist nicht eine Stadt, sondern deren Allegorie; das Jüngersche „Terrestra“-Projekt im Alterswerk ist eine modifizierte Wiederaufnahme seiner Werkstättenlandschaften des Arbeiter-Essaysaus dem Jahr 1932; eine „Stadtlandschaft“ also allenfalls nur mit mythischem Hintergrund, gesehen im magischen Auge Jüngers. Geht es hier doch um die besondere Form des Jüngerschen Totendienstes, aber nicht um den Topos Stadt.

Dieses trifft umso mehr auf den Erzähltext Auf den Marmorklippen von 1939 zu, den Preuß selbst als ein „Raummosaik“ wertet, in dem – folgt man ihrer eigenen umfänglichen Analyse – es gar nicht um eine Stadtlandschaft geht, und auch das Unterkapitel „Die Stadt an der Marina“ kann das Beabsichtigte nicht einlösen helfen.

Viele bereits vorliegende Studien zu diesem meistinterpretierten Text Jüngers (auf die sich Preuß natürlich ebenfalls bezieht) haben bereits erwiesen, dass sich ausgerechnet der Referenzrahmen dieses nicht unumstrittenen Werks ganz anders aufspannen lässt. Davon kann sich jeder Leser und jede Leserin anhand der schon erwähnten Biografie des profunden Jünger-Kenners Hellmuth Kiesel bereits informieren und wahrscheinlich hätte auch ein Blick in das schon 2014 erschienene Ernst Jünger Handbuch des J.B. Metzler-Verlages gereicht.

Auch die Hinführungen auf die eigentlichen Analysegegenstände (die vorgeblich einschlägigen Romane und Erzählungen Jüngers) sind wenig überzeugend. Zwar arbeitet Preuß den Forschungsstand und die vorliegende Sekundärliteratur gut und übersichtlich auf, deren Auswertung geschieht dann aber allzu kurzschlussartig auf den vermeintlichen Topos Stadt hin; oftmals stehen diese Sekundärbelege allein da, längere und vor allem neue Ergebnisse, die das Leseinteresse anfachen könnten, werden nicht vorgelegt. Die frühe Studie von Volker Katzmann zu Ernst Jüngers magischem Realismus (Olms 1975) ist nebenbei bemerkt auch zum „stereoskopischen Sehen“ Jüngers ergiebiger.  

Preuß’ längliche Exkurse zu Kant, Husserl und Bachelard und die vermuteten Gelenkstellen zu den Jünger-Bezügen sind für Leser, die sich nicht tiefer mit der philosophischen Disziplin der Phänomenologie beschäftigt haben (was Preuß aber vorauszusetzen scheint), nicht eben einsichtig, zwei Drittel Input, ein Drittel Output könnte man das etwas lax zusammenfassen.

Fazit: Preuß’ Begrifflichkeit vom „urbanen Grauen“ bzw. „poetologischem Grauen“ bei Jünger wäre durchaus geeignet, ein weitergehendes Leseinteresse zu wecken, leider bleibt die Studie gerade in diesem Punkt zu allgemein und ausgerechnet auf die behauptete „Urbanität“ Jüngers scheint sie schwerlich anwendbar zu sein; gleichwohl auf die Marmorklippen und einige der Capriccios des Abenteuerlichen Herzens, aber diese Erkenntnis ist ja nicht neu, und zum analytischen Sprung auf das Nachkriegswerk ist dieser Ansatz nicht geeignet.

Titelbild

Marion Preuss: Urbane Utopien. Eine raumphänomenologische Analyse des Stadtmythos bei Ernst Jünger.
Schwabe Verlag, Basel 2020.
392 Seiten, 66,00 EUR.
ISBN-13: 9783796542107

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch